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Kapitel 6

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Bei Ebbe lagen die Zweige des submarinen Tangwaldes oberhalb des Wasserspiegels. Sie waren meterlang und sahen aus wie Gartenschläuche, die jemand ins Wasser geworfen hatten. Glatt und glitschig, wie die Schuppenhaut eines Aales. Daran hefteten die grünen, satten Blätter des Kelp. Sie schwammen wie ein nicht enden wollender Teppich direkt auf der Wasseroberfläche, glitzerten in der Sonne. Die gesamte Uferregion erschien durch diesen Seetang in einer steten Aufwärts- und Abwärtsbewegung.

Vancouver Island war reich an dichtem, sattgrünem Regenwald. Ein einzigartiges Kleinod in der Vielfältigkeit der Mischwälder, Bergketten und Prärien des nordamerikanischen Kontinents.

Die hiesigen Einheimischen erkannte man daran, dass sie keine Armbanduhren trugen. Für die Tageszeit reichte ein Blick zum Pazifik. Die Gezeiten waren die zuverlässigste Methode, um sich über die Tageszeit zu informieren und wenn man sich mal um eine halbe Stunde vertat ... wen zum Teufel kümmerte es?

In den Grundschulen wurden den Kindern die Gesetze des Meeres gelehrt noch bevor sie das Alphabet auswendig aufsagen konnten. Sie wussten ab der zweiten Klasse, wie das Meer funktionierte, was es für sie bedeutete und wie sie sich daraus ernähren konnten. Die Zeiger der Uhr oder der für alle Schulen Kanadas obligatorische Französischunterricht kamen später, selbst wenn der Lehrplan es anders vorsah.

Die Menschen hier waren stolz darauf, dass die Handy-Funklöcher auf ihrer Insel noch einmal größer waren als im restlichen Kanada. Man sprach nicht von ‚Funklöchern‘, sondern von ‚Empfangsinseln‘ an den Orten, wo tatsächlich ein Handy benutzt werden konnte. Vancouver Island brauchte keine flächendeckende Erreichbarkeit und genauso wenig brauchte man einen Walmart Superstore oder eine asphaltierte und befeuerte Landebahn für Flugzeuge, die nicht – wie hier üblich - auf dem Wasser landen konnten. Vancouver Island wollte ursprünglich und wild und so unberührt wie möglich bleiben.

In Ucluelet, einem Küstenstädtchen auf der Westseite der Insel, gewann der vor zwei Jahren gewählte Bürgermeister die 823 wahlberechtigten Einwohner alleine dadurch, dass er die Errichtung eines zweiten Funkmastes im Ort ablehnte. Ucluelet, pittoresk und für Kanada einzigartig, lag auf einer Halbinsel direkt am Pazifik. Ohne den zweiten Funkmast mussten sich nach wie vor alle Handybenutzer auf die Ostseite des Ortes begeben, um ihre Gespräche führen zu können. Nur dorthin strahlte der vorhandene Mast ab und schaffte somit eine der wenigen Empfangsinseln auf Vancouver Island. Für die Menschen in Ucluelet war das ein zumutbares Opfer, solange ihr Ort nur so ursprünglich blieb wie es eben möglich war für eine Ansiedlung, die seit 4300 Jahren ausschließlich vom Fischfang lebte und wo das Wort ‚Ökotourismus‘ immer mehr an Bedeutung gewann.

Thorsten hatte hier in Ucluelet vor zwei Jahren mit einer Muschelfarm begonnen. Seitdem stand er jeden Tag eine Stunde vor Sonnenaufgang auf, stahl sich auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer und machte sich für den Trip hinaus zum Seegarten fertig. Gegen Mittag würde er wieder zu Hause sein und seiner Frau Raven beim Abräumen des Frühstücksraumes und den Vorbereitungen für den nächsten Tag helfen. Die Pension war mit derzeit zweiundzwanzig Gästen ausgebucht und Raven hatte alle Hände voll zu tun, den Vormittag ohne seine Hilfe über die Runden zu kommen.

Raven hatte einen festen Schlaf und wachte selten auf, wenn Thorsten sich morgens in der Frühe davonstahl. Erst recht nicht, wenn sie am Abend zuvor getrunken hatte.

Ihr Vater hatte sich vor vier Monaten das Leben genommen. Sie hatten ihn mit fortgeschrittenem Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert, ihm noch acht Wochen gegeben. Als er diese Nachricht erhielt, sprach er die folgenden zwei Tage kein einziges Wort. Am dritten Tag schwamm er gleich nach dem Aufstehen in den Pazifik hinaus. Nackt, mit seinen Haaren zu einem Pferdeschwanz geflochten. Die Strömung schwemmte ihn tags drauf zehn Kilometer nördlich von Ucluelet an der Küste des Pacific Rim National Parks an.

Der Tod ihres Vaters veränderte Ravens Trinkgewohnheiten. Thorsten war zunehmend beunruhigt, und er hatte sich vorgenommen, sie bei einer günstigen Gelegenheit auf den Alkohol anzusprechen. Wobei: gab es überhaupt so etwas wie eine „günstige Gelegenheit“ für so etwas?

Vielleicht aber hatte er auch einen völlig falschen Eindruck von der Menge ihres Alkoholkonsums gewonnen. Immerhin zählte er nicht die Flaschen, er SCHÄTZTE derzeit lediglich, dass es in letzter Zeit mehr geworden war. Mehr als die jahrelang üblichen zwei Weißweinflaschen im Kühlschrank und die zwei weiteren Rotweinflaschen im Weinregal.

Es ging mehr um die Flasche Chardonnay neben ihrem Nachttisch, um die unetikettierte Fuselflasche in der Küche neben den Frühstücksbrötchen, um das klebrige Whiskyglas auf der Treppe nach oben in ihr Schlafzimmer. Um solche Sachen ging es.

Auf jeden Fall sollte er mit ihr sprechen. Er war schließlich ihr Ehemann.

Sie bevorzugte Whisky, Canadian Club oder amerikanischen Bourbon. Nach einem Abend mit mehreren Drinks war ihr Schlaf zwar fest, aber unruhig. Dann drehte sie sich alle paar Minuten von der einen auf die andere Seite. Und sie redete im Schlaf, wenn sie gesoffen hatte. Sie sprach in Englisch als auch in ihrer Muttersprache, Haida. Oder auch in einem ungesunden Mix von beidem.

Es kam auch vor, dass sie im Schlaf sang. ‚Purple Rain‘ von Prince oder irgendetwas von Katy Perry. Thorsten schreckte dann regelmäßig aus dem Schlaf auf, denn der Gesang war einerseits recht laut und andererseits nicht gerade sehr stimmig. Gelinde ausgedrückt.


Makaber, aber ein Gutes hatte ihre Trinkerei: er brauchte an so einem Abend nicht viel Überredungskunst, um sie zum Sex zu bewegen. Es war dann eher umgekehrt. Sie forderte es förmlich von ihm ab! Und hatte dabei Ideen, die sie in nüchternem Zustand nie gehabt hätte. Manchmal fragte er sich, ob sie sich am darauffolgenden Morgen überhaupt daran erinnern konnte, mit ihm geschlafen zu haben. Und vor allem, wie sie es gemacht hatten.

Als Thorsten fertig angezogen war und behutsam die Schlafzimmertür hinter sich schloss, sah er noch einmal zum Bett hinüber: Ravens schwarze, lange Haare lagen wie ein aufgespannter Fächer auf dem Kissen. Sie lag auf der Seite, ihr Mund war leicht geöffnet und ihre Arme wie immer nach oben abgewinkelt, so dass beide Hände vor ihrem Gesicht lagen. Lange, üppige Augenlider, hohe Wangenknochen und sinnliche, volle Lippen. Ihre kakaofarbene Haut hatte diese einzigartige Sanftheit, wie Samt. Sie war eine Schönheit.

Thorsten war neununddreißig Jahre alt, vier Jahre älter als Raven. Er war 185 cm, hatte schon immer eine athletische Figur gehabt. Fitnessstudios kannte er nur von außen und hatte sich schon des Öfteren gefragt, warum die Leute sich pausenlos über die vermeintlich unfairen Nutzungsverträge dieser Muckibuden aufregten und sich dann aber doch auf einen unkündbaren Drei-Jahres-Vertrag einließen.

Er hatte volles, schwarzes Haar, das ihm über die Jahre erhalten geblieben war. Sein Vater war mit fünfundvierzig ergraut, innerhalb eines Jahres. Thorsten konnte sich also ausrechnen, wann das bei ihm losging. Manchmal fragte er sich, ob die Seeluft am Pazifik irgendeine Wirkung auf das Ergrauen oder auf das Haarwachstum im Allgemeinen hatte. Da sein Vater aber ein Leben lang zur See gefahren war und somit sein Haar permanent der Seeluft irgendeines Ozeans ausgesetzt gewesen war, ging diese Rechnung nicht ganz auf.

Seine Augen waren blau und bestechend. Seit dem Kinofilm „Top Gun“ im Jahr 1986 war klar, dass er genau die gleichen Augen hatte wie Tom Cruise.

Keiner außer Thorsten konnte so bestechend gucken wie Tom, der eigentlich Thomas hieß. Als ihn das erste Mal jemand darauf ansprach – es war die Tochter von Francesco, dem damaligen Inhaber der italienischen Eisbude in der Enzianstraße in Garmisch – wusste er erst gar nicht, was sie meinte. Am Abend aber schaute er mal genau hin beim Blick in den Spiegel. Und richtig: definitiv Tom-Cruise-Augen.

Seine Brauen waren voll, sein Bartwuchs nach zwei Tagen schon ein ausgewachsener Drei-Tage-Bart. Seine Finger waren lang und knochig, und diese Tatsache machte er dafür verantwortlich, dass er bei Kälte oder Feuchtigkeit mit steigendem Alter Schmerzen in den Fingergelenken verspürte. Noch war es kein Problem, der Schmerz war eher unterschwellig. Es war eher so, als gäbe sein Körper ihm erste Warnhinweise, was im Alter noch zu erwarten war.

Heute hatte er eine kurze Baumwollhose, ein T-Shirt und einen Sweater angezogen. Auf Socken hatte er verzichtet. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass diese beim Zuwasserlassen des Kajaks ohnehin nass wurden und er dann während des gesamten Trips unangenehm feuchte Füße hatte. Er trug lieber Neopren-Schuhe, die er in einem der zahllosen Surf-Läden in Ucluelet gekauft hatte. Die Feuchtigkeit, die sich in diesem Material bildete, war angenehm und wärmend. Nicht vergleichbar mit der in nassen Socken.

Nachdem er Zähne geputzt und einen Schoko-Bagel gegessen hatte, verließ er das Haus. Er trank den Rest seines Kaffees auf dem Weg zum Schuppen, wo er sein Kajak aufbewahrte. Er nahm das Boot vom Haken und steckte sein iPhone und seine mit Leitungswasser und drei Eiswürfeln gefüllte Hartplastikflasche in einen wasserdichten Beutel.

Er griff nach einem weiteren Beutel, indem sich die für seine Arbeit benötigten Werkzeuge und Materialien befanden. Zangen und Bohrer in verschiedenen Größen, Gewichte, Feilen, Garne und Seile, Draht in unterschiedlichen Stärken und allerlei Schrauben, Klammern und Nieten zum Befestigen von losen Gewebeteilen. Mit dem Kajak auf der Schulter und den Beuteln in der Hand ging er zur Bucht hinunter.

Auf dem Weg dahin lag ein alter Verschlag aus Holz. Zwei Fenster aus Hühnerdraht, eine schmale Tür und ein Dach, auf dem sich im Laufe der Jahre eine dichte Moosschicht ausgebreitet hatte. Die früheren Grundstücksbesitzer hatten hier Hühner gehalten.

Dieser Verschlag war nun das Zuhause von Hugo, einer jungen Kanada-Wildgans. Thorsten hatte den Vogel vor zwei Wochen direkt am Strand entdeckt und mitgenommen. Das Tier war hilflos umher gewatschelt, pickte an und bei ein paar Kieselsteinchen auf, so als sei es auf der verzweifelten Suche nach etwas Essbarem. Der rechte Flügel hing schlaff am Körper herunter, die Gans konnte ganz offensichtlich nicht mehr fliegen.

Er beschloss, die Gans am Strand einzufangen und der Sache mit dem herabhängenden Flügel auf den Grund zu gehen. Der lockere Kies am Strand und die energische Gans als solches machten allerdings aus dem Vorhaben nicht gerade einen Sonntagnachmittag-Spaziergang.

Selbst mit diesem matten, aufgefächerten Flügel, der beim Laufen mit der Spitze über den Boden schliff, erreichte der Vogel bei seinem Fluchtversuch vor Thorsten eine beachtliche Geschwindigkeit. Wie ein Hase schlug die Gans Haken: fünf Meter nach rechts, fünf Meter nach links, dann wieder nach rechts. Thorsten stolperte hinterher, kam aber nicht näher als eine Körperlänge an die Gans heran. Die Gans schnatterte ohne Unterbrechung und Thorsten hielt mehrmals inne in seiner Verfolgung. Einerseits, um Luft zu schnappen, andererseits, um sicherzugehen, dass sich niemand in der Nähe befand und sich gegebenenfalls über das Spektakel amüsierte, denn schließlich war Ucluelet ein kleiner Ort. Thorsten musste an die Szene aus ‚Der mit dem Wolf tanzt‘ denken, wo Lieutenant Dunbar mit dem Wolf über die Prairie rannte und nach der der Film letztendlich benannt war.

Es gelang ihm schließlich, die Gans in eine Mulde zu treiben. Von hier aus gab es kein Entrinnen. Er fing die Gans mit der Rechten und griff sich den Kopf mit der Linken. Auf diese Weise hinderte er das Tier daran, wie besessen auf ihn herum zu hacken. Gänse können mit ihrem Schnabel unangenehm viel Kraft entwickeln und auf diese Erfahrung wollte er gerne verzichten.

Thorsten schaute auf seinem Weg zum Wasser in den Verschlag hinein. „Na Hugo, alles gut?“ fragte er.

Hugo schnatterte und schüttelte sich daraufhin auf seine ganz eigene Art. Es sah aus wie bei einem Hund, der soeben aus dem Wasser gekommen war. Thorsten beobachtete die Gans einen Augenblick, nickte wohlwollend und ging dann weiter. Kommende Woche würde er den Verband abnehmen.

Keiner wusste, ob es sich bei dem Vogel um eine Gans oder um einen Ganter handelte. Er oder sie war nun in der zweiten Woche in diesem Verschlag, stets voller Energie und Lebensfreude. Der mit einer einfachen Mullbinde zusammengebundene Flügel störte die Gans nicht im Geringsten. Sie fraß das, was kam – meist Getreide aller Art, viel Gras, Karotten, Gurken und auch mal Eier -, schüttelte ihr Gefieder so, wie es Gänse nun einmal tun und stimmte von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang bei jedem von ihr wahrgenommenen Vogelgezwitscher mit ein.

Das Kajak balancierte Thorsten für die zweihundert Meter hinunter zur Bucht mit einer Hand auf der Schulter. Er dachte an Raven und daran, dass er nach der Arbeit heute mit ihr zusammen unter die Dusche gehen könnte. Er erinnerte sich, wie er sie das erste Mal nackt gesehen, ihren wahnsinnigen Körper bewundert hatte. Für den Rest des Weges summte er den Song ‚Your Body is a Wonderland‘ von John Mayer.

Er wasserte das Kajak und paddelte hinaus zum Seegarten, wo er das an den Tauen befestigte Mischgewebe aus Plastikfasern und Baumwolle vorsichtig aus dem Wasser herauszog, um die jungen Muschellarven, die sich daran festgesetzt hatten, zu überprüfen.

Die Muschellarven wurden mit Erreichen einer bestimmten Größe in sogenannte Muschelsocken verpflanzt. Eine anstrengende und langwierige Arbeit. Dieses stand nun in wenigen Tagen an, und er konnte sich gut daran erinnern, wie hundemüde er im vergangenen Jahr jedes Mal abends ins Bett gefallen war nach einem solchen 14-Stunden-Tag körperlicher Arbeit im Wasser. Ein guter Grund, das gemeinsame Duschen zusammen mit Raven vorher zu erledigen.

Vor zwei Jahren hatte er noch keinen Schimmer vom Muschelanbau gehabt. Alles, was er wusste, hatte er sich anlesen müssen. Hauptsächlich aus Berichten, die im Internet veröffentlicht wurden. Muschelfarmer aus der ganzen Welt tauschten sich in Foren aus und das Gute war, dass sie sich gegenseitig keine Konkurrenz machen konnten. Muscheln aus Australien konnten nur in Australien gezüchtet und geerntet werden. Ein Produzent an Kanadas Westküste belieferte den Weltmarkt mit ganz anderer Qualität und regional zu ganz anderen Preisen als jemand, der in Adelaide, Australien, oder in St.-Peter-Ording an der Nordsee ansässig war.

Das war der ausschlaggebende Grund für Thorsten, es zu versuchen. Als Muschelfarmer war er an der Pazifikküste Kanadas ein Pionier.

Und dann war da noch Orka, Thorstens indianischer Schwager. Orka war der fünf Jahre ältere Bruder von Raven. Er lebte seit seiner Geburt auf Vancouver Island und hatte die Insel noch nie verlassen. Den großen Rest Kanadas kannte er nur aus dem Fernseher.

„Warum sollte ich? Da kenne ich doch keinen. Und ich habe gehört, dass das Leben der Menschen auf dem Festland schnell und hektisch abläuft. Das will ich nicht, das macht mich krank“, war alles, was er dazu sagte.

Orka war ein Haida-Indianer. Das Fischen im Meer hatte ihm sein Vater beigebracht. Genauso wie es dessen Vater getan hatte. Die Haidas fischten schon an der Küste, als die Europäer noch gar nicht wussten, dass es diesen Ozean und den daran anschließenden Kontinent gab.

Und Orka hatte seinem Vater gut zugehört. Er wusste alles über die Fischschwärme, die vor Vancouver Island vorbeizogen, wie und wann man sie befischte, welches Material dazu benötigt wurde und – das Wichtigste! - wie man den Fang schmackhaft zubereitete.

Kochen und essen waren Orkas Stärken! Ob in der Küche, am offenen Feuer gleich am Strand oder auf dem Barbecue. Orka war ein Meister im Abschmecken und war bekannt für seinen ‚Lachs-in-der-Bierdose‘. Zudem kannte er sich bestens mit der Aufzucht von Muscheln aus.

„Du willst was mit Muscheln machen? Ich weiß alles über Muscheln“, sagte er an einem dieser endlosen Abende, die er zusammen mit Thorsten am Feuer saß und mit ihm zusammen Dosenbier trank. Schon immer hatte Orka mit der Aufzucht der Blau- oder auch Miesmuschel experimentiert. Nicht kommerziell, immer nur so viel, dass es für eine Handvoll Muscheln als Beilage für andere Fischgerichte reichte. So konnte er die Muscheln als besondere Delikatesse anbieten, wenn sie ein Essen innerhalb der Familie oder zusammen mit den Nachbarn hatten.

Auch die Idee ‚Muschel-in-der-Bierdose‘ hatte er einmal ausgetestet, aber der Geschmack des Muschelfleisches zusammen mit dem Bier war nicht wirklich so das Wahre. Mit Lachs ging das entschieden besser.

„Ist das eigentlich wahr, was man sich über deutsche Frauen so erzählt?“ hatte ihn Orka mal gefragt.

„Was erzählt man sich denn so über deutsche Frauen?“

„Weißt du doch, Mann. Deutsche Frauen eben ... oh lala“, erwiderte Orka und machte eine Handbewegung, die Thorsten nicht deuten konnte.

„Nein, weiß ich nicht.“

„Ich merke schon, du hast keine Ahnung. Keine Ahnung von den Frauen im Allgemeinen und erst recht nicht von denen in England ... in Deutschland, meine ich. Mann.“

Und als ob er sich nunmehr mit einem Monolog abgefunden hatte, fuhr er fort: „Also ich sage dir jetzt mal was: Deutsche Frauen sind total sexbesessen! Also frage ich mich, warum ein Pfundskerl wie du, Ti oder Tom Cruise oder wie immer sie dich nennen, warum so ein Kerl in Gottes Namen ausgerechnet nach Kanada kommt, wenn er doch in seiner alten Heimat alles kriegen kann!“

Orka kürzte den Namen seines Schwagers gerne auf den ersten Buchstaben herunter. Eigentlich taten das hier alle so. Es war einfacher, vor allem wenn es schnell gehen musste: ‚Ti‘.

„Aha“, sagte Thorsten. „Sexbesessen. Die Frauen in Deutschland. Na dann.“

„Sag‘ mir, ob es stimmt, Ti! Die liegen ja auch alle oben ohne am Strand. Ich habe Jeff, meinen Kumpel mit dem Riesenaquarium im Wohnzimmer, danach gefragt. Der hat Google, und Google weiß alles. Und Google sagt: Es stimmt! Waren sogar Bilder da zu sehen! Also Mann, wenn die alle den ganzen Sommer über so nackt am Strand liegen, dann ist das doch ein Signal, Mann! Ein Signal, verstehst du?“

„Was meinst du denn mit Signal“?

„Na, ein S-E-X-S-I-G-N-A-L! Mensch Ti, du hast doch da gelebt? Was hast du denn all die Jahre da gemacht? Warst du nie am Strand, Mann?“

„Doch, war ich. Und richtig: viele der Mädchen – also eigentlich alle – sind da oben ohne unterwegs.“

Als Thorsten vor nunmehr acht Jahren aus Deutschland auswanderte, hatte er ein Ziel: eines Tages ein Seegrundstück an der Pazifikküste Kanadas sein eigen nennen. Die Idee mit der Auswanderung nach Kanada war seine Art, es anders zu machen als all die anderen.

Der Gedanke, sein Berufsleben lang ein Teil der Herde zu sein, dem üblichen Wahnsinn zu verfallen und artig innerhalb der vorgestanzten Bahnen Karriere zu machen, hatte ihm schon immer einen Schauer über den Rücken gejagt. Er wollte nicht nach den althergebrachten Spielregeln funktionieren, mit einem aufgesetzten Lächeln im Anschlag tagein–tagaus seiner geregelten Arbeit nachgehen und keinen Gedanken daran verschwenden, wie es wäre, dieses vorgezeichnete Lebensmuster herauszufordern und sein Glück woanders zu versuchen.

Und dann Kanada: natürlich gab es auch andere Länder zum Auswandern. Man brauchte nur die privaten Fernsehsender einzuschalten und konnte sich täglich reinziehen, wohin es Deutsche zog, wenn sie auswanderten. Australien, Neuseeland, USA, Mallorca, Fuerteventura. Einige gehen auch nach Japan, aus welchen Gründen auch immer. Jedem das seine.

Für Thorsten war irgendwann klar, dass Kanada das Land seiner Wahl war. Es war das zweitgrößte Land der Erde, umschlossen von drei Ozeanen. Vom Atlantik bis zum Pazifik war eine Sprache allein nicht genug, der Kaffee bei Tim Hortons wurde am liebsten als ‚Double-Double‘ bestellt und für was ein Zamboni gut war wussten die Kinder schon bevor sie eingeschult wurden. Die Bergketten der Canadian Rockies waren so unendlich wie die kreisförmigen Kornfelder der Prärieprovinzen Saskatchewan und Manitoba und die Einwohner Neufundlands – die ‚Newfies‘ – mussten für sämtliche Ostfriesenwitze herhalten.

Thorsten war frei und ungebunden gewesen, als er sich entschloss, es in Kanada zu versuchen. Jung, voller Energie und überschäumend mit Ideen. War nur sich selbst und seinem Gewissen gegenüber Rechenschaft schuldig.

Er hatte lange und hart gearbeitet, um sich den Traum vom Seegrundstück am Pazifik erfüllen zu können. Und der Weg dahin war nicht einfach gewesen.

Er hatte es in kürzester Zeit zum Manager eines Ferienwohnung-Resorts auf Vancouver Island geschafft. In ebenso kurzer Zeit merkte er, dass das nicht die Endstation seiner beruflichen Karriere sein konnte.

Er arbeitete sechs Tage die Woche, sechzehn Stunden am Tag. Das war sein Pensum als Chef von sechsundzwanzig Mitarbeitern bei einem Jahresumsatz von fünfeinhalb Millionen Dollar. Weniger Arbeitseinsatz war kaum möglich, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, durch einen anderen Nachwuchshotelier ersetzt zu werden.

Er war der Erste, der am Morgen kam und der Letzte, der am Abend ging. In der Nacht war er über Handy für den Nachtportier erreichbar. John McLeod war sein Name. Er hatte eine tiefe, hässliche Hasenscharte und machte nur allzu gerne von der Möglichkeit, den Chef aus dem Bett zu klingeln, Gebrauch. Warum selbst Verantwortung übernehmen und am Ende noch unpopuläre Entscheidungen fällen müssen, wenn der Chef nur einen Tastendruck entfernt war?

Aber Thorsten wollte es so. Wollte erfolgreich sein in dem, was er tat, schon immer. Und er wollte noch weiter, sein eigenes Ding machen. Ein Seegrundstück am Wasser, das war es.

Im Jahre 2006, drei Jahre nach seiner Auswanderung, tat sich eine Gelegenheit auf, die einfach zu verlockend war.

Der Bruder seines damaligen Chefs hatte eine Frau aus Neufundland kennen und lieben gelernt. Eine Frau mit einer außergewöhnlich üppigen Oberweite. Nicht jedermanns Geschmack, aber für den Bruder seines Chefs war sie genau das, was er immer gesucht hatte. Vielleicht war es nicht allein die Oberweite, aber wer wollte das schon so genau wissen?

Für Thorsten hatte sie der Himmel geschickt. Sie bekam nach sieben Monaten auf Vancouver Island Heimweh und wollte zurück in den Osten des Landes, zurück in ihre Heimat Neufundland. Es war bekannt, dass „Newfies“ sich schon immer schwer in der Ferne taten.

Der Bruder von Thorstens Chef liebte seine Verlobte sehr und überlegte nicht zweimal, als seine zukünftige Frau ihm ihren Wunsch, in die Heimat zurückzukehren, unterbreitete. Kurzerhand bot er sein Bed & Breakfast, schön idyllisch direkt an einem Fjord gelegen, zum Verkauf an, um zusammen mit seiner Verlobten in die Einöde Neufundlands zu verschwinden.

Auch Thorsten überlegte nicht zweimal, als er von dem Angebot hörte. Er griff zu, bevor es ein anderer tat. Seine Ersparnisse reichten der Bank als Anzahlung. Die wirtschaftlichen Aussichten des Bed & Breakfast waren vielversprechend und Thorsten konnte die Geldgeber mit seinem Geschäftsplan überzeugen.

Von nun an war er Hausbesitzer und Unternehmer in Kanada.

Die monatlichen Abzahlungen wurden nie zum Problem. Die Pension lief gut, es gab Stammkunden mit guter Mundpropaganda und immer mehr Gäste, die die raue und durch Pazifik und Regenwald bestimmte Atmosphäre zu schätzen wussten. Schon nach zwei Jahren investierte Thorsten in Ausbauten und Renovierungen. Er errichtete zwei Hot-Tubs und einen großzügigen Barbecue-Bereich, wo er abends seinen Gästen den besten Lachs der Insel anbot und ihnen Geschichten über Wale, Schwarzbären und Westküsten-Indianer erzählte. Einige der Geschichten waren wahr, bei anderen musste er seine Phantasie bemühen. Aber darauf kam es gar nicht an. Seine Gäste wollten gut unterhalten werden und das wurden sie hier.

Er gab seinem Haus den Namen ‚The Cove‘.

Auch privat hatte sich Thorstens Leben verändert. Drei Wochen nachdem er die Sachen seiner damaligen Freundin Annika - sie hatte ihn mit einem Studienkollegen betrogen – in zwei OBI-Umzugskartons vor die Tür gestellt hatte saß er im Flieger nach Vancouver. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er kein Rückflugticket dabei.

Annika und er hatten in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Hamburg gewohnt. Thorsten war stellvertretender Hotelmanager in einem Hotel direkt an der Binnenalster, machte einen Haufen Geld in dieser Funktion. Er war zu diesem Zeitpunkt einunddreißig Jahre alt, schlief niemals länger als sechs Stunden in der Nacht und brachte neunzigtausend Euro im Jahr nach Hause. Plus eigenem Firmenwagen und plus unentgeltliche private Nutzung aller Hotels, die mit zu dem Konsortium gehörten. Inklusive Begleitung, versteht sich. Und inklusive des neuen Prachtbaus in Dubai, dem Jebel Ali Beach. Versteht sich ebenfalls.

Er war gut, in dem was er tat.

Nun, acht Jahre später, paddelte er mit dem Kajak in seiner eigenen Muschelfarm umher und genoss den salzigen Geruch des Meerwassers. Je weiter er sich der nördlichen Ecke der Bucht näherte, desto intensiver wurde der Geruch und vermischte sich mit dem Aroma des Seetangs. Es roch wie schräg angeschnittene Schnittblumen, bevor man sie in die Vase stellte. Allerdings moderiger, maritimer.

Sein Plan war, irgendwann einmal einen Steg zu bauen, breit und stabil, von wo aus er nicht nur sein eigenes, sondern zudem die Kajaks seiner Gäste wassern konnte. Ausflüge in kleinen Gruppen mit dem Kajak in den Salmon Fjord waren genau das, was er sich für sein Bed & Breakfast noch vorstellen konnte. Das war die Zukunft, sanfter Biotourismus war im Kommen und Kajaktrips entlang der unzähligen Buchten Vancouver Islands waren genau das Ding.

Die Wellen schlugen sanft am Ufer auf. In der Ferne hörte Thorsten den schrillen Ruf eines Weißkopfseeadlers. Es musste sich um eines der beiden Tiere handeln, die auf der anderen Seite der Bucht ihr Nest hatten. Thorsten schaute in den Himmel: alles ruhig, wolkenlos. Leichter Westwind.

Er befreite einen Minzbonbon vom grünweiß-gestreiften Einwickelpapier und steckte es in den Mund. Mit gespitzten Lippen saugte er die Luft ein, inhalierte die Frische des Bonbons, die sich wie eine mit Eiswasser gefüllte Wasserbombe in seinem Rachen ausbreitete. Herrlich erfrischend.

Sein gelbes Ein-Mann-Kajak hatte genügend Stauraum für die Ausrüstung, die er für die Arbeit an den Netzen benötigte. Der Typ „Touring Kayak“ war aufgrund der höheren Wendigkeit für Thorsten besser geeignet als die sonst üblichen Kajaks. Diese waren schneller und robuster, aber nicht so gut bei Richtungswechseln, und darauf kam es Thorsten bei seiner Arbeit an. Ein leichtes, kurzes Kajak. Ideal.

Für sein iPhone hatte er sich einen wasserdichten, durchsichtigen Beutel gekauft. So konnte er Textnachrichten und Emails empfangen und beantworten, auch ohne den Beutel zu öffnen und Gefahr zu laufen, das iPhone durch das aggressive Salzwasser zu beschädigen.

Die Strömung im Fjord war gering. Thorsten nahm nur leichte Korrekturen mit seinem Kajak vor, um den Kurs zu halten. Seetang dümpelte im Wasser auf und ab. Die sanften Wellen, die sein Kajak erzeugte, formten sich wie die Rippen eines Fächers um die Spitze seines Bootes.

Er war etwa fünfzig Meter von der letzten Reihe seines Seegartens entfernt, als sein iPhone piepte.

*Guten Morgen, Thorsten! Ist doch richtig ... ist doch am Morgen jetzt bei dir, oder?*

Thorsten legte das Ruder aus der Hand. Er positionierte es quer übers Boot, sodass es nicht ins Wasser rutschen konnte.

+Ja richtig: bei mir ist es jetzt sieben Uhr morgens. Was machst du gerade, Marion?+

Das Texten im Kajak war nicht leicht. Er hatte Schwierigkeiten, die Balance zu halten und das abgelegte Ruder nicht ins Wasser gleiten zu lassen.

*Nichts weiter. Ich sitze am Küchentisch und schreibe dir.*

Thorsten blickte auf. An der Uferregion konnte er die letzten Reste des Morgennebels erkennen. Er fragte sich, was sie wohl anhatte, während sie am Küchentisch saß und ihm schrieb.

+Wie geht es dir, Marion?+

*Alles gut bei mir. Aber schön, dass mich das mal jemand fragt.*

+Lese ich da was zwischen den Zeilen?+

*Könnte sein. Aber sage mal: wie war das jetzt nochmal mit der Susanne damals?*

+Ah, verstehe ... Themawechsel.+

‚Ja. Themawechsel.‘

+Susanne? Du willst das wirklich wissen mit der Susanne?! Das ist doch alles schon so furchtbar lange her.+

*Ja, ist es. Gut beobachtet. Also los dann. Und nichts auslassen.*

+Unter einer Voraussetzung, Marion.+

*Oh, jetzt wird’s aufregend. Was für eine Voraussetzung könnte das wohl sein?*

+Ich erzähle dir, wie das mit Susanne war. Und du beichtest mir die Sache mit Jochen. Deal?+

*Da gibt es nichts zu beichten. Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass Jochen nur eine Reaktion auf deine Susanne war?*

+DEINE Susanne!? Aber nein, so war es nicht. So war es ganz und gar nicht.+

*OK, dann erzähle DU mir, wie es wirklich war.*

+Aber nicht mehr heute.+

*Wieso nicht mehr heute?*

+Ich kann jetzt nicht so ... rein zeitlich. Muss arbeiten.+

*Ach so. Schade. Hatte mich schon darauf gefreut. Dann schreibe mir wieder, wenn du kannst.*

+Ja. Mache ich. Take care.+

*Take what?*

+Take care. Sagt man hier so zur Verabschiedung.+

*Aha. Also dann: Take care.*


75 B und Minze frisch

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