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Damals … Ihr Vater hatte eine fürchterliche Laune an diesem Abend. Das bemerkte Nathalie bereits, als er die Wohnung betrat und die Tür hinter sich zuknallte. Nathalie zuckte bei dem Geräusch zusammen, ihr Vater ging grußlos an ihr vorbei und ließ sich auf das Sofa fallen. „Gibt's vielleicht auch noch was zu essen?“, murrte er. Die Frage galt ihrer Mutter Emma. „Ja, hab mal etwas Geduld.“ Sie klang gereizt. Als sie kurz darauf am Esstisch saßen, stellte ihre Mutter ein paar Brotscheiben zusammen mit Wurst und Käse auf den Tisch. Außerdem holte sie eine große Flasche Wein aus dem Kühlschrank und schenkte sich das Glas randvoll. Keiner von ihnen sagte etwas. Nathalie hasste diese drückende Atmosphäre, die bei ihnen herrschte. Wieso konnte es nicht so einfach und unkompliziert wie bei ihren Freunden sein? Sie dachte an das gemeinsame Abendessen mit Lydias Familie. Sie hatten viel gelacht, geblödelt und sich angeregt unterhalten. Ihr Vater fischte eine Brotscheibe aus der Tüte. „Die ist total vergammelt“, rief er aufgebracht. „Da sind schon grüne und weiße Flecken dran.“ Er warf sie angewidert auf den Tisch. „Kann ich doch nichts dafür!“, lallte Emma wütend. „Hättest eben mal ein frisches gekauft!“ „Ich?“ Der Vater sah sie hasserfüllt an. „Ich arbeite den ganzen Tag und soll dann abends noch zum Bäcker fahren, weil du nicht in der Lage bist, eine einzige Aufgabe zu erledigen?“ „Was soll denn das bitte heißen?“ Die Nasenflügel ihrer Mutter bebten. „Ich kümmere mich um die Kleine!“ „Du kümmerst dich um Nathalie?“ Der Vater lachte höhnisch. „Das soll wohl ein Scherz sein. Sie hängt den ganzen Tag bei Freunden rum. Kriegt nicht mal was Gescheites zu essen. Und schau dich mal in der Wohnung um, der reinste Schweinestall!“ In diesem Punkt musste Nathalie ihrem Vater recht geben. Die Wohnung war ein heilloses Chaos und unter sich kümmern verstand Nathalie etwas Anderes. Einmal hatte sie Mama bei der Unterstützung ihrer Hausaufgaben gebeten, aber sie hatte lediglich einen kurzen Blick darauf geworfen und dann abgelehnt, mit der Begründung, das wisse sie auch nicht. Trotzdem fand Nathalie es nicht gut, wenn die beiden sich so stritten. „Ich hab hier die ganze Verantwortung!“, schrie die Mutter. „Für die Wohnung, für die Kleine. Aber das kapierst du ja nicht, weil du den ganzen Tag auf der Arbeit rumrennst und meinst, dich dann abends an den gedeckten Tisch setzen zu können!“ „Na wenigstens tue ich was. Du kriegst es nicht mal auf die Reihe zum Bäcker zu gehen!“ Ihr Vater brüllte jetzt mindestens ebenso laut. „Ach, leck mich doch!“ Emma nahm das halbvolle Weinglas und warf es nach ihm. Der Vater wich in letzter Sekunde aus, ehe es an der Wand zerschellte und die dunkelrote Flüssigkeit die Tapete hinunterrann. „Sag mal, spinnst du jetzt komplett?“ Ihr Vater erhob sich. „Du hast sie doch nicht mehr alle!“ „Du hast sie nicht mehr alle!“ Die Mutter sprang ebenfalls auf. „Wieso verpisst du dich nicht? Lass uns doch einfach in Ruhe!“ Nathalie hielt sich die Ohren zu. Sie konnte diese ständigen Streitereien nicht mehr ertragen. Weder ihren Vater noch ihre Mutter schien das zu kümmern. Sie brüllten sich immer lauter an, die Beleidigungen wurden immer wüster und gehässiger, bis schließlich ihre Mutter die Flasche nahm und ins Wohnzimmer stürmte. Ihr Vater rannte ihr hinterher und versuchte, ihr die Flasche zu entreißen, damit sie nicht noch mehr trank. Als die Mutter nicht losließ, schlug der Vater zu und Emma taumelte. Nathalie konnte es nicht mitansehen und flüchtete in ihr Zimmer. Sie knallte die Tür hinter sich zu, ging zum Bett und drückte die grüne Stoffschildkröte ganz fest an sich. Tränen kullerten über ihre Wange. „Tony, du musst keine Angst haben“, flüsterte sie dem kleinen Tier zu, das sie mit großen Augen ansah. Sie wiegte es sanft hin und her wie eine Mutter ihr Neugeborenes. „Hab keine Angst, Tony. Alles wird gut.“ Kurze Zeit später war es ruhig geworden. Nathalie wusste nicht, wie viel Zeit seitdem vergangen war, aber aus dem Wohnzimmer war nichts mehr zu hören. Nathalie hielt das kleine Stofftier immer noch fest an sich gedrückt und erzählte Tony von Christoph. Tony war ein aufmerksamer Zuhörer. Es beruhigte sie, ihn zu streicheln und mit ihm über Jungs zu lästern. Tony war immer für sie da, er war nie so kalt und abweisend wie ihre Eltern. Und er würde ihr niemals wehtun. Ein Blick auf den Wecker zeigte ihr, dass es Zeit war, schlafen zu gehen. Sie schlich auf Zehenspitzen ins Bad. Weder ihr Vater noch ihre Mutter schienen sie zu bemerken. Nachdem sie sich rasch die Zähne geputzt hatte, ging sie zurück auf ihr Zimmer. Sie zog sich die Decke über den Kopf, die eigentlich für Juni viel zu warm war, aber sie mochte das Kuschlige. Tony noch immer fest an ihre Brust gedrückt, knipste sie das Licht aus und schloss die Augen. Kurz darauf wurde die Tür leise geöffnet. „Nathalie?“ Es war ihr Vater. Nathalie drehte sich von ihm weg. „Hey, Kleines.“ Als sie nicht reagierte, fuhr er leise fort. „Papa und Mama streiten sich manchmal. Das ist halb so wild.“ Er setzte sich zu ihr auf die Decke. „Mama beruhigt sich schon wieder.“ Nathalie antwortete nicht. Auch wenn ihre Mutter Fehler machte, hatte Nathalie sie dennoch lieb und sorgte sich um sie. Sie hasste es, wenn Papa sie schlug, und sie hasste es noch mehr, wenn er anschließend zu ihr kam. „Ich möchte jetzt schlafen. Morgen ist Schule.“ Sie hoffte, dass sie ihn damit überzeugen konnte und er dann wieder ging. Dem schien allerdings nicht so. „Prinzessin, du bist doch viel zu aufgebracht, um zu schlafen. Ich weiß, wie wir das ändern können.“ Er krabbelte zu ihr unter die Decke und streichelte sanft ihr Haar. „Egal was mit Mama ist, ich werde dich immer liebhaben und für dich da sein.“ „Das weiß ich.“ Nathalie drückte die kleine Schildkröte noch fester an sich. Er griff Nathalies Schulter und drehte sie zu sich. „Liebst du deinen Vater etwa nicht?“ Er blickte sie scheinbar verletzt an. „Doch, natürlich.“ Sie versuchte zu lächeln. Sie wollte ihren Vater nicht enttäuschen, schließlich bedeutete er ihr alles. „Na, also. Dann sei eine artige Tochter. Denn wenn man jemanden liebt, muss man auch bereit sein, etwas für ihn zu tun. Selbst wenn es einem manchmal nicht so gefällt.“ Er schaute sie an wie ein Lehrer, der seiner Schülerin eine wichtige Aufgabe erklärte. „Verstehst du das?“ „Ja“, flüsterte sie unter Tränen. „Gut.“ Dann begann er, ihr den Pyjama auszuziehen und ihren Körper mit der Zunge zu liebkosen. Nathalie war ganz starr. Sie blickte zur Zimmerdecke, wo ein kleiner, blau leuchtender Sternenhimmel angebracht war. Der kleine Tony saß neben ihr und betrachtete sie. So lange die kleine Schildkröte bei ihr war, konnte ihr nichts passieren. Sie richtete ihren Blick wieder zur Decke und schaute auf den halbkreisförmigen Mond, der hell leuchtete. Er war weit weg. Hunderttausende von Kilometern. Genau wie sie. Sie war am Strand. Es war warm, die Wellen umspülten sanft ihre Füße. Der Sand unter ihr fühlte sich ganz weich an. Eine angenehme Brise wehte ihr entgegen. Sie nahm einen tiefen Atemzug und sog die salzige Meeresluft ein. Sie liebte diesen Geruch. Weiter draußen entdeckte sie Tony, der ihr zuwinkte. Er war noch ganz klein und der Ozean riesig. Aber er fühlte sich wohl, es machte ihm Spaß auf den Wellen zu reiten, unterzutauchen, um anschließend an die Oberfläche zu schnellen. Sie musste lachen. Es bereitete ihr Vergnügen, ihm dabei zu zusehen, er hatte so viel Spaß. Sie bemerkte nicht, wie ihr Vater begann, sie an Händen und Füßen zu fesseln. Sie spürte auch nicht den brutalen Schmerz, als ihr Vater in sie eindrang. All das war weit weg. Sie registrierte eine sanfte Berührung auf ihrer Schulter. Sie drehte sich um und sah Christoph im Sand, der sie breit angrinste. Sie rannte zu ihm und schlang die Arme um ihn. Sie mochte ihn. Christoph konnte gemein sein, aber in seiner Gegenwart fühlte sie sich sicher und geborgen. Er gab ihr Halt, und mit ihm konnte sie über alles reden. Sie zeigte ihm die Schildkröte, die nach wie vor auf den Wellen tanzte und er nahm ihre Hand. Er führte sie vorsichtig Schritt für Schritt ins Wasser, die Wellen verschlangen ihren Körper. Sie schwammen der Schildkröte hinterher, die begeistert vor ihnen auf und ab ruderte. Das Meer war tiefblau und über ihren Köpfen zog eine Möwe ihre Bahnen. Es war herrlich. Was für ein wundervoller Tag. Plötzlich war sie wieder in ihrem Zimmer. „Gute Nacht, Prinzessin“, säuselte ihr Vater und gab ihr einen Schmatzer auf die Stirn. „Gute Nacht, Paps.“ Er erhob sich. „Und vergiss nicht, das bleibt unser kleines Geheimnis.“ Er lächelte ihr verschwörerisch zu und verschwand aus dem Zimmer.

Ohnmacht

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