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KAPITEL 1: EINE FANTASTISCHE CHANCE

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Die Welt ist ein komplexes System, das aus vielen anderen miteinander interagierenden komplexen Systemen besteht. Die Wissenschaft beginnt, das zu verstehen. Damit könnten wir die aktuellen großen Probleme aus eigener Kraft lösen. Wir müssen es nur wollen.

Wenn wir alles über jeden und jede wüssten, was wäre dann? Was könnten wir mit diesem Wissen anfangen?

Einen Eindruck von der Antwort auf diese Frage bekam ich vor einiger Zeit, als ein genialer Mathematik-Student mein Büro betrat. Er wollte eine Dissertation schreiben und ich fragte ihn, was ihn an der Mathematik oder der Physik fasziniere. Er meinte, dass er sein Diplom zwar in Mathematik gemacht habe, dass ihn aber weder Mathematik noch Physik besonders interessieren würden. Wofür er wirklich brennen würde, seien Computerspiele. Er erzählte mir, dass er mit einem Freund Online-Spiele spiele, wann immer sie Zeit hätten.

Ich beschloss, freundlich zu bleiben, ihm noch zwei Minuten zu geben und mich dann unter irgendeinem Vorwand zu verabschieden. Indessen berichtete er weiter. Die verfügbaren Massive Multiplayer-Online-Computerspiele seien meistens relativ schlecht. Deshalb hätten sein Freund und er ein eigenes erfunden, entwickelt und online gestellt: das Pardus-Spiel. Ich fragte ihn, wie viele Menschen das spielen würden. »Nicht ganz 500.000«, antwortete er.

»Wie viele?«, fragte ich.

»Fast eine halbe Million«, sagte er.

Das Pardus-Spiel, das die beiden entwickelt hatten, ist eine Art Science-Fiction-Version unserer Welt. Die Spieler und Spielerinnen leben als Avatare in ihren Raumschiffen und Satelliten in fernen Sonnensystemen. Wer in dieser Welt landet, stellt zuerst einmal fest, dass er oder sie kein Geld hat. Man muss also arbeiten, um vernünftig leben zu können, einen Job suchen oder sein eigenes Unternehmen gründen. Avatare arbeiten und produzieren dabei als Mitarbeiter oder Unternehmerinnen die verschiedensten Güter, andere vertreiben diese und handeln mit ihnen, wieder andere kaufen und konsumieren sie. Dabei geben sie ihr verdientes Geld wieder aus, etwa für Prestige-Objekte wie schöne neue Raumschiffe oder sie investieren in neue Fabriken.

Neben dem ökonomischen gibt es im Pardus-Universum auch ein reges soziales Leben. Spieler und Spielerinnen treffen einander und interagieren miteinander. Sie kommunizieren in Chats, Foren und über private Nachrichten. Sie bilden Gruppen, nicht nur in Form von Freundschaften oder Unternehmen, sondern auch in Form von politischen Parteien, Städten oder Staaten.

Es gibt kein eigentliches Ziel des Spiels. Jede Spielerin und jeder Spieler beziehungsweise jeder Avatar muss seinen Sinn darin selbst finden und sich seine Ziele selbst stecken. Unter den Avataren gibt es Reiche und Arme, Industrielle und VagabundInnen, UnternehmerInnen und Angestellte, PolitikerInnen und Kriminelle, FührerInnen und Geführte, PräsidentInnen und EinzelgängerInnen. Es gibt auch Spieler und Spielerinnen, die sich als Piraten organisieren, und welche, die sich als Reaktion darauf organisieren, um die Piraten zu bekämpfen und loszuwerden. Eine Polizei bildete sich, genauso wie ein Justizsystem.

Es gibt sogar Avatare, die als WissenschaftlerInnen verstehen wollen, wie das Spiel funktioniert, darunter BiologInnen und PhysikerInnen. Die virtuellen BiologInnen klassifizieren die Spacemonster, die PhysikerInnen sehen sich an, wie viel Energie ihr Raumschiff verbraucht, wenn sie damit an einem Planeten vorbeifliegen, und ziehen daraus Rückschlüsse auf die Struktur des virtuellen Universums.

Ich fragte den Studenten, ob er und sein Freund die Daten, die jeder Avatar hinterließ, mitschreiben würden. Er nickte. »Etwa ein halbes Terabyte pro Halbjahr fällt an«, sagte er. »Wir schreiben alles mit. Jede einzelne Aktion.«

Die Schöpfer des Pardus-Universums wussten, wer in welcher Sekunde wo war, wer sich wie verhielt, wer sich wie mit anderen verband, wer wie mit Geld umging, wer in welcher Situation wie reagierte, wer wem etwas schenkte und wer wem etwas stahl oder sonst etwas Böses tat. Sie wussten tatsächlich alles über jeden und jede. Mir dämmerte, dass damit wahrscheinlich zum ersten Mal in der Wissenschaftsgeschichte ein kompletter Datensatz über eine menschliche Gesellschaft vorlag, auch wenn diese virtuell war. Ein Datensatz, der sich wissenschaftlich analysieren ließ. »Ich glaube, wir haben hier ein Thema für eine Dissertation«, sagte ich zu dem Studenten. Wir begannen eine lange gemeinsame Reise der Erforschung der Pardus-Welt1. Heute ist der Student, Michael Szell, Professor an der IT-Universität in Kopenhagen.

Zunächst hatten wir eine entscheidende Frage zu klären. Ließ das Verhalten der Spieler im Pardus-Universum wirklich Rückschlüsse auf das Verhalten von Menschen in der echten Welt zu? Nur dann wäre die Arbeit mit den Daten, die diese Spieler hinterließen, auch wirklich relevant.

Das Ergebnis war eindeutig. Wir fanden heraus, dass sich die SpielerInnen in der virtuellen Welt in vielen Bereichen sehr ähnlich wie in der realen verhielten. Wir konnten zum Beispiel nachweisen, dass Freundschafts-, Kommunikations-, aber auch Handels- oder Feindschafts-Netzwerke sehr nahe an das herankamen, was man in der echten Welt beobachtet.

Wir begannen also, die Pardus-Daten systematisch auszuwerten. Eine unserer ersten Erkenntnisse war, dass Menschen gerne Beziehungsdreiecke schließen, genauso wie es Soziologen schon vor fast achtzig Jahren postuliert hatten2. Wenn ein Mensch A etwa auf einer Party seine Freunde B und C trifft und feststellt, dass diese sich nicht kennen, wird A normalerweise B und C einander vorstellen, und sich freuen, wenn sie sich kennenlernen und anfreunden. Wir Menschen scheinen darauf programmiert zu sein, auf diese Weise Dreiecke zu schließen.

Soziale Netzwerke, die aus vielen Dreiecken bestehen, sind besonders stabil. Wenn jemand in einem Netzwerk mit vielen geschlossenen Dreiecken ausfällt, passiert nicht viel, das Netzwerk verändert sich kaum, hält weiter zusammen und »funktioniert«. Der Homo Sapiens legt Wert auf stabile soziale Netzwerke3. Das wussten wir bereits, doch nun konnten wir es erstmals messbar machen und quantifizieren.

Bevor das Spiel im Pardus-Universum beginnt, muss jeder Spieler und jede Spielerin das Geschlecht des Avatars wählen, das sich im weiteren Verlauf nicht mehr ändern lässt. Also sahen wir uns als nächstes die Unterschiede an, wie Frauen und Männer ihre sozialen Netzwerke knüpfen. Einige Klischees bestätigten sich dabei, andere konnten wir widerlegen.

Zum Beispiel sahen wir, dass Frauen besser darin sind, Dreiecke zu schließen. Sie sind also besonders gute Netzwerkerinnen, wenn es darum geht, stabile Netzwerke zu bilden. Bei Männern sahen wir, dass sie sich besonders gerne mit Menschen vernetzen, die selbst gut vernetzt sind. In solchen Netzwerken lassen sich zwar Informationen schneller weitergeben, sie sind aber weitaus weniger stabil. Wenn in einem solchen Netzwerk ein einziger Knotenpunkt ausfällt, kann ein Teil des Netzwerks auseinanderbrechen.

Wir fanden und dokumentierten eine ganze Reihe weiterer Unterschiede zwischen virtuellen Männern und Frauen. So ist bei Frauen die sogenannte »Wechselseitigkeit« größer als bei Männern. Wenn ich einen Link oder eine Beziehung zu dir etabliere, etablierst du dann auch einen Link zu mir? Frauen tun das öfter als Männer.

Wenn eine Frau einer anderen Frau sagt, »du bist meine Freundin«, kommt die Antwort meist sehr schnell. »Ja, ich bin auch deine Freundin«, lautet sie fast immer. Wenn ein männlicher Avatar zu einem anderen männlichen sagt »du bist mein Freund«, braucht der andere viel länger für eine Antwort, oder er gibt gar keine. Männer haben mehr Feinde als Frauen. Pardus-Avatare, die von besonders vielen anderen Menschen gehasst werden, werden aber vorwiegend von Frauen gehasst.

Wenn eine Frau eine andere Frau als Feindin markiert, ignoriert die andere das meistens. Wenn hingegen ein Mann einen Mann als Feind markiert, reagiert der meist sehr schnell: »Ja, ich hasse dich auch«. Frauen ziehen eher positive Verhaltensweisen an als Männer. In Gruppen mit Frauen gibt es weniger Aggression. Und Frauen umgeben sich viel lieber mit anderen Frauen als Männer sich mit anderen Männern umgeben. Frauen kommunizieren insgesamt mehr als Männer. Andererseits sind die sogenannten Super-Kommunikatoren meist männlich. Das sind die Menschen beziehungsweise Pardus-Avatare, die mit extrem vielen anderen kommunizieren.

Das Pardus-Universum versetzte uns in die Lage, praktisch jede jemals aufgestellte sozialwissenschaftliche These mit Daten zu überprüfen, um so, mit naturwissenschaftlicher Präzision, Aussagen über Gesellschaften zu treffen. Darüber, wie der Homo Sapiens tickt, wie er sich organisiert und welche Formen des Zusammenlebens er typischerweise entwickelt.

So konnten wir anhand der Analyse von Feindschafts-Netzwerken besser verstehen, wie Bestrafung funktioniert. In einer Reihe von wissenschaftlichen Publikationen konnten wir außerdem der Frage nachgehen, wie sich der virtuelle Mensch in Hierarchien organisiert, woher die Armut kommt und ob der Mensch eher gut oder eher böse ist. Wir fanden heraus, wie der Homo Sapiens mit Aggression umgeht, und um wieviel er aggressiver wird, wenn er durch unfreundliche Aktionen seiner Mitspieler gereizt wird.

Die für mich verblüffendste Erkenntnis aus unseren Pardus-Analysen war, dass es relativ gut vorhersehbar ist, was Avatare als Nächstes tun. Wenn wir wussten, was ein Spieler bisher getan hatte und wie sich andere Spieler ihm gegenüber verhielten, und das wussten wir wie gesagt immer, konnten wir berechnen, was die nächste Aktion dieses Spielers sein würde. Mit einer Trefferquote von mehr als neunzig Prozent.

Das ist doch alles nur ein Spiel, könnten wir sagen, das ist nicht die echte Welt und nicht alles, was wir im Pardus-Universum beobachten und verstehen, gilt auch für das echte Leben. Doch wenn schon in einem Computerspiel Informationen enthalten sind, aus denen wir so viel über die Spezies Mensch und uns als Gesellschaft lernen können, was könnten wir dann erst aus den Informationen lernen, die in weitaus größerer Menge in der echten Welt anfallen?

Praktisch jeder Mensch hinterlässt durch permanente digitale Fingerabdrücke einen ungeheuren Strom von Daten, die mittlerweile unaufhaltsam aufgezeichnet werden. Telefongesellschaften und Google besitzen unsere Aufenthaltsorte zu jedem Zeitpunkt. Sie kennen die Gesprächspartner aller Handynutzer und manchmal sogar ihre Gesprächsinhalte. Google weiß, welche Fragen wen beschäftigen, Amazon weiß, wer was kauft, die Nachrichtenagenturen, Netz- und Social-Media-Anbieter wissen, was wen interessiert, was wer liest, wie sich Meinungen bilden, wie sich Menschen organisieren, wie sie sich unterhalten, wie sie wählen und so weiter.

Wir als Gesellschaft im digitalen Umbruch sammeln nicht nur Informationen über uns Menschen. Überall platzieren wir Sensoren, die Daten erheben und mitschreiben. Wir vermessen schon fast alles, was auf dem Planeten und in seiner Nachbarschaft vor sich geht. Wir erstellen dadurch eine digitale Kopie unseres Planeten, in der wir alles speichern, was geschieht. Das Wetter, den Verkehr, wer was wo anbaut, produziert und transportiert, Meeresströme, die Abholzung, die Klimaerwärmung, die Kontinentalverschiebung, Erdbeben, Gravitationswellen und sogar wie sich Berge heben und senken. Sind wir auf dem Weg zur Allwissenheit? Das vermutlich nicht, aber wir sind definitiv auf dem Weg zu vollständiger Information über mehr und mehr Systeme. Alles, was man über sie wissen kann, wird als Information gespeichert.

Information an sich ist noch nicht viel wert, egal wie viel davon vorhanden ist. Wir müssen sie erst »verstehen« und in nutzbares Wissen verwandeln, bevor sie wirksam wird.

Wir müssen Wissen erst aus Information destillieren. Das ist seit jeher die zentrale Rolle und Aufgabe der Wissenschaft, auf die ich noch detailliert zu sprechen kommen werde. Es lässt sich jedenfalls sagen, dass die früher oder später komplette Erfassung aller Vorgänge auf dieser Welt uns unfassbare Möglichkeiten eröffnet. Möglichkeiten, die wichtig werden könnten.

Aber warum erzähle ich das in einem Buch, das von der Zerbrechlichkeit der Welt handelt und davon, was uns bedroht und wo wir ansetzen können, um Katastrophen zu vermeiden? Ich erzähle es, weil ich möchte, dass Sie dieses Buch mit einer positiven Perspektive lesen, obwohl es eigentlich von dunklen Dingen handelt.

Die Zahl der derzeit auf diesem Planeten lebenden Menschen, knapp acht Milliarden, die Art und Weise, wie wir übereingekommen sind, uns zu organisieren, uns fortzubewegen, zu wohnen, uns zu ernähren oder uns zu unterhalten, führt zu einer Reihe von Problemen, die kritisch sind. Kritisch in dem Sinne, dass sie das Zeug dazu haben, unsere gegenwärtige Zivilisation zu einem relativ abrupten Ende zu bringen, zu einem unwiderruflichen und unumkehrbaren Kollaps.

Zu diesen kritischen Problemen gehört allen voran der Klimawandel. Die Erderwärmung, hervorgerufen durch unsere Lebensweise und die dazu notwendigen Dinge wie die Industrie, die Infrastruktur, der Verkehr und die Landwirtschaft werden zu massiven Veränderungen in Bezug auf die Bewohnbarkeit und die Möglichkeiten zur Bewirtschaftung des Planeten führen.

Die Gefahren sind bekannt. Ansteigende Meeresspiegel führen zu Bevölkerungswanderungen, Wetteränderungen führen zu Dürren und Verödung, Zerstörung von Ökosystemen führt zu mehr Treibhausgasen und so weiter. Die Gefahren wachsen auch deshalb, weil viele der ihnen zugrundeliegenden Prozesse selbstverstärkend sind. So etwa setzen Permafrostböden beim durch die Erderwärmung hervorgerufenen Auftauen riesige Mengen des Treibhausgases Methan frei. Zu diesen Gefahren gehörtl auch, dass der Golfstrom stoppen könnte und Europa nicht mehr mit seiner Wärmeenergie versorgt. Doch davon mehr in Kapitel fünf.

Der zweite große Problemkreis, der uns bedroht, ist die Zukunft der Zivilgesellschaft. Demokratie und ihre Institutionen sind nicht gottgegeben, sondern beruhen darauf, dass der Großteil der Menschen an sie glaubt. Doch es bestehen Anzeichen dafür, dass viele aufhören, an die Demokratie als funktionierendes Gesellschaftssystem zu glauben. Den Umstand, dass es nach wie vor Missstände wie Korruption, gesellschaftliche Unfairness oder eine sich immer schneller öffnende Schere zwischen Arm und Reich gibt, schieben die sogenannten National-Populisten in aller Welt der Unfähigkeit der Demokratie und ihren Institutionen in die Schuhe. Als Lösung propagieren sie die Zerschlagung der Demokratie, ohne eine Vision anzubieten, was nachher geschehen soll.4

Dass die Demokratie der einzige verlässliche Garant für Freiheit, Gleichheit, Fairness oder Solidarität ist, wird von immer weniger Menschen so gesehen. Dabei steht Demokratie für etwas, das wir im Westen mehr als 300 Jahre lang bitter erkämpft haben. Für die Befreiung von Adel und Kirche, von Dogmen, Ideologien und Führern. Im Zuge dieser Entwicklung hat die westliche Gesellschaft Erfolge erzielt, die ihresgleichen suchen. Meinungs- und Redefreiheit, Frauenrechte und allgemeines Mitspracherecht gehören dazu, ebenso wie die Abschaffung der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Glauben, Nationalität oder sexuellen Präferenzen und allmählich sogar das Zugeständnis von Rechten für andere lebende Geschöpfe. Wir haben es geschafft, Millionen von Menschen in mehr oder weniger prosperierenden Staaten zu verwalten, praktisch ohne Führer, oder mit solchen, die relativ machtlos sind. Das ist vielleicht die größte zivilisatorische Meisterleistung, die wir als Menschheit jemals erbracht haben.

Der mögliche Zerfall der gegenwärtigen westlichen Zivilgesellschaft würde nichts weniger bedeuten, als ein Zurück in Abhängigkeiten und den Verlust der Freiheiten, die uns erlauben, uns als Menschen voll zu entfalten. Er würde zur Wiederauferstehung von Führern führen, die Macht wieder offen einsetzen, sowie den uneingeschränkten Aufstieg von Datenmonopolisten und die totale digitale Manipulation bedingen. Für all diejenigen, die ihre Freiheit lieben, wäre das die ultimative Katastrophe.

Aber auch andere Entwicklungen gefährden die Zivilgesellschaft. Dazu gehören Veränderungen, die langsam vor sich gehen, aber deshalb nicht weniger Grund zur Sorge geben. Wie wirkt sich eine Überalterung der europäischen Gesellschaft aus? Wann kippt das Pensionssystem, wann das Gesundheitssystem, wann der Sozialstaat? Welche Rolle spielen dabei die Migration oder das Wiedererstarken des politischen Einflusses von Religion? Wie wird die Digitalisierung alles verändern? Wer verliert den Job? Wer verliert ohne Job den Sinn im Leben, selbst wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen gäbe?

Die Stabilität der Wirtschaft und des Finanzsystems sind ebenso wenig gottgegeben. Trotz massiver Effizienzsteigerungen sind dort die Risiken nicht verschwunden. Sie sind in den vergangenen Jahrzehnten sogar gestiegen. In den letzten zehn Jahren haben wir zwei massive Finanzkrisen durchlebt und die durch Corona ausgelöste Wirtschaftskrise hat, während ich das hier schreibe, gerade erst begonnen.

Die beiden »großen Probleme« Klimakrise und Gefährdung der Zivilgesellschaft sowie die damit zusammenhängenden Probleme, wie der Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts und die Instabilität des Wirtschafts- und Finanzsystems, das alles könnte zum Untergang unserer Zivilisation führen. Der Kollaps kann plötzlich und unvermutet kommen. Ohne spektakuläre Anzeichen, durch kleine, unscheinbare Auslöser. Die »großen Probleme« hängen miteinander zusammen. Der Klimakollaps kann den Kollaps der Zivilgesellschaft und ihrer Institutionen auslösen, und umgekehrt.

Dass Gesellschaften und Zivilisationen kollabieren, aussterben oder von anderen Kulturen absorbiert werden, ist an und für sich nichts Ungewöhnliches. Luke Kemp von der Universität Cambridge hat gezeigt, dass die durchschnittliche Lebensdauer von Antiken Kulturen etwas mehr als 300 Jahre betrug5. Wir können es uns schwer vorstellen, dass die Welt, so wie wir sie kennen, einfach verschwindet. Es gibt in der Geschichte einige Beispiele dafür, dass sich Menschen den Untergang der Welt, in der sie lebten, nicht vorstellen konnten.

Die Römer etwa hielten sich bis zum Schluss für unbesiegbar. Doch egal, ob innere politische Konflikte, religiöse und soziale Umbrüche, Seuchen und Klimaänderung, oder ob Bürgerkriege und Angriffe von außen durch Germanen, Hunnen oder Vandalen daran schuld waren, im Jahr 480 unserer Zeitrechnung hörte ihre Welt auf zu existieren. Durch Chaos, Gewalt, Zerstörung und einen multiplen sozio-ökonomischen Kollaps.

Auch die Rapa Nui auf den Osterinseln dürften den Untergang ihrer Welt nicht kommen gesehen haben6. Wahrscheinlich verursachten sie ihn selbst, indem sie für den Bau ihrer riesigen Steinfiguren ihre Wälder abholzten, bis die Insel, durch den permanent wehenden Wind, der Austrocknung und der Bodenerosion schutzlos ausgesetzt war. Die Auswirkungen, die das auf ihre Versorgung mit Nahrungsmitteln hatte, ließ die Bevölkerung rapide schrumpfen, bis nichts mehr von ihr übrig war, außer einer Insel mit der geringsten Artenvielfalt im Pazifik und stummen steinernen Zeugen ihres Untergangs. Hätten die Rapa Nui das kommen gesehen, hätten sie ihre Forstwirtschaft überdacht und aufgehört, Baumstämme als Rollen für den Transport von Steinen zu benützen?

Wie lange dachten die Mayas, dass ihre Welt ewig Bestand haben würde? Wie lange bevor der letzte Habsburger Kaiser Karl I. auf »jeden Anteil an den Staatsgeschäften« verzichtete, dachten die Österreicher, die Monarchie würde für immer weiterbestehen? Wie lange dachten die Deutschen, sie könnten den Zweiten Weltkrieg noch gewinnen? Bis wie lange vor dem Fall des Eisernen Vorhangs dachten die Russen, ihre Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken sei ein tragfähiges Konzept, das bis ans Ende der Zukunft reichen würde?

Gesellschaften kollabieren oft unmittelbar. Warum ist ein herannahender Kollaps so schwer zu sehen? Auch Finanzkrisen treten oft unmittelbar auf. So hatte praktisch kein Ökonom die Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 auf dem Radar. Warum erkennt niemand die Anzeichen, warum hört niemand die Warnglocken schrillen? Wieso gibt es im 21. Jahrhundert eigentlich keine Frühwarnsysteme für Kollaps?

Die Antwort hat etwas mit komplexen Systemen zu tun. Unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft, unser Gesundheitssystem genauso wie das Klima oder das Finanzsystem sind komplexe, dynamische Systeme. Auch wenn diese Systeme vollkommen unterschiedlich sind, haben sie eines gemeinsam: Sie kollabieren plötzlich. Über weite Strecken hinweg sind sie erstaunlich stabil, robust und anpassungsfähig, sie erlauben auch Fehler, aber wenn sie zu gewissen Punkten gelangen, dann kollabieren sie – unvermittelt. Diese Punkte sind die sogenannten Tipping Points. Ein Tipping Point oder ein Kipp-Punkt ist ein »Übergangs-Punkt«. Nachdem ein System so einen Punkt erreicht, ist nichts mehr so, wie es vorher war.

Tipping Points sind wie Klippen, die unter der Wasseroberfläche verborgen sind. Wenn man mit einem Schiff draufdonnert, sinkt man. Ein anderes Bild für einen Tipping Point ist eine Wanderung, die jemand in dichtem Nebel in einer Berglandschaft unternimmt, die von steilen Abhängen umgeben ist. Wenn der Wanderer an einen Abhang kommt, reicht ein falscher Schritt und er stürzt unvermittelt ab.

Bisher war es nur möglich, die Klippen, über die unsere Vorfahren gestürzt sind, im Nachhinein zu sehen – sobald sich der »Nebel« verzogen hatte. Erst die Geschichte konnte klären, wieso der Abgrund auf einmal da war, und oft nicht einmal sie, wie wir im Fall des römischen Reichs wissen.

Wenn antike Kulturen etwa 300 Jahre alt wurden, wie alt ist unsere? Wann unsere gegenwärtige Kultur genau ihren Anfang nahm, ist nicht leicht zu sagen und bleibt zu einem gewissen Grad willkürlich. Man könnte behaupten, sie begann mit den klassischen Griechen. Oder doch eher mit dem Beginn der modernen Gesellschaft, also mit der Renaissance, mit der Erfindung der modernen Wissenschaft, dem Humanismus, dem Buchdruck, der Reformation und der Entdeckung der Seewege nach Indien und Amerika? Wenn man letzteres wählt, ist unsere Welt, also die moderne Gesellschaft, rund 400 bis 500 Jahre alt. Ist sie damit bereits überfällig?

Eine ernstzunehmende Antwort auf die Frage, wann unsere Gesellschaft kollabieren wird, versuchte mein Kollege Peter Turchin von der Universität Connecticut und dem Complexity Science Hub Vienna vor zehn Jahren zu geben. Turchin hat sich auf die mathematische Modellierung historischer Gesellschaften und deren Kollaps spezialisiert. Seine Vorhersage ist schlicht und ergreifend: »2020«7.

Prophetische Aussagen dieser Art sind eher untypisch für die Wissenschaft. Hinter der Prognose steckt natürlich mehr. Peter Turchin hat ein mathematisches Konzept entwickelt, das es ihm erlaubt, das Zu- und Abnehmen von sozialen Spannungen und Unruhen über mehrere Jahre vorherzusagen. Durch eine Kombination von biologischen, sozialen und politischen Beobachtungsdaten kann er Kennzahlen berechnen, die ihm erlauben, das Auseinanderdriften großer Bevölkerungsschichten früher als andere zu erkennen8. Ob die Unruhen in den USA im Sommer 2020 bereits Anzeichen des von ihm angekündigten Kollaps sind, bleibt abzuwarten. Dass soziale Spannungen, politische Polarisierung und Versuche, die Zivilgesellschaft gezielt zu spalten, zwischen 2010 und 2020 drastisch zugenommen haben, daran besteht kein Zweifel.

Wenn unsere Gesellschaft tatsächlich untergehen sollte, wäre das nichts Neues. Hunderte Zivilisationen und Gesellschaften haben dasselbe Schicksal erlitten. Das einmalige an unserem Untergang wäre, dass wir dieses Mal das Zeug dazu gehabt hätten, die Klippen zu sehen, die uns zu Fall bringen.

Die Wissenschaft hat in Kombination mit der Möglichkeit, immer mehr Daten zu sammeln und im Prinzip alle Informationen auf dem Planeten abrufbereit zur Verfügung zu haben, erstmals die Voraussetzungen dafür, Tipping Points im Vorhinein zu sehen. Wir wissen inzwischen mit Sicherheit, dass sie tatsächlich existieren und dass es keinen Sinn macht, ihre Existenz zu verleugnen. Wir sehen das zum Beispiel eindrücklich im Zusammenhang mit der Klimaerwärmung. Das Zusammenspiel von Wissenschaft und globalem Datenmonitoring erlaubt uns erstmals zu sehen, worauf wir im Nebel zusteuern.

Die Vorstellung, dass wir mit Fortschritt, Wissenschaft, der positiven Nutzung von Daten und insbesondere mit der digitalen Kopie des Planeten die »großen Probleme« erkennen und lösen werden, ohne dass unsere Nachkommen dafür bitter bezahlen müssen, ist die positive Perspektive dieses Buches. Sie handelt von der realistischen Möglichkeit, uns als globale Gesellschaft auf eine Weise neu zu erfinden, sodass wir den Untergang vermeiden. Wir sind nach wie vor weit davon entfernt, die »großen Probleme« zu lösen, und es bleibt weiterhin ungewiss, ob wir es schaffen werden, bevor einige Systeme die Tipping Points erreichen. Aber wir können und sollen es versuchen, mutiger und bewusster als bisher. Denn es besteht eine echte Chance.

Dass sich zehntausende Wissenschaftler mit Ärzten, Entscheidungsträgern, Sozialarbeitern und Ökonomen organisieren und zusammenarbeiten können, um ein praktisches Problem zu lösen, haben wir in der Corona-Krise eindrucksvoll gesehen. Ohne den Beitrag der Wissenschaft und ihren Möglichkeiten, weltweit Daten zu sammeln, auszuwerten und in konkrete Handlungsanweisungen zu übersetzen, hätte das Virus vermutlich unsere Gesundheitssysteme grenzenlos überlastet und Millionen von Menschen das Leben gekostet. Die Botschaft ist klar: Um den durchaus möglichen Kollaps unserer Welt, ihre Verwandlung in etwas, das wir bestimmt nicht haben möchten, abzuwenden, sollten wir alles tun, um die Kipp-Punkte der entscheidenden Systeme besser identifizieren zu lernen. Das schaffen wir ausschließlich mit Wissenschaft und Forschung in Kombination mit Big Data. Egal was es kostet, der Kollaps ist teurer. Er ist unbezahlbar teuer.

Zum Aufbau. Ich werde zunächst in Kapitel zwei zeigen, was die Wissenschaft der komplexen Systeme kann. Sie ist eine relativ junge und eventuell die aktuellste aller Wissenschaften, die großteils am Santa Fe Institute in Neumexiko in den 1980er-Jahren entworfen wurde. In Kapitel drei geht es darum, was ein Kollaps überhaupt ist und wie man ihn wissenschaftlich beschreiben kann. Wir werden sehen, wie die Wissenschaft komplexer Systeme mit ihrer nüchternen, mathematisch-physikalischen Perspektive dazu beitragen kann, Kipp-Punkte zu identifizieren, um so die wahren Schwachstellen in den unterschiedlichen Systemen sichtbar zu machen.

In Kapitel vier stelle ich dar, wie zerbrechlich unser Finanzsystem ist, in Kapitel fünf, wie es um unser Klima und unsere Ökosysteme bestellt ist. In Kapitel sechs geht es schließlich um die Zerbrechlichkeit unserer Zivilgesellschaft.

Ich werde versuchen zu zeigen, dass die Antwort auf die Gefahren der Klimakrise nicht in einem Öko-Kommunismus oder einer Öko-Diktatur liegt, wie sie manche predigen. Sie besteht auch nicht in der Rückkehr in eine idealisierte romantisierte Welt von gestern. Ich werde vielmehr zeigen, dass die Antwort im technischen Fortschritt, in der Wissenschaft der komplexen Systeme, in Big Data und der Rechenleistung von Computern liegt. Es geht dabei um eine Kombination von technischen Neuerungen mit mentalen Veränderungen in sozio-ökonomischen Netzwerken. Dank dieses Fortschrittes haben wir gegenüber allen bisher untergegangenen Kulturen eben diesen einen entscheidenden Vorteil: Sie konnten die Klippen nicht sehen, über die sie gestürzt sind. Sie hatten keine Chance. Wir haben eine.

Wir sind auf dem Weg, diese Chance für uns nutzbar zu machen, bereits einige Schritte gegangen. Das Computerspiel Pardus war für uns ein erster Hinweis darauf, wie wissenschaftliche Modelle der Zukunft aussehen könnten. Eine kleine künstliche Welt im Computer mit sämtlicher und vollständiger Information darüber, was in ihr passiert und passiert ist. Während ich das schreibe, sind 16 Jahre vergangen, seit Michael Szell und sein Freund das Computerspiel online stellten und damit ein digitales Modell der Gesellschaft und eine Art Petrischale zur Erforschung unserer Spezies und unserer Kultur schufen. Inzwischen sind wir mit solchen Modellen sehr viel weiter. Wir können langsam damit beginnen, die echte Welt als 1:1-Modell mit vollständigen Datensätzen zu modellieren. Erst mit der Zusammenführung der Daten in einem Modell dieser Art macht die digitale Kopie des Planeten Sinn. Erst so können wir beginnen, diese Informationen in nachhaltiges und verwendbares Wissen zu verwandeln.

Sobald wir solche 1:1-Modelle der relevanten Systeme haben, werden wir das Thema Kollaps auf eine vollkommen neue Art verstehen lernen. Wir werden nicht nur die Tipping Points besser identifizieren und lokalisieren können, wir werden auch konkrete Lösungsvorschläge für aktuelle Probleme in virtuellen Modellen ausprobieren können, lange bevor wir sie in der echten Welt zum Einsatz bringen.

In diesem Buch werden wir einige Beispiele für Schritte in diese Richtung kennenlernen. Ich möchte das anhand eines Blicks hinter die Türen des Complexity Science Hub Vienna tun, einer jungen wissenschaftlichen Einrichtung, die mit dem Ziel entstand, die Erforschung komplexer Systeme voranzutreiben, um unmittelbaren Sinn und gesellschaftlichen Nutzen aus Daten zu gewinnen und um so einen Beitrag in Richtung eines digitalen Humanismus leisten zu können. Gegründet haben ihn im Jahr 2015 die Technische Universität Wien, die Technische Universität Graz, die Medizinische Universität Wien und das Austrian Institute of Technology.

Im Wiener Palais Strozzi, dem Sitz des Complexity Science Hub, arbeiten wir an einer Art Flugsimulator für die Welt, nur dass wir anstatt von Flugzeugen Finanzsysteme, Gesundheitssysteme und sogar ganze Volkswirtschaften simulieren. Wir arbeiten dort zum Beispiel an einem virtuellen Modell der Wirtschaft Österreichs. So wie Eisenbahn-Fans in ihren Kellern Modelleisenbahnen bauen, die immer realistischer werden, so bauen wir unsere digitale Modellrepublik, die ebenso zunehmend realistischer wird.

Wir bauen sie mit Daten, indem wir verschiedene, anonymisierte Datensätze zusammenführen. Mit Datensätzen aus der Verwaltung, der Finanz, der Wirtschaft und der Bevölkerung bilden wir in unserem Modell die Akteure sowie deren Interaktionen untereinander ab.

In diesem Modell steht alles mit allem über verschiedene Netzwerke miteinander in Beziehung. Ganz ähnlich wie im Pardus-Spiel. Firmen zahlen Gehälter, Haushalte deponieren Überschüsse auf der Bank. Firmen und Haushalte nehmen Kredite auf, Haushalte konsumieren Produkte der Firmen, Firmen liefern sich gegenseitig Waren und Banken verleihen Geld an andere Banken am Interbanken-Markt.

Menschen und Firmen stehen durch Kreditnetzwerke, Produktionsnetzwerke, Zuliefernetzwerke oder Arbeitgeber-Arbeitnehmernetzwerke in Beziehung. Netzwerke können oft aus Datenbanken rekonstruiert werden. Sie ändern sich von Tag zu Tag. Unser Ziel ist es, eine virtuelle Republik zu basteln, mit der wir spielen können, in die wir von außen eingreifen können, die wir virtuellen Schocks aussetzen können und wo wir Dinge ausprobieren können, wie es in der echten Welt nie und nimmer möglich wäre. Wissenschaft bekommt damit eine neue, fast spielerische Dimension, mit unmittelbarem Nutzen für die Gesellschaft und ihre Entscheidungsträger.

Mit solchen Modellen können wir in Zukunft versuchen, eine neue Dimension von Fragen zu beantworten, die sich bisher jeder Beantwortung entzogen haben. Unter anderem lässt sich dann berechnen, wie ein stabiles System aussehen muss, wodurch es instabil wird, und wie wir es bestmöglich schützen können. Wir können erstmals quantifizieren, was Stabilität wirklich ist, was Resilienz bedeutet, welche Schocks ein System aushält und welche zu groß sind. Wir lernen erstmals, wie Effizienz und Stabilität miteinander in Zusammenhang stehen.

Mit den Möglichkeiten, die die Wissenschaft komplexer Systeme in Kombination mit Data Science und Methoden der Künstlichen Intelligenz derzeit erschließen, eröffnen sich auch der Politik neue Dimensionen. Der gebräuchliche Fachausdruck dafür ist evidence-based governance, evidenzbasierte Politik. Derzeit werden Entscheidungen in der Politik oft subjektiv getroffen, und das aus gutem Grund: Einzelne Menschen, egal wie intelligent sie sind, können die Vielzahl von Zusammenhängen, die in komplexen Systemen und ihren Netzwerken typischerweise auftreten, nicht erfassen. Noch viel weniger können sie die Konsequenzen vorhersehen, die eintreten, wenn sie an solchen Systemen etwas verändern.

Entscheidungsträger haben dank ihrer Erfahrung oft ein gutes Gefühl dafür, was ihre Entscheidungen bewirken könnten. Sobald sie ihre Entscheidungen getroffen haben, können sie aber auch nur darauf hoffen, dass sie auch wie beabsichtigt funktionieren. Bis heute hatten wir praktisch keine Möglichkeit, das Funktionieren von Entscheidungen vorab zu testen oder die zu erwartenden, nicht beabsichtigten Nebenwirkungen systematisch im Voraus sichtbar zu machen.

Die Vision ist, dass in Zukunft Entscheidungsträger auf die digitale Kopie eines Landes als Werkzeug zurückgreifen können, um die Auswirkungen von Entscheidungen, Regulierungen oder Gesetzen virtuell durchzuspielen. Sie können ausprobieren, ob eine Entscheidung wirklich die geplanten Ziele erreichen würde, und ob sie zu unerwarteten Folgen führen würde, an die vorher niemand gedacht hatte.

Wir könnten anhand solcher, digitaler Modelle ein bisschen besser in die Zukunft blicken. Wir könnten besser abschätzen, was passieren könnte, wenn wir dieses tun, oder was passiert, wenn wir jenes tun. Nähern wir uns mit einer politischen Entscheidung oder einer gesellschaftlichen Verhaltensänderung den Klippen, und wenn ja, wie schnell? Oder gehen wir ihnen damit aus dem Weg?

In diesem Zusammenhang ergibt sich ein generelles Problem, dass man sich erst an Maschinen und Algorithmen gewöhnen muss, die Probleme lösen, die selbst Experten eventuell nicht mehr überblicken können. Hier tauchen neue Fragen auf: Sollen Maschinen die Kontrolle über die zentralen Lebensadern unserer Gesellschaft übernehmen? Es geht hier um das unbehagliche Gefühl, Kontrolle und Kompetenz an Algorithmen abzugeben.

Wie können wir sicherstellen, dass wir die Kontrolle über Algorithmen und Daten behalten, Transparenz schaffen und gleichzeitig massiven Missbrauch ausschließen? Grundsätzlich sollte wohl gelten: Was Maschinen besser können als Menschen, sollen auch Maschinen machen, ganz besonders dann, wenn es um so heikle Fragen wie die Sicherheit eines Finanzsystems, der Wirtschaft, der Umwelt oder die des Staates geht.

In der Medizin hat dieses Umdenken bereits eingesetzt. Wir haben uns in kurzer Zeit daran gewöhnt, dass künstliche Intelligenz Tumore besser erkennen kann als die besten Radiologen. Kaum jemand, außer vielleicht Radiologen, hat ein Problem damit. Das zeigt natürlich nicht notwendigerweise, wie gut Maschinen und Algorithmen bereits sind, sondern wie limitiert menschliche Entscheidungen oft sind, denen wir unser Wohlergehen und Leben anvertrauen.

Ein Wort zu Daten und Datenschutz. Im Zuge der Digitalisierung werden Daten heute in ungeheurem Ausmaß erhoben. Nichts deutet darauf hin, dass dieser Trend abnimmt. Es werden immer mehr. Ob wir es wollen oder nicht, wir müssen mit der Digitalisierung und Big Data leben. Ein riesiges Problem, das mit der Digitalisierung einhergeht, besteht darin, dass es sich bei Daten zum Teil um personenbezogene Daten handelt, die zum Schaden und Nachteil von Personen und Personengruppen verwendet werden können. Viele Unternehmen weltweit verwenden diese Daten, um mit ihnen Profite zu machen. Die entsprechenden Geschäftsmodelle sind zum Teil relativ harmlos, wie etwa Werbung, zum Teil aber unfassbar unethisch und kriminell und reichen von massivem Wahlbetrug bis zu Verhetzung und Erpressung. Der Skandal um Cambridge Analytica im Jahr 2018 hat eventuell nur die Spitze des Eisbergs gezeigt, was an Niederträchtigkeit möglich ist.

Doch Daten haben auch eine ungemein positive Seite. Sie geben uns die Möglichkeit, unsere Umwelt, Gesundheit und Gesellschaft nachhaltig und drastisch besser zu machen und damit unser Leben angenehmer. Und sie geben uns die einmalige Chance – und davon handelt das Buch – die beiden »großen Probleme« zu lösen. Solchen positiven Nutzen aus Big Data zu generieren, ist zuerst einmal eine Aufgabe der Wissenschaft. Das aus mehreren Gründen.

Die Wissenschaft kann mit Daten umgehen. Seitdem es sie gibt, braucht sie Daten. Ohne sie funktioniert sie nicht. Mit dem gegenwärtigen Datenvolumen kann man in den nächsten Jahren mit einer regelrechten Erkenntnisexplosion rechnen, vor allem in der Medizin, den Sozialwissenschaften und der Wirtschaftswissenschaft.

Die Wissenschaft verfolgt in der Regel keine unmittelbaren kommerziellen Interessen und verwendet Daten in einer Weise, die keine Persönlichkeitsrechte verletzt. Wissenschaft hält durch ihre ethischen Standards den Datenschutz und Normen ein. Arbeiten mit zweifelhaften Daten beziehungsweise Daten zweifelhafter Herkunft oder Verarbeitung werden in seriösen wissenschaftlichen Journalen nicht akzeptiert.

Die Wissenschaft ist mit an vorderster Front, um bessere Methoden für einen ethischen Umgang mit Daten zu entwickeln, die es erlauben, sie einerseits für den Fortschritt der Gesellschaft positiv nutzen zu können und andererseits den Missbrauch und die Verletzung von Persönlichkeitsrechten auszuschließen. Zum Beispiel durch die Entwicklung von Methoden und Algorithmen der Anonymisierung. Das sind natürlich auch die Ziele und die ethischen Prinzipien, die der Complexity Science Hub Vienna in seiner Arbeit verfolgt.

Die Zerbrechlichkeit der Welt

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