Читать книгу Ohnmacht - Stefan Zeh - Страница 17
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ОглавлениеMittwoch, 14. April 2021
„Danke für Ihr Kommen“, begrüßte Kern die neu gegründete Ermittlungsgruppe “Nachtschwärmer“. Er hatte Wullner gebeten, ihm weitere Beamte von der K1 zur Verfügung zu stellen, damit sie den Berg an Arbeit schnell bewältigen konnten. Neben Cem und Jürgen war noch eine jüngere Dame mit Lockenkopf anwesend, die sich als Kriminalkommissarin Lambach vorstellte. Außerdem zwei Beamte in Kerns Alter, Herr Vogel und Herr Rokenscheid, ebenfalls Kriminalkommissare. Der Kriminalrat selbst war nicht da. Kern stand ganz am Ende des langen Tisches und wartete, bis er die volle Aufmerksamkeit erhielt.
„Was hat die Verkehrsüberwachung am Berliner Platz ergeben?“
Jürgen räusperte sich. „Sieht mau aus. Bisher konnten wir lediglich eine Handvoll Fahrzeuge ausmachen, neben Kathrins, Ihrem und unseren Einsatzfahrzeugen. Ich habe die Kennzeichen überprüft, konnte aber keinerlei Verbindungen zu Palmer oder Kathrin entdecken. Alle Besitzer konnten einen plausiblen Grund nennen, warum sie nachts in der Gegend unterwegs waren und keiner schien mir in irgendeiner Weise verdächtig. Die Überprüfung der Angaben wird noch etwas Zeit in Anspruch nehmen, wir sollten allerdings nicht allzu viel erwarten.“
„Und ich habe das Alibi von Tüfken, dem Nachbarn von Palmer, überprüft.“ Die Gruppe wandte sich Cem zu. „Wie erwartet ist es wasserdicht.“
„In Ordnung“, seufzte Kern. Eine Ermittlungsgruppe ohne Kathrin fühlte sich seltsam an. Auch wenn Kern schon bei der Polizei arbeitete, als Kathrin noch in den Windeln lag, war es ungewohnt, dass sie nicht dabei war. Ohne sie fehlte einfach etwas.
„Also, wie Ihnen allen bekannt ist, geht es um einen äußerst brutalen Mordfall, und eine unserer Kolleginnen …“ Kern konnte den Satz nicht zu Ende führen, weil in diesem Moment die Tür zum Besprechungszimmer aufgerissen wurde. Ein junger Mann mit kurzen, nach hinten gegelten Haaren stürmte herein und begrüßte die anwesenden Ermittler lautstark.
Kern, keineswegs erfreut über die unangenehme Störung, beäugte den jungen Mann misstrauisch. „Und Sie sind?“
„Tschuldigung.“ Der Mann, der bereits Anstalten gemacht hatte, sich hinzusetzen, kam wieder nach vorne und reichte Kern die Hand. „Lars Gram, Kriminaloberkommissar.“
„Aha.“ Kern schüttelte seine Hand. „Wäre es Ihnen vielleicht zukünftig möglich, pünktlich zu unseren Meetings zu kommen?“
„Hatte noch ein Gespräch mi'm Big Boss“, erklärte Gram großspurig. „Müsst ihr halt das nächste Mal fünf Minuten später anfangen.“
„Wenn ich sage neun, dann kommen Sie um neun!“
Grams Grinsen verschwand augenblicklich.
„Nehmen Sie Platz.“ Er deutete auf den freien Stuhl neben Cem. „Was haben wir sonst noch?“
„Der Laptop des Opfers fehlt, laut Ex-Frau“, warf Cem ein. „Die Spurensicherung hat die Wohnung des Opfers mehrfach durchsucht, aber das Gerät war nicht auffindbar. Alles andere, Handy, Geldbeutel mit EC- und Kreditkarte, und sogar ein wenig Bargeld, das er unter der Matratze versteckt hat, war da.“
„Unter der Matratze, wie originell“, posaunte Gram.
Kern ignorierte seine Bemerkung und richtete seine volle Aufmerksamkeit Cem zu.
„Können wir den Laptop orten?“
„Schwierig. Wenn der Laptop sich mit einem Funkmast verbindet und in einer Funkzelle einloggt, können wir ihn auf die gleiche Weise orten wie ein Handy. Das setzt aber voraus, dass der Täter online geht. Bisher Fehlanzeige.“
„Eine andere Möglichkeit gibt’s nicht?“
Cem schüttelte den Kopf. „Manche Nutzer installieren eine Ortungssoftware auf dem Gerät, um im Falle eines Diebstahls das Gerät schnell lokalisieren zu können. Meistens findet sich dann auf dem Smartphone eine entsprechende App, mit der die Position genau ermittelt werden kann, und die wir nutzen könnten.“
„Aber?“ Kern ahnte, was kommen würde.
„Hab leider keine solche App auf Palmers Smartphone gefunden.“
Kern seufzte.
„Vielleicht sollten wir mal Frau Klein bitten, eine zu installieren, damit wir wissen, wo sie ihn aufbewahrt.“
Kern musste sich schwer beherrschen, um Gram nicht augenblicklich eine zu scheuern. „Wie bitte?“ Er funkelte Gram böse an.
„Naja, wir rennen hier rum, machen Ortungen, befragen Zeugen, das ganze Prozedere können wir uns sparen, wir wissen doch bereits alle, dass eure werte Kathrin das arme Schwein abgeknallt hat. Jetzt tut sie so, als wäre sie das wehrlose Opfer irgendeiner Intrige und ihr glaubt den Schwachsinn auch noch!“
Für einen Moment sagte niemand etwas. Cem und Jürgen sahen Gram fassungslos an. Die junge Frau Lambach blickte zu Boden.
„Raus hier!“ Kern sprach leise, doch seine Stimme bebte vor Zorn. Aufgeblasenes Arschloch. Keine Ahnung, aber die ganze Zeit blöde Sprüche klopfen, und jetzt noch Kathrin an den Pranger stellen.
„Was?“ Gram sah Kern überrascht an.
„Sie haben mich schon verstanden.“ Kern deutete auf die Tür. Er rang um Fassung.
„Ja, irgendjemand muss es doch mal sagen. Die Kuh baut Scheiße und wir anderen sollen dann Beweise finden, dass irgendein imaginärer Täter …“
Kern platzte der Kragen. Er lief mit entschlossenen Schritten um den Tisch, packte Gram am Revers und stieß ihn in Richtung Tür. „Raus hier!“, brüllte er.
Gram starrte ihn schockiert an. Kern öffnete die Tür, verpasste Gram einen weiteren Stoß und knallte die Tür so laut zu, dass die Glaswand bebte.
„So ein verdammtes Arschloch!“, rief Kern außer sich. Keiner der anderen wagte noch irgendetwas zu sagen. Kern atmete tief ein und aus. „Ok.“ Er versuchte sich zu beruhigen. Sein puterroter Kopf nahm langsam wieder einen normalen Farbton an.
„Wir haben eine Menge zu tun. Wir verteilen die Aufgaben, so dass …“
Die Tür zum Besprechungszimmer wurde erneut geöffnet. Kern drehte sich um und beobachtete, wie Wullner den Raum betrat.
„Herr Wullner.“ Er nickte dem Kriminalrat zu.
„Darf man fragen, warum der Kollege Gram vor dem Besprechungsraum sitzt und nicht drinnen?“
Kern atmete hörbar aus. „Weil er unverschämt ist und falsche Verdächtigungen ausspricht, für die es keine Beweise gibt. Deswegen war ich so frei, ihn vor die Tür zu setzen.“
Wullner sah alles andere als begeistert aus. Er trat näher an Kern heran, und versuchte möglichst leise auf ihn einzureden, damit die anderen Ermittler es nicht mitbekamen.
„Ich weiß, dass Herr Gram menschlich ziemlich schwierig sein kann“, sagte der Kriminalrat leise.
„Schwierig?“ Kern zog die Brauen hoch. „Der Kerl ist arrogant, überheblich und schafft es nicht einmal, pünktlich zu einer Teamsitzung zu erscheinen. Ich bin sicher, wir finden Ersatz.“
Der Kriminalrat seufzte und warf einen Blick in die Runde. „Sie wissen, wie schlecht wir personell im Moment besetzt sind. Gram mag ein Idiot sein, aber fachlich ist er sehr kompetent. Geben Sie ihm eine Chance.“
Kern kämpfte mit sich. Er wusste, dass es an Ermittlern fehlte, vor allem an fachlich fähigen, aber nach Grams Bemerkungen nochmal mit ihm zusammen zu arbeiten, widerstrebte ihm zutiefst. Andrerseits brauchte er jeden Mann. Der Kriminalrat beobachtete ihn aufmerksam. „Meinetwegen.“
„Gut.“ Der Kriminalrat wirkte beinahe erleichtert. Er öffnete die Tür und Lars Gram trat wieder ein. Er warf Kern einen vernichtenden Blick zu, ging aber ohne ein weiteres Wort zu seinem Platz und wartete mit verschränkten Armen ab.
Der Kriminalrat schloss hinter ihm die Tür und nahm sich einen freien Stuhl in der vordersten Reihe.
„Wir waren gerade dabei, die Aufgaben zu verteilen. Wir müssen sowohl die Hintergründe von Dr. Palmer durchleuchten, wie auch Kathrins frühere Fälle. Möglicherweise gibt es eine Verbindung, die wir nicht kennen.“ Kern legte eine kurze Pause ein.
„Frau Lambach, Sie fahren bitte in die Praxis und besorgen die Patientenakten von Dr. Palmer, vielleicht gibt es da jemanden, der einen Groll gegen ihn hatte. Sprechen Sie bitte auch mit seiner Sprechstundenhilfe, vielleicht ist der etwas aufgefallen.“
Die junge Frau nickte.
„Außerdem möchte ich, dass die Befragung der Nachbarn auf den ganzen Block ausgeweitet wird. Wir suchen eine Person, die der Beschreibung nach Jeans und Kapuzenshirt trug, circa eins siebzig groß ist, schlank und in der Tatnacht, unmittelbar nach dem Schuss, das Gebäude verlassen hat. Vielleicht hat jemand gesehen, auf welchem Weg er die Breitscheidstraße verlassen hat oder in sein Auto gestiegen ist. Herr Vogel, Herr Rokenscheid“, er wandte sich den beiden Herren zu, „das übernehmen Sie bitte.“
Vogel und Rokenscheid wirkten wenig begeistert, nickten aber zustimmend.
„Dann brauche ich jemanden, der mich bei der Aufarbeitung früherer Fälle unterstützt.“ Kern sah in die Runde und wusste bereits, wen er definitiv nicht auswählen würde. „Herr Matern, da Sie bei einigen unseren frühen Fällen dabei waren, helfen Sie mir bitte.“
„Na, klar.“ Matern klang motiviert.
„Herr Aktürk, Sie nehmen sich bitte nochmal das Handy von Palmer vor. Überprüfen Sie alle Kontakte, einschließlich SMS, Whatsapp und ähnliches. Schauen Sie sich auch die Bild- und Audiodateien an, insofern vorhanden.“
Cem signalisierte seine Zustimmung.
„So, und dann brauchen wir noch jemanden, der die Aussagen der Fahrzeughalter, die in der Tatnacht am Berliner Platz unterwegs waren, überprüft.“
Er wandte sich dem einzig verbliebenen Kommissar im Raum zu.
„Tolle Aufgabe“, murrte Gram.
Kern hatte nichts anderes erwartet, aber das geschah dem Kerl recht. Der musste erst mal lernen, dass es hier gewisse Regeln gab, die auch für ihn galten.
„Nachdem wir nun alle Aufgaben verteilt haben …“
„Moment mal, was ist mit der Hausdurchsuchung?“, fiel ihm der Kriminalrat ins Wort.
„Welche Hausdurchsuchung?“ Kern blickte ihn völlig perplex an.
„Wie Sie bereits festgestellt haben, ist der Laptop des Opfers verschwunden und eine Möglichkeit, ihn zu orten, gibt es nicht.“ Der Kriminalrat erhob sich. „Und da wir in diesem Fall eine Verdächtige haben, werden wir als Allererstes ihre Wohnung überprüfen und den verschwunden Laptop suchen!“
„Das ist nicht ihr Ernst!“ Kern blickte den Kriminalrat entgeistert an.
„Selbstverständlich!“ Es schien ihm nicht zu behagen, aber seine Anordnung war eindeutig.
„Der verschwundene Laptop kann unmöglich in Kathrins Wohnung liegen!“ Kern verlieh seiner Stimme Nachdruck. „Sie betrat den Tatort, wurde niedergeschlagen und als sie wieder aufwachte, stand ich direkt neben ihr. Wann und wie soll sie da nach Hause gefahren sein und den Laptop dort deponiert haben? Dann hätte sie ja anschließend wieder zum Tatort fahren müssen, sich auf den Boden legen und so tun, als wüsste sie von nichts!“
„Und sie müsste sich selbst niedergeschlagen haben“, ergänzte Cem.
Der Kriminalrat seufzte. „Mir gefällt das ebenso wenig wie Ihnen, aber Sie kennen das gängige Vorgehen. Trommeln Sie ein paar Leute zusammen und überprüfen Sie die Wohnung von Frau Klein. Ich besorge Ihnen den Beschluss, und falls bei der Durchsuchung nichts herauskommt, ist es ein belastendes Indiz weniger.“
„Da wird nichts rauskommen!“, presste Kern zähneknirschend hervor. „Mal abgesehen davon, dass Kathrin überhaupt kein Motiv besitzt.“
„Keines von dem wir wissen.“
Kern warf dem Kriminalrat einen eisigen Blick zu, den dieser geflissentlich ignorierte.
„Also, übernehmen Sie die Hausdurchsuchung?“
„Ich wühle ganz bestimmt nicht in den persönlichen Sachen meiner Kollegin herum!“
„Kein Problem!“ Gram sprang auf. „Ich mach das!“ In seinem dämlichen Grinsen erkannte Kern die Begeisterung.
„Sie machen gar nichts!“
Gram wirkte beinahe enttäuscht.
„Herr Matern, können Sie das übernehmen?“ Kern wandte sich ihm zu.
„Klar.“ Jürgen wirkte wenig erfreut. Kern hätte es ihm gerne erspart, aber alles war besser, als diesen Idioten in Kathrins Wohnung zu lassen. „Herr Vogel, Sie unterstützen ihn bitte. Frau Lambach, Sie helfen mir. Und Herr Gram, sie werden Frau Lambachs Part übernehmen und in die Praxis fahren! Verstanden?“ Er schaute Gram eindringlich an.
„Klar. Bin ich wenigstens die kack Überprüfung los!“
„Nein, das tun Sie vorher!“
Kern bemerkte, wie Gram versuchte, seine Wut im Zaum zu halten und genoss es beinahe.
„An die Arbeit!“