Читать книгу 75 B und Minze frisch - Stefan Voelker - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеNach ihrer Rückkehr von Nicole schaute Marion kurz in Joshuas Kinderzimmer rein. Sie strich ihm sanft mit der Hand übers Haar. Wie friedlich er wirkte, wenn er schlief. Sie wünschte, er würde immer ein Kind bleiben und sie könnte ihn für den Rest ihres Lebens bei sich behalten und zärtlich über sein Haar streichen, wenn er schlief. Sie liebte ihn über alles.
Harald lag reglos auf seiner Seite des Doppelbettes. Wie so oft hatte er die Duvet-Bettdecke für sich beansprucht. Als sie sich neben ihm hinlegte, zog Marion sie ein gutes Stück zu sich hinüber. Harald gab etwas von sich, was sich wie der Grunzlaut eines Star-Wars-Aliens anhörte und drehte seinen Kopf von der einen auf die andere Seite.
Am Morgen war das Bett neben ihr leer. Womöglich saß Harald bereits unten in der Küche und frühstückte. Sie stand auf, streifte ihren Morgenmantel über, nahm im Bad gleich zwei Aspirin –der Rotwein vom Abend zuvor! - und blickte in den Spiegel über dem Waschtisch.
„Na prima, du siehst genauso aus wie du dich fühlst.“
Sie ging die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Die Septembersonne strahlte in die Küche hinein und Marion musste ein paar Sekunden blinzeln, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Sie blickte auf die Uhr: bereits kurz nach Zehn. Harald war nicht in der Küche und auch nirgends sonst. Sie rief nach ihm und bekam keine Antwort.
Ungewöhnlich von ihm, einfach so zu gehen und ihr keine Nachricht zu hinterlassen.
Wobei: war er nicht in den vergangenen zwei Tagen seit seiner Rückkehr aus Afghanistan sowieso so unberechenbar mit allem, was er tat? War es bisher nicht ein einziges Hoffen auf Normalität gewesen? Er hatte bisher null Interesse an ihr oder an Joshua gezeigt. Und dann sein sexuelles Desinteresse! Welcher Mann ist monatelang von zu Hause weg und schläft nach seiner Rückkehr nicht einmal mit seiner Frau?
Vielleicht lag es an ihr, vielleicht stimmte irgendetwas mit ihrem Aussehen nicht. Oder wie sie sich anzog oder wie sie versucht hatte, ihn anzuturnen. Vielleicht mochte er das nicht mehr. Oder schlimmer: hatte er sich vielleicht in eine andere Frau verguckt? In Kundus oder sonst wo da unten. Die Bundeswehr setzte auch Frauen im Einsatzgebiet ein. Oder konnte es gar sein, dass er sich in eine einheimische Frau, in eine Afghanin, verliebt hatte? Der Gedanke war ganz neu für sie und er machte ihr Angst.
Andererseits, in diesem Land war Krieg! Da hatte man doch nun wirklich keine Zeit, sich zu verlieben. Oder etwa doch? Oder gerade deshalb? Oder es war doch irgendetwas anderes, etwas, was mit ihm nicht stimmte.
Manchmal, wenn er da unten war und die Situation gerade passte, hatten sie sich am Telefon gegenseitig heiß gemacht. Marion hatte irgendwann begriffen, was die Leute mit ‚Telefonsex‘ eigentlich meinten und warum das anregend sein sollte. Bisher hatte sie sich das nicht wirklich als Alternative zum wahrhaft körperlichen Miteinander vorstellen können. Aber irgendwie bekamen sie und Harald nach und nach einen Dreh in die Sache, und wenn Joshua nicht gerade mithören konnte, dann ließen sie es zwischen Kundus und Berlin ordentlich in der Leitung knistern. Das war toll, es hatte ihr Spaß gemacht. Und ihm auch, das wusste sie.
Als sie Harald vor acht Jahren heiratete, war sie im fünften Monat mit Joshua schwanger. Dass das Klassentreffen in Garmisch-Partenkirchen zu diesem Zeitpunkt ebenfalls fünf Monate zurücklag, war Harald nicht wirklich bewusst gewesen. Es war das einzige Klassentreffen, an dem sie jemals teilgenommen hatte und tatsächlich war sie nur deswegen hingefahren, weil sie zu dieser Zeit mal Abstand von Harald brauchte.
Sie hatten sich gestritten gehabt. Über ihre Garderobe. Kaum zu glauben, aber wahr. Harald konnte es noch nie ausstehen, wenn andere Männer Marion ansprechend fanden. Bei ihrem letzten, gemeinsamen Einkaufsbummel durch die Schlossstraße in Berlin-Steglitz hatte er sich einzig und allein darauf konzentriert, die Blicke anderer Männer daraufhin zu überprüfen, ob sie zu lange am Po seiner Freundin haften blieben.
Viel eher als geplant waren sie von dem Einkaufsbummel wieder zu Hause. Kaum dass die Wohnungstür ins Schloss gefallen war, stellte er sie zur Rede und warf ihr vor, die Blicke dieser ‚Notgeilen‘ mit Absicht auf sich zu ziehen. Die super-enge Jeans, die High Heels und dann ihr ‚Laufsteg-Schritt‘ ... kein Wunder!
Sie wollte sich das nicht länger anhören. Am nächsten Tag kaufte sie sich ein Bahnticket nach Garmisch-Partenkirchen und hatte auf der Fahrt dahin ausreichend Gelegenheit, über ihre Gefühle für Harald nachzudenken.
Sie wusste, dass sie bei dem Klassentreffen ihren Exfreund Thorsten, ihre erste große Liebe, wiedertreffen würde. Mit vierzehn waren sie zusammengekommen, verliebten sich Hals über Kopf ineinander. Als sie zusammen schliefen, war es für beide das erste Mal. Sie konnten vier volle Jahre lang nicht mehr voneinander loslassen.
Dann war es aus, von einem Tag auf den anderen. Marion heulte sich wochenlang in den Schlaf, nahm acht Kilo ab und versagte vollends in der Schule. Sie stand kurz vor dem Abitur, schaffte dieses nur mit Ach und Krach. Es kamen andere Jungs, und davon nicht zu wenig. Thorsten aber war der Erste gewesen. Mit keinem, der danach kam, war es so einmalig gewesen wie mit ihm. Im Alter von siebenundzwanzig Jahren lernte sie schließlich Harald kennen und zog mit ihm kurze Zeit später nach Berlin.
Das Klassentreffen war anlässlich des zwölfjährigen Abitur-Jubiläums. Keiner wusste so genau, warum man sich nach zwölf anstatt nach zehn oder vielleicht fünfzehn Jahren traf. Aber Feste sollte man feiern wie sie fallen, oder etwa nicht? Und dass sie noch am Abend des Klassentreffens zusammen mit Thorsten in seinem grünen Volvo enden würde, konnte keiner ahnen.
Der Wagen hatte schwarze, edle Carlex-Ledersitze, hatte noch diesen typischen, neuen Geruch in sich. Beide waren sie betrunken, und plötzlich fühlten sich beide wieder jung – so richtig jung. Und alles, was seit dem Tag ihrer Trennung passiert war, schien wie ausgelöscht. Wie vergessen, als ob es in einem anderen Leben gelebt worden wäre, als ob es nicht wirklich sie beide gewesen wären, die sich vor dreizehn Jahren getrennt hatten.
Nach kurzer Zeit wechselten sie auf die Rücksitzbank. So wie damals, als Thorsten sein erstes Auto hatte, einen zwanzig Jahre alten, gelben VW Käfer. Nur damals gab es keine Carlex-Ledersitze, dafür aber diese Handschlaufen an der B-Säule, die eigentlich Fußschlaufen waren. Damals allerdings waren sie gescheit genug, an die Gummis zu denken.
Der Streit mit Harald zwei Tage zuvor steckte Marion noch in den Knochen, als sie zusammen mit Thorsten in den Volvo einstieg. Der Tequila - sie wusste nicht mehr, wie viele es waren - hatte Harald für den Rest des Abends komplett aus ihrem System verbannt.
Und dann war da noch etwas Anderes.
Vor ein paar Jahren wurde sie nach einer eher harmlosen Operation mit der Information aus dem Krankenhaus entlassen, nunmehr unfruchtbar zu sein. Auf immer, unwiederbringlich. In ihrem Leben sollte es damit keine eigenen Kinder geben können.
Sie konnte sich noch genau an den jungen Arzt erinnern, der ihr das sagte. Und auch an seinen üblen, unübertrefflichen Mundgeruch. Dieser Arzt eröffnete ihr diese Neuigkeit mit der Abgebrühtheit eines unterbezahlten Bahnhofsvorstehers, der über die Lautsprecheranlage ankündigt, dass der Intercity aus München mit sieben Minuten Verspätung einfährt. Manchmal gibt es Situationen im Leben, die vergisst man nie.
Um ihre Unfruchtbarkeit hatte sie in ihrer Beziehung zu Harald von Anfang an keinen Hehl gemacht. Harald schien das nicht weiter zu interessieren. Keine Kinder zu haben war kein Thema für ihn. Und ja, die Sache hatte auch etwas Positives: das leidige Thema Verhütung war endgültig erledigt. Keine Pille, keine Gummis, kein gar nichts.
Komisch war nur, dass nach dem Klassentreffen in Garmisch Marions Regel ausblieb.
Zu diesem Zeitpunkt waren sie und Harald fast vier Jahre zusammen. Über das Heiraten hatten sie all die Jahre nie gesprochen. Als sie zusammenkamen, hatten sie nach vier Monaten eine gemeinsame Wohnung in Garmisch-Partenkirchen und waren vier Jahre später nach Berlin gezogen. Die Bundeswehr hatte dort für Harald eine laufbahnfördernde Verwendung in Aussicht gestellt und Marion konnte sich das Leben an der Seite eines Soldaten durchaus vorstellen.
„Harald, wir sind schwanger“, sagte sie eines Sonntagmorgens, etwa zwei Wochen nach dem Klassentreffen, zu ihm. Sie kam aus dem Badezimmer und hielt den Teststreifen des FemTest in der Hand.
„Kann doch gar nicht sein“, sagte Harald. Er stellte seine Kaffeetasse auf den frisch gedeckten Frühstückstisch ab. „Du bist doch unfruchtbar. Wir schlafen seit Jahren zusammen und nie ist was passiert. Du hast das Testding sicher falsch angewendet.“
„Da kann man nichts falsch anwenden. Man pinkelt drauf, wartet einen Augenblick und guckt sich an, ob sich das Ding verfärbt hat.“
„Dann stimmt was mit deinem Pipi nicht.“
„Hallo! Was soll denn bitte schön mit meinem Pipi nicht stimmen?“
„Vielleicht hast du gestern Spargel gegessen. Oder deine Nieren laufen nicht ganz rund. Das verfälscht so einen Test schon mal.“
Marion blickte ihn für einen Augenblick ungläubig an, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann drehte sie sich um, sagte: „Männer!“ und verschwand wieder im Badezimmer. Harald schaute ihr hinterher, sein Blick auf ihre schwingenden Hüften und ihren pinkfarbenen Slip fixiert.
Drei Tage und einige Schwangerschafts-Teststreifen später hatten sie Gewissheit. Sie ließen sich von zwei verschiedenen Ärzten erklären, dass Frauen, denen man vor Jahren einmal die Kinderlosigkeit diagnostiziert hatte, durchaus noch die biologischen Voraussetzungen zur Fruchtbarkeit hatten. Für Harald klang das so, als ob der Witwe eines verunglückten Fallschirmspringers erklärt wurde, dass Fallschirme durchaus die technischen Voraussetzungen für ein Totalversagen beim Betätigen der Reißleine haben können. Was, wie er als Soldat wusste, durchaus richtig war.
Als der anfängliche Schock über das freudige Ereignis sich gelegt hatte, fand Harald zur alten Form zurück. Dann eben schwanger, es gab Schlimmeres. Er entwickelte eine Fürsorglichkeit Marion gegenüber, die sie als auch ihn selbst überraschte. Er kaufte Blumen, machte morgens die Betten, saugte Staub, versuchte sich im Kochen, sagte Sachen wie: ‚Schatz, lass mal, nicht in deinem Zustand!‘ und tat alles, um ihr das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Er ging in die Bücherei und besorgte alles, was sich mit der Zeit vor, während und nach der Geburt eines Kindes beschäftigte. Schöne neue Welt!
Im dritten Monat ging es los mit Dr. Oetker Vanille-Pudding. Oben drauf Pfirsiche aus der Dose. Das Ganze direkt nach dem Aufstehen und dazu entkoffeinierter Kaffee mit fünf Löffeln Zucker. Der Pudding musste beim Servieren auf dem tiefen Teller noch schön warm sein. Den Zuckersaft von den Pfirsichen verrührte Marion mit viel Genuss und Hingabe aufs Bestmögliche mit dem Pudding. Und auch zum Nachtisch – mittags oder abends - gab es für Marion nur noch eins: Vanille-Pudding mit Pfirsichen.
Nach ein paar Tagen hatte sie für die Zubereitung den richtigen Dreh raus, um die Konsistenz, die Temperatur und das gekonnte Abschmecken mit einer zusätzlichen Prise Zucker herzustellen. Ihre Kollegen bei der Berliner Stadtreinigung waren freundlich genug, ihr einen zusätzlichen Bereich des Gemeinschaftskühlschranks in der Teeküche zur Verfügung zu stellen und die Rationen an Pfirsichen aus der Dose auf einem sonst für Druckerpapier vorgesehenen Regal zu tolerieren.
Sie kostete ihre Lust am Pudding aus und freute sich auf die regelmäßigen Fernsehabende, ob nun alleine oder mit Harald zusammen. Sie benötigte genau einen Werbeblock auf den Privaten, um die Dose mit den Pfirsichen zu öffnen, den Pudding mit der Milch zu verrühren, alles zu erhitzen, mit der Zusatzration Zucker abzuschmecken, auf die Idealtemperatur runterkühlen zu lassen und zu verrühren.
Harald verwöhnte sie mit Kopf- und Fußmassagen, wann immer sie wollte. Er war ein Vorzeige-Hochleistungs-Ehemann auf der ganzen Linie. Sie bekam die Fernbedienung zusammen mit ihrem Pudding, legte die Füße hoch auf die Couch und träumte von einer Welt, in der man ewig schwanger sein konnte.
An einem Mittwochabend im August, Marion war im vierten Monat schwanger, setzte sich Harald am Abend neben sie auf die Couch, nahm ihren rechten Fuß in seine Hand und zog den Socken aus. Bei Fußmassagen fing er immer mit rechts an.
Dieses Mal aber fing er gar nicht an, starrte vielmehr erst auf ihren nackten Fuß, dann in ihr Gesicht und fragte:
„Willst du mich heiraten?“
Marion hatte sich ihr Leben lang vorgestellt, sich nächtelang ausgemalt, wie es wohl wäre, wenn ein Mann um ihre Hand anhalten würde. Träumte nicht jede Frau von diesem einen, diesem perfekten Heiratsantrag? Der Strauß roter Rosen, das Restaurant mit weißen Tischdecken und Kerzen in silbernen Kerzenständern, dieser Ober in schwarz, mit hochglanzpolierten Schuhen, der betörende Duft von Lilien in der Luft, und dann – ganz wie im Film – kniete er vor ihr nieder und stellte mit gebrochener Stimme die Frage, die sich jede Frau irgendwann einmal in ihrem Leben erhoffte.
Vielleicht sogar noch besser: die Schlussszene aus ‚Pretty Woman‘. Der über alle Maßen gutgekleidete Anwärter - Richard Gere in seiner besten Rolle! - fährt mit der überaus langen Stretchlimo bei ihrem überaus schäbigen Apartment vor, um mit einem Strauß Blumen zwischen den frisch gebleachten Zähnen mit schnellen Schritten die Außentreppe emporzusteigen und seine frisch-frisierte Julia Roberts noch auf der Treppe in einer zügellosen Umarmung wegzuknutschen.
Herrlich!
Harald begann mit dem Massieren, während er auf Marions Antwort wartete. Mit der Gelassenheit eines Geckos, das auf einem Stein sitzt und sich die Sonne auf den Rücken scheinen lässt, knetete er ihren rechten Fuß. Hätte er einen Blutdruckmesser in diesem Augenblick am Oberarm gehabt, das Gerät hätte keine außergewöhnlichen Ausschläge registriert.
Marion hingegen kämpfte mit den Tränen, romantischer Antrag hin oder her. Für sie war die Sache klar wie ein Bergsee in den Schweizer Alpen: Harald würde dem Kind, das sie erwartete, ein guter Vater sein. Darauf konnte sie sich bei ihm verlassen, und darauf alleine kam es an. Und - wer weiß? - vielleicht war er darüber hinaus auch noch der Erzeuger! Welch‘ glückliche Fügung! Nach dem Klassentreffen-Intermezzo mit Thorsten hatte sie sich mit Harald wieder versöhnt und es blieb dabei nicht bei der Fußmassage. Die Chancen standen also Fifty-Fifty.
Bei Harald wusste sie sich in guten Händen, hatte ein Gefühl von Geborgenheit. Er hatte seine Macken und er hatte seine Ecken und Kanten. Aber wer hatte das nicht? Welcher Mann war schon perfekt? Welcher Mann massierte mit der Gelassenheit eines übergewichtigen Goldfisches den Fuß seiner Freundin, während er auf die Antwort zu seinem Heiratsantrag wartete?
„Ja, ich will“, sagte sie. Sie spürte die Tränen kommen.
Er lächelte sie an, küsste sie auf den Mund. Leidenschaftlich.
„Aber Moment“, sagte er plötzlich. Und sie dachte: ‚Scheiße! Alles falsch. Er hat’s gar nicht so gemeint!‘
„Jetzt können wir noch nicht einmal gemeinsam darauf anstoßen“, fuhr er fort. „Ich meine, ich könnte dir ein Glas Orangensaft einschenken, während ich mir ein Bier genehmige. Was meinst du?“
GLÜCK GEHABT! Sie ließ den Tränen freien Lauf.
Einen Monat danach heirateten sie. Sie wollte nicht noch länger warten. Mit der Schwangerschaft im fünften Monat konnte sie sich noch halbwegs ungehindert bewegen. Sie trug einen Traum in Weiß, Schultern frei, mit langen, schneeweißen Handschuhen. Selbst Tanzen war noch möglich. Für viele Gäste kam die Einladung zur Hochzeit in Berlin zwar sehr überraschend und mit nur zwei Wochen Vorlauf auch recht kurzfristig, aber bis auf zwei enge Freunde von Harald und Marions Tante Edeltraut aus München, die wegen einem Oberschenkelhalsbruch zu dieser Zeit im Krankenhaus lag, konnten es alle möglich machen.
Das alles war nun acht Jahre her. Nicht unbedingt ein halbes Leben lang, aber acht Jahre waren acht Jahre. Joshuas Geburt, die Babyzeit, die viel zu schnell vorüber war, sein erster Zahn, seine Einschulung. Wahnsinn, wie die Zeit verging.
Dann kamen Haralds Einsätze in Afghanistan. Die Angst um ihn, die sie nie als normal akzeptieren konnte, gehörte plötzlich zu Marions Alltag. Die Angst um ihren Mann war wie ihr eigener Herzschlag. Ständig da.
Nun saß sie an ihrem Küchentisch, betrachtete sich in der Glastür der Mikrowelle. Mit ihren neununddreißig Jahren sah sie immer noch gut aus, richtig gut. Sexy und weiblich. Sie schüttelte kurz den Kopf hin und her und beobachtete, wie ihre naturblonden Haare fielen und sich um ihr Gesicht schmiegten. Dann beugte sie sich nach vorne. Der Morgenmantel öffnete sich und der V-Ausschnitt des T-Shirts, das sie darunter trug, fiel nach vorne weg. In der Mikrowellen-Glastür spiegelten sich die Rundungen ihres Busens. Sie schaukelte mit ihrem Oberkörper hin und her, starrte in die Mikrowelle.
„Die sind noch super in Schuss“, sagte sie leise. „Da hängt nichts.“
Sie füllte die Maschine mit frisch gemahlenem Kaffee, schaltete das Gerät an. Ihr kam die Idee, es auf Haralds Handy zu versuchen. Sie drückte zwei Tasten an dem Handgerät, wartete und hörte das Freizeichen. Der Duft des frischen Kaffees stieg ihr in die Nase.
„Ja?“
„Harald“, sagte sie. „Ich bin’s.“ Im Hintergrund konnte sie so etwas wie das Geraschel von Laubblättern hören.
„Hallo. Was gibt’s?“
„Nichts weiter“, sagte sie. Augenblicklich hatte sie ein mulmiges Gefühl. „Ich wundere mich nur, wo du bist. Hast dich ja einfach aus dem Staub gemacht.“
Es entstand eine kurze Pause. Dann sagte Harald: „Ich bin Jagen.“
Er war Jagen! Ja klar. Jagen. Wieder mal Jagen. Harald hatte dieses ‚Hobby‘ - wie er es nannte - nach seinem zweiten Einsatz in Afghanistan entdeckt. Er hatte sich einen passenden Bogen und ein paar Pfeile besorgt und war losgezogen in ein entlegenes Waldstück in Brandenburg.
„Harald, es ist Wochenende. Meinst du nicht, wir sollten diese Zeit gemeinsam verbringen? Ich meine, du bist erst vor drei Tagen vom Einsatz aus Afghanistan zurückgekommen und dieses ist unser erstes gemeinsames Familienwochenende. Seit Monaten!“
„Du hast ja noch geschlafen heute früh. Ich wollte dich nicht wecken.“
Marion holte tief Luft. „Ich bleib‘ doch nicht den ganzen Tag im Bett liegen! Komm nach Hause, Harald. Ich koche uns was Feines zum Mittag und dann gehen wir mit Joshua ins Blubb oder so. Er mag doch die Wasserrutschen da so sehr. Und heute Abend können wir, wenn du Lust hast, ins Kino gehen. Nur wir beide. Was meinst du? “
Pause. Marion hörte dieses Rascheln im Hintergrund, nahm das Kreischen eines Vogels wahr.
„Schatz, lass uns das doch später klären. Ich kann jetzt nicht“, sagte Harald. In seiner Stimme lag Nervosität und Unruhe.
„Harald, was ist los?“ seufzte sie. „Hast du etwa vor, den ganzen Tag im Wald zu bleiben?“
„Ich weiß nicht ...“
Marion griff nach ihrer Kaffeetasse, drehte den Henkel hin und her. „Willst du nicht mal mit jemandem reden? Die haben da eine Abteilung im Bundeswehrkrankenhaus. Hier in Berlin. Da werden Soldaten behandelt, die aus einem Auslandseinsatz zurückkommen und ...“
„Ich muss doch nicht behandelt werden, nur weil ich jagen gehe! Was ist los mit dir, Marion?“
„Harald, bitte. Hör mir zu. Ich ... ich glaube, dass das, was du gerade erlebst oder vielmehr an was du leidest, eine Krankheit ist. Sie nennt sich Posttraumatische Belastungsstörung. Und das kann behandelt werden.“
„Red‘ doch keinen Quatsch.“ Seine Stimme erschien ihr plötzlich fremd. Noch nie hatte er so zu ihr geredet. „Ich glaube mittlerweile, du hast zu viele von diesen Berichten gelesen. Da, wo sie rumsülzen über Soldaten, die nicht mehr alle beisammenhaben, nachdem sie aus einem Einsatz zurückgekehrt sind. Und nur, weil ich nach Monaten - nach sieben, langen Monaten! - mal wieder meinem Hobby nachgehe und etwas für mich allein sein will, nur deswegen machst du hier so einen Alarm!“
„Harald, ich will mich nicht am Telefon mit dir streiten. Eigentlich will ich mich gar nicht mit dir streiten. Aber meinst du nicht, dass du dich seit deinen Einsätzen in Afghanistan verändert hast? Mir gegenüber, Joshua gegenüber und überhaupt?“
„Wenn sich hier einer verändert hat, dann bist du das! Ich habe‘ jetzt wie gesagt keine Zeit für sowas ...“ Er legte auf.
Marion legte das Handgerät behutsam auf dem Tisch ab. Sie nahm einen Schluck Kaffee und blickte aus dem Küchenfenster, beobachtete das Spiel der Sonnenstrahlen, wie sie sich durch die Blätter und Äste der kleinen Pappel in ihrem Vorgarten hindurcharbeiteten.
Wie konnte sie Harald jemals die Wahrheit über Joshua erzählen, wenn sie noch nicht einmal wusste, wie ihr gemeinsames Leben weitergehen sollte? Er entfernte sich immer mehr von ihr, wurde ihr immer fremder. Wie sollte das bloß werden, wenn er darüber hinaus erfuhr, dass Joshua gar nicht sein leibliches Kind war?
Nach ein paar Minuten stand Marion vom Tisch auf und riss sich ein Stück von der Küchenpapierrolle ab, um ihre Tränen zu trocknen. Dann ging sie nach oben, um ihren Sohn zu wecken.