Читать книгу 75 B und Minze frisch - Stefan Voelker - Страница 5
Kapitel 3
ОглавлениеNicole und Marion saßen an einem Tisch nahe der Theke, zwischen ihnen eine angebrochene Flasche Rotwein, zwei halbvolle Gläser und ein Laptop. Es war zwei Uhr nachts und selbst Pablo - er hatte von all den Gästen am längsten durchgehalten – hatte sich schließlich mit einem extrabreiten Dauergrinsen verabschiedet. Er hatte sich im Laufe des Abends immer besser mit einer Flasche Jack Daniels arrangiert, wurde gegenüber Marion immer mutiger und lud sie am Ende ein, sich von ihm in seinem eigenen Restaurant in die Geheimnisse der spanischen Küche einweihen zu lassen. Ganz sanft und sehr einfühlsam, hatte er versprochen. Das war die Stelle, wo Marion die Notbremse gezogen hatte.
Nicole zeigte ihrer Freundin die neue Internet-Präsentation ihres neuen Cafés. Für die Zukunft hatte sie die Idee, hier auf ihrer Website kleinere Geschichten rund um Berlin oder auch über die Herkunftsländer von guten Kaffeesorten zu veröffentlichen.
Der Rotwein zeigte seine Wirkung und immer wieder gackerten sie wie 14-jährige Schulmädchen. Bald verloren sie das Interesse an der Website und fragten sich stattdessen, was Brad Pitt wohl gerade tat und mit wem er es tat und warum Bildschirme von Laptops nicht gleich als Touchscreen daherkamen. Das würde den Umweg über die Tastatur einsparen und alle wären glücklich. Oder nicht? Und ja: was würde good old Brad Pitt davon halten?
„Der Empfang war klasse!“ sagte Nicole. Marion hatte sie das letzte Mal bei der Feier zu ihrem dreißigsten Geburtstag so lallen hören. „Ich bin so happy, dass das alles geklappt hat. Das ist so geil! Und ungemein wichtig für den Start, verstehst du? Die Leute, die heute hier waren, sind wichtig. Multiplikatoren, verstehst du? Und dann unser nettes Personal ...“
„Nun hol‘ mal wieder Luft, meine Liebe“, sagte Marion und nahm einen Schluck Rotwein. „Das wird schon klappen hier mit deinem Café. Alles ist gut! Und die Nusstorte von deinem Konditor ... ein Traum.“
Beide waren sie beim dritten Glas. Das dritte, nachdem sich Pablo von ihnen verabschiedet hatte. Marion rieb sich die Schläfen. Morgen früh würde sie wieder dieses Pochen hinter den Augen haben.
„Gib doch mal den Namen von diesem Typen ein, den du vor Harald hattest“, sagte Nicole. Sie deutete auf die Tastatur des Laptops. „Wie hieß der doch gleich?“ Sie hatte das Glas Rotwein in der Hand, der Wein schwappte gefährlich umher. „Holla, ist auch egal ... Ich weiß nur noch, dass der auf den Fotos, die du mir mal von ihm gezeigt hast, so fürchterlich große Hände und Füße hatte und du mir nicht verraten wolltest, ob auch alles andere bei ihm so groß war.“
„Du meinst Simon?“, fragte Marion. Sie beobachtete das Glas in der Hand ihrer Freundin.
„Ja, Simon ... so hieß der. Und, wie war das nun mit dem? War wirklich alles groß und gewaltig an dem oder nicht?“
„Nicole, sag mal, was redest du da bloß für einen Schmarrn?“
„Hey, kein Schmarrn, meine kleine Bayern-Zenzi! Entspann dich doch mal ein bisschen ... Mann, bin ich voll ...“
„Vielleicht hättest du dich als Gastgeberin nicht wirklich so betrinken sollen. Und dann als Frau ... ich sag’s ja nur ...“
Nicole wiegte mit dem Kopf hin und her, wie ein Kreisel, der kurz vor dem Umfallen war. „Jawohl, Frau Oberlehrerin! Willst also nicht über Simon reden, okay. Willst dich auch nicht weiter mit mir zusammen betrinken, auch okay.“ Sie nahm einen Schluck Rotwein. „Aber warte: Gib doch mal den Namen von deinem Thorsten ein.“
Marions Augen wurden wässerig. Sie griff nach ihrem Rotweinglas.
Thorsten.
„Das ist nicht mein Thorsten“, sagte sie und blinzelte mehrmals.
„Schätzchen, ich weiß! Aber du musst der Realität ins Auge sehen. Thorsten und du und Joshua ... ihr seid auf ewig miteinander verbunden. Prost, meine Liebe!“
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Es war in der Schule, wo Marion und Thorsten sich das erste Mal begegneten. Thorsten war nach den Sommerferien als Neuzugang in Marions Klasse an das Werdenfels-Gymnasium in Garmisch-Partenkirchen versetzt worden. Beide waren sie vierzehn.
„Ich möchte euch Thorsten vorstellen“, sagte die Klassenlehrerin. Ihr Name war Frau Eichmann und noch nie hatte Thorsten eine Frau mit so wenig Oberweite gesehen. Frau Eichmann hatte praktisch gar nichts. Er stand neben ihr vorne neben dem hölzernen Pult und blickte in zweiunddreißig uninteressierte Gesichter.
Der Klassenraum roch stark nach frischer Farbe. Thorsten fühlte sich seit dem Augenblick, in dem er den Raum betreten hatte, übel. Vor Aufregung vor dem ersten Schultag hatte er nichts gefrühstückt gehabt und der Gestank der Farbe gab ihm den Rest.
„Thorsten kommt aus Hamburg und ist neu hier bei uns. Es wäre nett, wenn ihr ihn hier bei uns willkommen heißt.“
„Hamburg? Wo ist denn das?“ Es war ein Junge in der vorletzten Reihe. Lange Haare, kaugummi-kauend, offene Schnürsenkel.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Richard. Oder?“, sagte Frau Eichmann. „Und nimm das Kaugummi raus. Also gut ... ihr habt jetzt gleich Mathematik bei Herrn Obermeier. Ich bin nur kurz reingekommen, um euch Thorsten vorzustellen. Wir sehen uns dann in der Dritten für Deutsch.“
Bevor sie ging, grinste sie Thorsten an, zwinkerte zweimal mit dem rechten Auge. Noch vor der dritten Stunde erfuhr er von einem seiner neuen Mitschüler, dass Frau Eichmann den ganzen Tag über vor sich hin zwinkerte. Immer nur rechts.
Der Zufall wollte es, dass es an diesem Tag nur einen freien Platz im Klassenraum gab. Es war der Platz neben Marion. Thorsten setzte sich hin und schaute aus dem Fenster. Es war klares Wetter und er konnte von hier aus direkt auf die Zugspitze sehen. Ein gigantischer Berg, inmitten einer ganzen Reihe von felsigen und spitz-aufragenden Gipfeln im sogenannten Wettersteingebirge, das sich südlich von Garmisch erstreckte und die natürliche Grenze zum Nachbarland Österreich bildete.
Das flache Hamburger Umland und die ständig salzige Meeresbrise, die man erst dann wahrnahm, wenn sie plötzlich fehlte, war weit, weit entfernt. Thorsten hatte das Gefühl, er sei nicht nur in einem anderen Teil Deutschlands, sondern in einer ganz anderen Welt gelandet.
Herr Obermeier hatte alle siebten, achten und neunten Klassen in Mathematik. Ein Mit-Fünfziger, der noch nie ohne Anzug und Krawatte gesichtet worden war. Selbst wenn man ihm zufällig nachmittags beim Einkauf begegnete trug er nichts Anderes. Er hatte zügellose, naturgelockte Haare, schwarzbraun und immer fettig. Die Schüler nannten ihn ‚Waldi‘. Keiner wusste, warum. Aber der Name passte gut.
Waldi war so verliebt in Binomische Formeln, Satz des Pythagoras, Wurzelziehen und Quadratische Gleichungen, dass ihn alles andere, was während seiner Unterrichtsstunden um ihn herum passierte, wenig interessierte. Einige der Schüler lasen Zeitschriften, spielten Karten oder unterhielten sich über das Kinoprogramm. Herr Obermeier bekam von alledem nichts mit.
Marion blätterte zusammen mit ihrer Sitznachbarin in einer Modezeitschrift, während Waldi sich um die binomische Plusminusformel bemühte. Thorsten schaute gelangweilt zur Zugspitze und fragte sich, ob es in Hamburg wohl jetzt gerade regnete und ob dort ebenfalls heute die Schule wieder begonnen hatte. Seine Übelkeit war immer noch da.
Hamburg. Seine Heimat. Sie hatten dort in einer Straße mit roten Backsteinhäusern gewohnt. Die Dächer waren aus grünlich-schimmerndem Kupfer, typisch für die Häuser der ehemaligen Gilde, der Kaufleute und Seefahrer der Hansestadt. Schaute man zum nördlichen Ende der Straße heraus, konnte man die Kräne des Hamburger Hafens ausmachen.
Thorstens Mutter war in diesem Sommer im Alter von vierzig Jahren gestorben. Völlig unerwartet. Für Thorsten war eine Welt zusammengebrochen. Alles, was er hatte, war zusammengebrochen. Das Leben konnte so unfair sein.
Sein Vater war Hochseekapitän und so gut wie nie zu Hause. Nach dem Tod der Mutter musste jemand her, der sich um Thorsten kümmerte, während sein Vater die Weltmeere befuhr. Und würde der nächste für die Obhut von Thorsten in Frage kommende Verwandte, Onkel Hermann, nicht gerade in Garmisch-Partenkirchen, im südlichsten Zipfel von Bayern, zuhause sein, dann könnte Thorsten sich heute noch mit seinem Freund Michael zum Skateboard-Fahren am Elbufer treffen und darauf hoffen, dass die kleine Schwarzhaarige aus der 8b, deren Name er nun im Leben nicht mehr erfahren würde, wieder zuschaute, wenn er seinen 360-Grad-Überschlag mit dem Board hinlegte. Das war seine Spezialität, keiner konnte das so gut wie er.
Irgendwann einmal zwischen der Plusminusformel und ersten Lösungsansätzen von Herrn Obermeier alias Waldi bekam Thorsten von Marion einen Zettel über den Tisch zugeschoben. Der Zettel war in der Mitte gefaltet. Thorsten öffnete ihn und las:
FISCHKOPP
Alles in großen Buchstaben, mit Kugelschreiber geschrieben. Eher eine Jungens- als eine Mädchenschrift. Thorsten blickte hoch, die Reihen entlang und entdeckte an der Fensterseite zwei Jungs, die beide zu ihm hinüberblickten. Als sich ihre Blicke trafen, öffneten und schlossen sie ihre Münder und rissen dabei ihre Augen weit auf. Wie gestrandete Fische.
Thorsten schaute weg. Seine Übelkeit war plötzlich wie weggeblasen. Er nahm den Zettel zur Hand, holte einen Kugelschreiber hervor und schrieb auf die Rückseite:
‚Ein Bayer beim Arzt. Der Doktor schaut ihm ins Ohr und sagt: Könnten Sie sich bitte das andere Ohr abdecken, die Sonne blendet!‘
Er faltete den Zettel wieder zusammen und tippte Marion auf die Schulter. Sie schaute ihn an. Ihre in Falten gelegte Stirn konnte nicht verbergen, dass ihr Gesicht etwas Frisches und Unschuldiges ausstrahlte. Überrascht stellte Thorsten fest, dass manche Mädchen aus der Nähe betrachtet eine sofortige, elektrisierende Wirkung auf ihn haben konnten.
Er hielt ihr den Zettel hin. Sie griff danach und schob ihn weiter zu ihrer Klassenkameradin auf der anderen Seite. Diese zögerte, öffnete den Zettel und las den Text. Sie kicherte. Marion sah sie an, beugte sich näher zu ihr und las ebenfalls den Text. Nun kicherte auch sie, hielt sich dabei die Hand vor den Mund. Thorsten lächelte sie an.
Sie hatte blondes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. An dem Ringfinger der Hand, mit der sie ihren Mund abdeckte, trug sie drei feine Goldringe. Ihre Finger waren schlank und grazil.
„Hast du dir das gerade einfallen lassen?“, fragte sie, immer noch die Hand vor dem Mund.
„Ja und nein. Ehrlich gesagt ist der Witz aus Hamburg. Aber da geht der mit Ostfriesen. Habe ich auf die Bayern umgedichtet.“
„Über sowas können wir Bayern aber gar nicht lachen.“
„Ja, das sehe ich gerade.“
Marion hielt einen Moment inne, dann sagte sie: „Wie kommt es eigentlich, dass jemand aus Hamburg nach Garmisch umzieht?“
„Mein Onkel lebt hier. Bei dem wohne ich jetzt.“
„Ach so. Ja dann ist ja alles klar.“ Sie hatte ein schmales Gesicht und ihre Augen waren großartig. „Hast dir gedacht, da erzählst du mal eben deinen Eltern in Hamburg, dass du zu deinem Onkel nach Bayern ziehen willst und springst in den Zug und weg bist du.“
„Nein. So ist das nicht.“
„Ja, denkst du, wer blond ist, ist gleich blöd? Das glaubt dir doch keiner mit deinem Onkel und so. Was ist denn mit deinen Eltern? Sind die plötzlich tot oder was?“
Thorsten erwiderte nichts. Er konnte nicht, dachte an seine Mutter. Seitdem sie tot war, dachte er ununterbrochen an sie. Auch die gelegentliche Übelkeit, die ihn jetzt zu den unmöglichsten Zeiten ereilte, kannte er gar nicht von früher. Erst seitdem sie tot war.
Früher ... das war noch gar nicht so lange her. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, da lag sie im Krankenbett des Tropeninstituts in Hamburg. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie bereits, dass sie diese Nacht nicht überleben würde. Er hatte ihr versprechen müssen, dass, was auch immer käme, er vor allem anderen immer das Ehrliche und Gerechte in den Menschen suchen sollte. Dass er nie ungerecht und gemein gegenüber anderen sein dürfte, dass er die Schöpfung achten und sein Glück nicht in materiellen Dingen allein suchen sollte. Sie war sehr gläubig gewesen.
Er hatte nicht alles verstanden, was sie ihm mit auf den Weg gegeben hatte. Aber er wusste, dass er sie immer lieben würde. Seine Mutter war eine Frau mit Prinzipien gewesen. Ja, das war sie.
Sie starb an einem Dienstag. An Malaria.
Nach ihrem Tod musste Thorsten oft über das nachdenken, was sie gesagt hatte. Ehrlichkeit und Gerechtigkeit. Er fragte sich, was bitte schön gerecht daran war, wenn einem die Mutter wegstirbt, nur weil sie ihren Mann auf einer seiner Seereisen begleitet hatte und dabei unglücklicherweise irgendwo beim Landgang in Afrika von einer Malaria-Mücke gestochen wurde? Das war doch alles andere als gerecht, oder? Diese Ungerechtigkeit schrie doch nur so zum Himmel. Lauthals!
Und wenn es einen Gott gab, konnte der dafür sorgen, dass Thorstens Gefühle sich nicht gegen seinen Vater richteten, nachdem dieser ihn nach dem Verlust der Mutter auch noch aus seiner gewohnten Umgebung herausriss und ihn ans andere Ende von Deutschland verfrachtete? Nach Garmisch-Partenkirchen, zu seinem Onkel, den er kaum kannte. Am untersten Ende von Deutschland!
„Ich will dich nicht in ein Internat geben“, hatte sein Vater erklärt. „Du musst dich ohnehin mit neuen Freunden und einer neuen Umgebung arrangieren, und bei deinem Onkel Hermann kennst du wenigstens ein paar Gesichter. Es ist das Beste für dich.“
Kurz nach dem Tod seiner Mutter hatte Thorsten einmal zufällig den geöffneten Email-Eingangsordner seines Vaters auf dem Bildschirm gesehen. Er wollte ihn sofort schließen, weil er es für falsch hielt, Emails, die nicht für ihn bestimmt waren, zu lesen, konnte dann aber nicht widerstehen.
Und so erfuhr er, dass sein Vater sich seit dem Tod seiner Frau unzählige Male auf Stellenanzeigen beworben hatte. Alles Jobs jenseits der Seefahrt, alle an Land, wo er abends regelmäßig bei seinem Sohn zu Hause gewesen wäre. Wie bei einer fast vollständigen Familie.
Im Alter von zweiundvierzig Jahren und keinerlei Erfahrung in irgendeiner Karriere, die nichts mit der hohen See zu tun hatte, hatte sein Vater jedoch keine Chance. Er war ein Seebär, sein Leben lang hatte es ihn hinaus auf die See gezogen. Und so hagelte es ausschließlich Absagen. Wenn er überhaupt eine Antwort bekam.
„Was ist nun mit deinen Eltern?“, hörte Thorsten seine Sitznachbarin erneut fragen. Ihre Stimme schien im Gegensatz zu vorher ernsthaft besorgt. So als hätte sie eine Vorahnung.
Thorsten sah an ihr vorbei und konnte an der Fensterseite wieder die beiden Jungs ausmachen, die mittlerweile seine Antwort auf dem Zettel erhalten hatten. Sie erhoben geschlossen ihre Fäuste vor ihren Gesichtern. Keiner der beiden konnte über seinen auf den Zettel gekritzelten Witz lachen.
„Nichts ist mit meinen Eltern!“, sagte Thorsten. Er sagte es zu laut, jeder in der Klasse konnte es hören. Herr Obermeier hielt kurz mit der Kreide an der Tafel inne. Nach einem Augenblick sagte er: „Bisschen leiser bitte!“, und setzte seine Aufzeichnungen an der Tafel fort.
Thorsten hatte mit einem Mal nur noch das Gesicht seiner Mutter vor Augen. Sie war noch so jung gewesen, als sie starb. Und wie sehr er ihre Nähe geliebt hatte, insbesondere als er noch kleiner war. Beim Fernsehen saß sie oft neben ihm auf der Couch und spielte mit seinen Haaren. Sie hatte diese beruhigende Art gehabt. Wann immer sie bei ihm war gab es keine Sorgen und keinen Kummer, alles war in Ordnung und alles war gut. Sie hatte ihn manchmal ‚Knuddel‘ genannt. Aber immer nur, wenn sie alleine waren. Selbst sein Vater wusste nichts davon.
„Was ist denn los?“, sagte seine Sitznachbarin zu ihm. Ihre Stirn war in Falten gelegt. Sie und das Mädchen neben ihr blickten ihn fragend an.
Und plötzlich konnte er nicht anders, plötzlich liefen die Tränen seine Wangen herunter. Er weinte um seine Mutter, die tot war, die nicht mehr zu ihm zurückkam, die ihn nie mehr ‚Knuddel‘ nennen würde. Seine Mutter, die einfach so weggestorben war, viel zu früh, viel zu ungerecht. Oh ja, so ungerecht.
Er wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht, stieß seinen Stuhl zurück und rannte zur Klassentür. Die Übelkeit war wieder da. Die beiden Jungs, die ihn als ‚Fischkopp‘ bezeichnet hatten, klatschten sich mit einem High-Five ab. Herr Obermeier drehte sich zur Klasse um und sagte: „Bisschen leiser bitte!“
Thorsten verschwand in den Gang und zog die Klassentür mit einem Schwung hinter sich zu. Der Schlag hallte durch den Flur, ließ die Fenster auf der Außenseite vibrieren. Dann brach es aus ihm heraus, er heulte bitterlich, ließ die Tränen kommen und über seine Wangen fließen. Er rannte los. Egal wohin, Hauptsache weg.
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Nicole zog den Laptop zu sich heran. Sie bediente ein paar Tasten. „Nur mal eben gucken tut doch nicht weh“, sagte sie. „Sag‘ mal eben den Nachnamen von Thorsten.“
„Nicole ... nur zu deiner Information: Ich bin verheiratet. Da suche ich doch nicht nach anderen Männern im Internet!“
„Viele Frauen sind verheiratet und unterhalten sich trotzdem mit anderen Männern. Sogar im Internet.“
„Andere Frauen können meinetwegen machen, was sie wollen. Und den Ex-Freund anzuschreiben ist doch wohl was Anderes, oder?“
„Marion, er ist der Vater deines Sohnes! Er ist nicht irgendein Ex-Freund. Mein Gott, nun komm mir nicht so katholisch daher.“
Marion schaute sich im Café um. Sie waren alleine. Zwei besoffene Frauen, die davon träumten, einmal zusammen mit Brad Pitt zur selben Zeit im selben Raum zu sein. Oder noch mal siebzehn zu sein und ganz von vorne anfangen zu können. Oder – noch besser! – siebzehn zu sein und zusammen mit Brad Pitt noch einmal von vorne anzufangen.
Nicole war der einzige Mensch, dem sie je das Geheimnis um Joshuas leiblichen Vater anvertraut hatte. Ihr Mann Harald wusste nicht, dass sein Sohn nicht von ihm war, und Joshua, ihr Sohn, hatte keine Ahnung, dass er seinen wahren Vater noch nie gesehen hatte.
Sie leerte ihr Rotweinglas in einem Zug. „Er heißt Thorsten Mager.“
„Na also, Süße, war doch gar nicht so schwer.“ Nicole rülpste. Es roch säuerlich. „Sorry.“
Sie gab ‚Thorsten Mager‘ in die Suchleiste bei Facebook ein. Für Sekunden blickte sie auf den Bildschirm, runzelte schließlich die Stirn. „Also, da gibt es eine ganze Handvoll Typen mit diesem Namen.“
Marion zögerte, rutschte dann auf der Sitzbank näher an ihre Freundin heran. Dicht wie Ölsardinen in der Dose saßen sie nebeneinander und starrten auf den Bildschirm.
„Ich hole mal eben noch was zu trinken, und du bist ein gutes Mädchen und schaust dir artig die Fotos an und pickst den Richtigen raus“, sagte Nicole. Sie schnappte sich die beiden leeren Weingläser, stand vom Tisch auf und lehnte sich für einen Moment an die Tischkante. Als sie sich ausbalanciert hatte, ging sie los.
Marion atmete tief durch.
Warum nicht? Warum also nicht nach Thorsten gucken? Nicole hatte recht: was war schon dabei, nach alten Freunden im Internet zu suchen. Zu erfahren, was aus ihnen geworden war, was sie jetzt machten, ob sie verheiratet waren, Kinder hatten oder was das Leben sonst mit ihnen angestellt hatte? Alle machten das, nicht wahr? Im Internet nach Menschen suchen, die einem mal etwas bedeutet haben.
Sie sah sich die Fotos mit dem Namen ‚Thorsten Mager‘ an. Beim fünften Foto setzte ihr Herz für einen Schlag aus. Das war er, kein Zweifel. Sie hatten sich das letzte Mal vor acht Jahren gesehen, er hatte sich kaum verändert. Dieses Kinngrübchen, diese marineblauen Augen, Tom-Cruise-Augen. Sein schwarzes Haar immer noch voll und naturgelockt. Er war gut gebräunt, aber das war er damals schon immer. Nur die nunmehr deutlichen Falten um seine Augen herum und an den Mundwinkeln gaben ihr die Gewissheit, dass es sich bei dem Foto tatsächlich um ein aktuelles handeln musste. Er sah immer noch verdammt gut aus.
„Was soll’s“, sagte sie zu sich selbst. Sie loggte sich bei Facebook ein und – ohne ein zweites Mal darüber nachzudenken und damit Gefahr zu laufen, unterwegs den Mut zu verlieren - schickte eine Freundeanfrage zu Thorsten.
„Wie sieht’s aus?“, fragte Nicole. Sie kam mit zwei gut gefüllten Rotweingläsern in den Händen zurück und nahm neben ihrer Freundin Platz.
„Ich habe ihn gefunden. Was soll ich schreiben?“
„Zeig mal her ... wie sieht er jetzt aus?“ Nicole war Thorsten nie begegnet, kannte ihn nur von Fotos.
Marion schob ihr den PC hin. Nicole nickte. „Hat sich nicht schlecht gehalten, dein Thorsten. Wow, ein richtig Hübscher! Diese Augen, die erinnern mich irgendwie an ... an ... wer war das doch gleich?“
„Tom Cruise.“
„Ja genau! Top Gun und so. War damals schon nicht der Typ, den man so einfach von der Bettkante geschubst hätte. Also deinen Thorsten hier genauso wie Tom Cruise. Aber genau das hast du ja auch nicht getan, meine Liebe!“ Sie kicherte drauflos, stieß Marion mit dem Ellenbogen in die Seite und nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem Glas.
Marion schrieb: *Hi Thorsten, ich habe dich gerade hier gefunden. Wenn du Lust hast, melde dich doch mal.* Mit einem Klick schickte sie die Nachricht los.
Nicole starrte auf den Bildschirm und kniff die Augen zusammen. „Wow, das macht ihn sicher total an! Melde dich doch mal. Das hört sich an wie eine Vermisstenanzeige!“
„Ich will ihn auch nichtanmachen! Nicole, meinst du nicht, dass du mittlerweile genug getrunken hast?“
„astHlkömölk
Hast Recht, meine Liebe. Du solltest mittrinken, dann fällt es mir nicht so schwer.“ Sie schob ihrer Freundin das Weinglas unter die Nase. „Hatte ich schon erwähnt, dass die ganze Einrichtung hier für das Café richtig schweineteuer war? Ich meine die Stühle, die Tische und das ganze Zeugs ... SCHWEINETEUER, verstehst du?“
„Ja, das sagtest du bereits.“
„Und diesem Typen von der Bank - Rolf hieß der, zehn Jahre jünger als ich und unverheiratet – dem habe ich das alles erklären müssen mit meiner Geschäftsidee. Und mit dem Geld, was ich von ihm brauche, um das Café einzurichten. Ich habe ihm eines Tages diesen Katalog von dem Einrichtungshaus mitgebracht. Und dann haben wir uns gemeinsam die Bestuhlungen angesehen, im Katalog, meine ich. Verstehst du? Ich hatte an diesem Tag diese superenge, rosa Bluse mit dem tiefen Ausschnitt und den Applikationen an den Ärmeln an.“ Sie schaute Marion direkt in die Augen. „Du weißt, welche Bluse ich meine, oder?“
„Ist das die Bluse, die du immer anziehst, wenn die Männer dir ein bisschen länger tief in die Augen und auch woanders hinschauen sollen?“
„Genau die! Du bist ganz schön pfiffig, meine Süße. Hat dir das schon mal einer gesagt? Na egal jetzt ... Rolf jedenfalls hatte ...“
„Nicole, er hat geantwortet!“ Marion zuckte zusammen, starrte wie gebannt auf den Bildschirm.
„Wer? Ach so, Thorsten. Okay, cool. Was schreibt er?“
„Er schreibt: ‚Au weia, die Marion! Wie lange ist das jetzt her?‘“
Nicole rülpste. Marion drehte ihren Kopf zur Seite weg.
„Sorry“, sagte Nicole. „Ich weiß gar nicht ... na egal ... der hat jedenfalls Nerven! Da meldet sich jemand bei ihm nach einer halben Ewigkeit und das erstbeste, was ihm einfällt, ist: AU WEIA!“ Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Der Rand war mittlerweile rundherum mit Lippenstift beschmiert. „Frag‘ ihn mal, ob er getrunken hat. Und vor allen Dingen WAS.“
Marion schüttelte den Kopf, griff ebenfalls nach ihrem Rotweinglas und nahm einen Schluck. Und dann noch einen.
Sie rückte sich den Laptop zurecht. *Das dürfte mehr als acht Jahre her sein. Wo ist nur die Zeit geblieben? Lustig, ich habe erst letztens an dich gedacht und wo du wohl abgeblieben bist.*
Nicole las den Text und stupste unsanft mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm. „Na du gehst ja ran. Willst ihn nicht fragen, ob er was getrunken hat, erzählst ihm aber, dass du ständig an ihn denkst.“
„Ständig? Wo habe ich denn das geschrieben? Und was hat das alles damit zu tun, ob er etwas getrunken hat?“
Thorsten antwortete: +Na das ist mal was. Warum hast du denn an mich gedacht?+
*Ich bin letzte Woche mit der U9 nach Steglitz gefahren und an der Zimmermannstraße ausgestiegen. Du hast doch in der Zimmermannstraße gewohnt, zwar nicht in der hier in Berlin, aber doch in Garmisch.*
+Wohnst also immer noch in Berlin?+
*Ja, und du?*
+Hey ... wohl neu bei Facebook, oder? Sonst würdest du wissen, wie man das herausfindet.+
Marion blickte auf. Tatsächlich war sie zwar schon seit einigen Monaten bei Facebook, nutzte die Plattform aber so gut wie nie und hatte keines der Zusatzfunktionen je ausprobiert.
*Ja Moment, ich schaue mal nach.* Ihr Puls war so hoch wie Nicoles Alkoholpegel. *Ich bin nicht so schnell.*
+Das war ja schon immer so ...+
„Ganz schön frech, dein Thorsten“, warf Nicole ein. „Oh, Entschuldigung! Ist ja nicht DEIN Thorsten.“
Marion schrieb: *Wie jetzt? War schon immer so? Ganz schön frech, der Herr Mager. Zu so später Stunde! Aber auch das war ja schon immer so.*
+Hier ist es erst halb Sechs. Da darf Mann noch frech sein.+
Die Frauen schauten sich fragend an. Nicole zog den Laptop zu sich heran, bewegte den Mauszeiger über den Bildschirm, klickte ein paar Mal, lehnte sich vor, so als könne sie nicht glauben, was sie da las, fuhr sich anschließend mit der Hand durch die langen, schwarzen Haare und sagte: „Wow ... Oh ... Wow. Der wohnt jetzt in Kanada!“
Marion blickte auf den Bildschirm und griff nach ihrem Glas, ihre Lippen aufeinandergepresst. Mit den Fingern spielte sie an ihrem Ohrläppchen.
+Noch jemand da am anderen Ende?+
*Ja, ich bin noch hier. Das ist ja der Hammer! Kanada! Seit wann bist du denn da?*
+Ich habe Ende 2003 meine Klamotten gepackt und bin nach Ucluelet gegangen, das liegt auf Vancouver Island an der Westküste Kanadas. Bin jetzt Insulaner.+
Unglaublich! Marion zog immer wieder ihr Ohrläppchen nach unten.
+Was macht eigentlich Herr Lenk? Trägt der noch zwei verschiedene Schuhgrößen?+
Marion nahm einen großen Schluck Rotwein, weich und vollmundig.
*Ich habe ihn geheiratet.*
Die beiden Frauen starrten auf den Bildschirm. Diesmal kam keine prompte Antwort zurück. Auf der Straße begann eine der Straßenlaternen zu flackern und erlosch Sekunden später vollends.
+Und?+, kam es irgendwann von Thorsten.
*Wie ... und?*
+Na, wie lange schon verheiratet? Wie viele Kinder? Hast du ihn vielleicht wegen seiner unterschiedlich großen Füße geheiratet? Bist du glücklich, vielleicht schon wieder von ihm geschieden und damit glücklicher als vorher? +
*Na du willst es ja genau wissen. Also die Füße waren es bestimmt nicht. Und ja: ich habe einen Sohn, Joshua, sieben Jahre alt. Und nein: ich bin nicht wieder geschieden. Und wenn wir schon dabei sind: wie sieht das denn bei dir aus?*
+Meinst du jetzt mit meinen Füßen? Danke der Nachfrage, damit ist alles in Ordnung.+
*Haha, schon immer zu Späßen aufgelegt gewesen, unser Herr Mager. Sehr lustig.*
+Na gut, wenn du es wirklich wissen willst: ich bin verheiratet, keine Kinder. Aber, sage mal, mir fällt da gerade was auf: wenn ich richtig rechne, dann ist es bei dir jetzt halb Drei in der Nacht. Kannst du nicht schlafen? Schnarcht vielleicht dein Ehemann zu laut?+
*Wenn du es genau wissen willst: wir sind bei der zweiten Flasche Rotwein! Oder ist es die dritte?*
+Wer ist WIR?+
*Nicole und ich.*
+Deine Freundin in Berlin, stimmt’s?+
*Richtig, ihr habt euch nie kennengelernt. Sie kennt dich nur von Fotos. Derzeit ist sie aber viel zu angeschickert, um sich mit dir ernsthaft zu unterhalten.*
+Verstehe. Wobei ... ernsthaft wäre ja auch viel zu langweilig ... Aber sag‘ mal, Marion: bist du glücklich verheiratet?+
Marion blinzelte. *Wie kommst du denn darauf, mich jetzt das zu fragen?*
+Du hast mir vorhin keine Antwort auf diese Frage gegeben. Deswegen.+
Nicole sagte mit gedämpfter Stimme: „Der will’s aber genau wissen. Sehr gefährlicher Mann da in Kanada, sehr gefährlich!“
„Du brauchst nicht zu flüstern, Nicole. Er kann dich nicht hören.“
Marion blickte nach draußen. Im Licht der Laternen wehten ein paar Blätter über die Straße. Der Wind hatte aufgefrischt, ungewöhnlich für diese späte Stunde.
Thorsten. Ihre erste große Liebe, ihr erster Mann überhaupt. Vor acht Jahren hatte sie ihn auf dem Klassentreffen in Garmisch-Partenkirchen das letzte Mal gesehen. Wenn sie daran dachte, lief ihr ein Schauer über den Rücken und ihre Hände wurden feucht. Sowie jetzt.
Sie tippte: *Wie war dein Spruch damals immer? Das Leben ist kein Ponyhof.* Dann klappte sie den Laptop zu und sagte: „Ich bin jetzt müde. Zeit fürs Bett.“