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KOSMETIK IST ALLES Konstanze, das Alter geht niemanden etwas an Keep Young and Beautiful

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Im Hospiz wurde gestern Hochzeit gefeiert. Das Paar lebt schon lange zusammen. Der Ehemann wird bald sterben, es war also höchste Zeit, einander das Jawort zu geben.

Die Nachbarin aus Zimmer 3 findet diese Entscheidung wundervoll. Sie ist aber den umgekehrten Weg gegangen. Erst vor einigen Monaten hat sie sich von ihrem Mann getrennt.

Der vorgezogene Abschied war ihr wichtig. Und er war auch nötig, denn eigentlich dachte sie lange über die Trennung nach. Als sie von ihrer unheilbaren Erkrankung erfuhr, war klar, dass nicht mehr viel Zeit bliebe, das Leben in die Hand zu nehmen und die Veränderungen, die sie im Alltag einer Gesunden verschleppt hatte, endlich im Lebensrest einer Sterbenden umzusetzen. Sie wollte nicht als Frau dieses bestimmten Mannes sterben, sich nicht erst vom Tod von ihm scheiden lassen.

»Jetzt noch?«, fragte ihr Mann verwundert und nicht frei von Verachtung. »Wann sonst?«, fragte sie leise und knapp, und er verzog den Mund. Sie lösten die gemeinsamen Lebensräume auf. Mag sein, dass noch etwas Liebe übrig blieb.

Das Haus war zum Glück groß genug, einander aus dem Weg zu gehen. Er wohnte in der leer stehenden Wohnung im Stockwerk über ihr, zu der es einen separaten Zugang gab. Sie ließ ein neues Türschloss einbauen. Es gefiel ihr, die Tür hinter ihm zu schließen, sich ihm von eigener Hand wegzunehmen, statt vom Tod genommen zu werden. »Finden Sie das absurd?«, fragt sie. Dabei ist ihr die Antwort egal.

Das Tuch, das sie kunstvoll um ihren Kopf gebunden hat, ist aus edlem Material, mit Designerprint. Ihr Schmuck ist dezent, aber effektvoll. Rouge betont ihre ohnehin markanten Dietrich-Wangen. Der verlängerte Lidstrich erinnert an Nofretete.

Vor drei Wochen zog sie ins Hospiz. Auch an diesem Ort, im Sterben, will sie neu und anders sein. Jedes Ich braucht ein Du, deshalb erzählt sie Fremden allzu gern von ihrem neuen Ich. Sie schätzt Fremde, denn sie lassen sie ihre Geschichte so erzählen, wie sie es will, ohne alles mit Erfahrungen der Vergangenheit zu verknüpfen. Der Satzanfang »Aber hast du früher nicht immer gesagt, dass …« ist ihr zuwider. Was kümmert sie, was früher war?

Deshalb hat sie schon vor langer Zeit aufgehört, mit gewissen Menschen zu telefonieren. Sie will keine Fragen und keine Belehrung. Statt zu reden, will sie nur noch kurze Textnachrichten senden. Ja, sie wisse, das klinge nach Ghosting, nach jenen Menschen, die einfach nicht mehr erreichbar sind, Anrufe nicht mehr annehmen, sondern nur noch über kurze Texte wahrnehmbar sind und zum Geist werden, ehe sie ganz verschwinden. Aber das passe doch auch. Ihre letzte Nachricht an ihren Ex-Mann lautete: »Pass auf Dich auf.« Sie meint, er werde nicht trauern. Das sei gut so. Sie hofft, dass er ihr vergeben kann, statt böse auf sie zu sein, denn der Vergebende habe den größeren Nutzen. Er darf sich größer fühlen. Und das gönne sie ihm.

Die Frau hält während ihrer Erzählung eine kleine Schale in der Hand. Dünnwandige, fast schwarze Keramik, von goldenen, ungeordneten Linien durchzogen, kein Muster, sondern Verbindungen von Bruchstücken und Spalten. Kintsugi heißt dieses aus Japan stammende Verfahren, bei dem Risse und Brüche mit Lack verbunden und mit Goldstaub betont und zum Leuchten gebracht werden. Man warf im alten Japan gesprungene Keramik nicht weg, sondern fügte die Scherben zusammen und schuf aus dem, was blieb, etwas Neues. Heute wird diese Methode industriell umgesetzt, vermeintlich Zerbrochenes in hoher Stückzahl hergestellt und erfolgreich vermarktet. Trotzdem: Das Symbol, der Ursprung der Idee gefällt ihr, wenngleich es ihr im Leben nicht ganz gelingen mag, jedes Bruchstück zu verbinden und zu bewahren. Ihr Weg: einfach mehr Gold in die Lücken füllen und mehr Lack aufpinseln, auf dass alles zusammenhält.

Als Berufsschullehrerin für Friseure legt sie unübersehbar Wert auf ihr Äußeres. Vordergründig wirkt sie gesund, aber man erahnt ihre Krankheit. Kosmetik, das ist eines ihrer Lieblingsthemen.

»Wenn Sie Krebs, Haarausfall, Pilzflechten und andere Hautveränderungen haben, müssen Sie Ihre gewohnte Schminktechnik völlig neu denken. Ich empfehle Ihnen einen Termin bei der Kosmetikerin und Farbberaterin Ihres Vertrauens. Krankheit verändert die Farbpalette, und Blau, das Ihnen in gesunden Tagen noch ausgezeichnet stand, lässt Sie nun aussehen wie, sagen wir mal: Nosferatu.

Holen Sie sich Beratung.

Es gibt Camouflage für jede Blässe, Concealer für jeden Teint, Abdeck- und Korrekturstifte für jeden Fleck. Und jetzt mal ehrlich: Wie wichtig ist, ob das Zeug atmungsaktiv ist? Hautalterung muss nicht mehr Ihre Sorge sein.

Nehmen Sie viel Make-up, aber nicht zu viel, sonst sehen Sie so maskenhaft aus wie Melania Trump bei der Militärparade am 4. Juli – und das wollen Sie bestimmt nicht.

Meine Schüler wollten sich aus Solidarität mit mir kahl rasieren. Das konnte ich gerade noch verhindern. Solche idiotischen Ideen funktionieren vielleicht für einen Bericht im Stern oder in der Bunten. Überschrift: ›Schüler rasieren sich für sterbende Lehrerin Glatzen‹. Was bitte hätte die sterbende Lehrerin davon? Hässliche Schüler und einen deprimierenden Anblick mehr. Soll ich mich besser fühlen, wenn andere entstellt aussehen?

Kennen Sie den weisen Satz von Karl Lagerfeld: Wer auf der Straße Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren? Genau so sehe ich das auch.

Wie sollen Sie anderen und sich selbst noch gefallen, wenn Sie nur noch ein Bild des Jammers abgeben?

Ich habe ja immer auf meine Figur geachtet. In 53 Lebensjahren bin ich kein einziges Mal satt vom Tisch aufgestanden. Weil ich es so wollte.

Kennen Sie den Begriff Sterbefasten? Angeblich tritt bei völligem Nahrungsverzicht und stetig reduzierter Flüssigkeitszufuhr nach neun bis fünfzehn Tagen ein sanfter Tod ein. Die Nieren können ihre Arbeit nicht mehr tun und der Harnstoff, der nicht mehr ausgeschieden werden kann, geht ins Blut über und vergiftet den Organismus. All das angeblich ohne große Schmerzen. Das Problem: die Mundpflege. Das schlimmste Durstempfinden entsteht in der Mundschleimhaut. Man braucht Disziplin und einen Helfer, der bereit ist, mit geeigneten Tinkturen den Mund zu befeuchten, ohne dass es einer Flüssigkeitszufuhr gleichkäme. Es sei mehr ein Verdunsten denn ein Trinken. Sterbefasten ist eine Option. Aber ich bin froh, dass es zum Sterben noch andere Methoden gibt, als sich verhungern und verdursten zu lassen. Das ist doch eigentlich unmenschlich und man würde es keiner Katze antun. Manche Menschen hoffen auf das Medikament Pentobarbital-Natrium, das man Tieren zum Einschläfern injiziert. Menschen müssen es aus eigenem Entschluss trinken.

Ich habe einen Arzt angesprochen. Er sagte, er sei nicht dazu da, Sterbehilfe zu leisten oder dazu zu verhelfen. Er glaubt an Palliativversorgung und Schmerzkontrolle. Jetzt ist er nicht mehr mein Arzt. Ich will jemanden, der mir alle Optionen aufzeigt und mich die letzte Entscheidung treffen lässt.

Reden wir lieber wieder über Mode. Mein Ex fragte einmal: ›Warum hast du drei Dutzend Lippenstifte?‹ Ich hatte drei Dutzend Lippenstifte, weil er für mehr nicht genug verdiente.

Sie können natürlich nur aus Liebe heiraten, aber raten würde ich Ihnen das nicht. Jeder wie er will. Ich hasse es, wenn Männer dumme Fragen stellen. Was wollten Sie noch mal wissen? Ach ja, Musik. Ich schulde Ihnen noch ein Lied. Kennen Sie das erste Soloalbum von Annie Lennox und das Video mit der Federboa? Diese Platte vermittelte ein Lebensgefühl: weiblich, selbstbestimmt, humorvoll, klug, offen. So will ich sterben. Stellen Sie sich vor: Ich wäre vielleicht die erste Frau mit Federboa im Sarg. Mir wachsen sowieso mal Flügel, da passen Federn ganz ausgezeichnet.

Mein Lied: Keep Young and Beautiful. Klappt bei keinem, aber jeder muss es wenigstens probieren. Mein Liebeslied an das Leben und an mich selbst.

Alles, was das Leben schöner macht, ist es wert, dass man es ausprobiert, sagt mein bester schwuler Freund, mit dem ich von Paco Rabanne bis Plutarch über alles reden kann. Liebe macht das Leben schöner. Also: ausprobieren.«

Roman Scandals lautet der Titel eines amerikanischen Revuefilms aus dem Jahr 1933, der das Lied Keep Young and Beautiful enthält. Die Komposition beschwört die Bedeutung äußerlicher Schönheit und ewiger Jugend. An niedlichen Mädchen finde man das Aussehen süß, nicht das Gehirn. Wer geliebt werden will, müsse schön sein, sagt der Text augenzwinkernd und gibt humorvolle Tipps, wie Schönheit herzustellen und zu konservieren sei.

Makellos inszenierte sich Sängerin Annie Lennox Anfang der 90er-Jahre im Video zu ihrer Interpretation des Liedes Keep Young and Beautiful. Im goldenen Abendkleid und mit großen Engelsflügeln dreht sich die Sängerin im Lichtkegel zur Musik, die im Dixieland-Jazz-Stil orchestriert ist und eine akustische Anmutung der 1930er-Jahre suggeriert. 1992 erschien mit Diva das erste Soloalbum von Annie Lennox, die bereits mit dem Musikduo Eurythmics Erfolge feierte. Keep Young and Beautiful blieb im Vergleich zu den Charthits des Albums Diva eine verborgene Perle, die man im Radio kaum zu hören bekam. Die 1954 geborene Künstlerin gilt als Verfechterin von Freiheits-, Frauen- und LGBTQ-Rechten und spielt mit Geschlechterrollen. Es beweist Sinn für Ironie, dass Lennox ausgerechnet dieses Lied aufgenommen hat, das allein der glänzenden Oberfläche huldigt.

Es hätte ein Hinweis sein können, dass er ihr immer nur CDs schenkte, die man Anfang der 90er einer bestimmten Szene zuordnete. Aber sie war zu verliebt, um ihn zu hinterfragen. Sie fand ihn faszinierend und auf wohltuende, unangestrengte Weise männlich. In einem Wort: Er war perfekt. Sie hatten gemeinsame Interessen, teilten jede freie Minute, einen Musikgeschmack und – was am wichtigsten war – einen gemeinsamen Humor. Vielleicht war es an ihr, der Sache die richtige Wendung zu geben. Also lud sie ihn zu einem besonderen Abend in ein Restaurant ein, das für normale Anlässe eigentlich zu teuer war, aber gerade gut genug, die erste große Liebe zu gestehen. Er wunderte sich über ihre exklusive Wahl des Ortes, und sie erklärte, sie wolle ihm etwas sagen, etwas Wichtiges. Sie trafen sich zur vereinbarten Zeit, der Kellner brachte den überteuerten Wein, sie atmete tief ein und sagte: »So, jetzt bin ich bereit.« Doch er fiel ihr ins Wort und sagte: »Erst ich: Ich bin schwul.« Sie war wie erstarrt und setzte rasch die lächelnde Maske auf. Er atmete schwer aus und sagte erleichtert und mit einem Strahlen: »Jetzt ist es raus. Puh. War gar nicht schwer. So, jetzt du.« Sie lächelte versteinert weiter und ihr Verstand ließ sie spontan sein, während es ihr das Herz zerriss, und sie hörte sich sagen: »Und ich habe beschlossen, meinen Job hinzuschmeißen, um doch noch zu studieren. Modedesign.« Woraufhin er sagte: »Na, dann lass uns feiern, dass wir alle zu uns selbst kommen. Und ich dachte schon, du würdest mir endlich von einer Freundin erzählen, in die du dich verliebt hast.« Sie hörte sich schrill auflachen und dann ihrer beider Gläser gegeneinanderklirren, und sie prostete feierlich dem Mann zu, den sie zwar nie heiraten würde, mit dem sie aber eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte, die sie zu ihrem späteren Ehemann nie aufbauen konnte. Weil das Restaurant so teuer war, bestellte sie nur Salat. Als Vorwand zog sie ihr Gewicht heran, das sie kontrollieren wolle. Er beschloss den Abend und die Feier des Tages mit einem kleinen Geschenk, das er vorsorglich mitgebracht hatte: Diva, Annie Lennox. Das alles liegt Jahrzehnte zurück. Ihr Freund begleitet sie durch dick und dünn und das Hospiz. Sein Mann hat nichts dagegen, wenn er sie ab und zu küsst und hält, wie man ein krankes Kind liebkost oder eben eine sterbenskranke beste Freundin. Er ist der Einzige, der sie halten darf.

»Gute Laune und positives Denken wird Sie in einer Situation wie meiner Kraft kosten. Aber Verzweiflung, Wut, Trauer, Neid kosten Sie nicht weniger. Stellen Sie sich die Frage: In was investieren Sie Ihre Kraft? Verzweiflung oder Heiterkeit? Kraft werden Sie immer brauchen – so oder so.

Ich erinnere mich an den Vorabend meiner mehrstündigen Operation, nach der ich mit einem künstlichen Darmausgang als anderer Mensch aufwachen sollte. Was bleibt von uns? Wie viel Körper steckt in unserer Seele? Bei mir ist manches bloß noch Erinnerung. Aber eine ist schillernder als die andere.

Und raten Sie, was meine Lieblingsfarbe ist? Bunt natürlich! Sie halten mich bestimmt für völlig oberflächlich. Wunderbar. Denn meine Tränen gehen Sie nichts an.«

Die Beerdigungsgesellschaft war riesig. Eine teure, schwarze Federboa mit echten Federn aus tierfreundlicher Haltung hatte sie sich für den Sarg gewünscht. Der Schmuck passte zu ihr und wirkte erstaunlich dezent. Alle ihre Schülerinnen und Schüler trugen auf Verabredung Jogginghose, als Symbol dafür, dass es keinen größeren Kontrollverlust gibt als den Tod. So viel hintergründiger Humor, gepaart mit entwaffnender Konsequenz, hätte ihr gefallen. Ihren Ex-Mann sah man während der Trauerfeier ab und zu den Kopf schütteln. Manche Gäste versuchten das Maß seiner Ergriffenheit und Trauer von seinem Gesicht abzulesen. Es gelang ihm, seinen Ausdruck zu beherrschen, und er blieb rätselhaft. Eine nach eigener Wertung gute Freundin des Paares konnte die Trennung nicht nachvollziehen und hegte Vermutungen: War er krankhaft geizig? Sie verschwenderisch? Oder hat er eine Affäre, wie manche schon immer spekulierten?

Ein bisschen Klatsch und Tratsch hätten ihrer toten Freundin bestimmt nicht schlecht gefallen. Nur über tödlich langweilige Menschen gibt es am Sarg nichts zu sagen. Gerede und Spekulationen seien insofern eine Auszeichnung für die Beerdigung einer wirklich interessanten Persönlichkeit. Und nichts anderes sei die Verstorbene gewesen, findet die Freundin und tupft sich die feuchten Augen mit einem Taschentuch. Gut, dass die Verstorbene nicht mit ansehen musste, dass es nur aus Papier war statt aus Stoff.

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