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Juni 1999


Sie hatte ihrem elften Geburtstag seit Wochen entgegengefiebert. Ihre Mutter hatte eine kleine Feier für sie vorbereitet, es gab Kuchen und sie durfte ihre Freunde einladen. Nach und nach trudelten sie ein. Ihr Vater ließ sich nicht blicken. Zum Glück. Sie war froh drum. Je weniger sie ihn sehen, oder besser gesagt, ertragen musste, desto besser.

„Nat, komm schon!“, hörte sie ihre Mutter draußen rufen. Eigentlich hieß sie Nathalie, aber ihre Mutter nannte sie immer nur Nat.

„Ja.“ Sie hatte vor Aufregung auf die Toilette gemusst und stürmte nun ins Wohnzimmer.

Das Zimmer war klein und schäbig. Von den Wänden löste sich die Tapete, der Lack der Anrichte blätterte ab, die Türen hingen schief, und es roch ein bisschen muffig. Auf dem Esstisch stand ein ganzer Erdbeerkuchen mit elf Kerzen. Christoph, ihr bester Freund aus der Schule, sowie zwei ihrer Freundinnen, Lydia und Maren, strahlten sie an. Nathalie ging zum Tisch und pustete alle elf Kerzen mit einem kräftigen Atemzug aus. Christoph, Lydia, Maren und ihre Mutter applaudierten.

„Herzlichen Glückwunsch, mein Schatz!“, rief ihre Mutter und umarmte sie.

„Danke.“ Nathalie rang sich ein Lächeln ab und ließ die Umarmung geschehen. Wie normal alles wirkt, dachte sie. Wie friedlich. Und dennoch hoffte sie, dass ihre Freunde nichts merkten. Auch wenn ihre Mutter ausnahmsweise nicht sturzbesoffen war, roch sie den Alkohol in ihrem Atem. Emma, ihre Mutter, war früher eine richtig hübsche Lady gewesen, mit ihren kastanienbraunen Augen und schulterlangen braunen Haaren. Auf alten Fotos, die Nathalie von ihrer Mutter kannte, wirkte sie glücklich und sorgenfrei. Aber in letzter Zeit begann man ihr anzusehen, dass sie trank. Die einst glatten Wangen waren eingefallen, unter ihren Augen hatten sich tiefe Ringe gebildet. Die Haare matt, ohne Schwung und Volumen. Ihre Mutter erinnerte Nathalie an Christophs Oma mit Haarausfall, nur dass Emma mit achtunddreißig Jahren definitiv noch keine alte Frau war.

„Hey, Zwerg, jetzt bist du auch endlich mal elf!“, zog Christoph sie auf. Nathalie war die Jüngste in der Klasse und mindestens einen Kopf kleiner als die anderen.

„Ich hab euch den Kuchen schon aufgeteilt“, sagte ihre Mutter. „Besteck und Teller sind in der Küche, bedient euch einfach.“

Das ließen sich ihre Freunde nicht zweimal sagen und Christoph begann, mit dem Kuchenheber das größte Stück auf seinen Teller zu schaufeln.

„Bleibst du nicht bei uns?“, fragte Nathalie überrascht, als ihre Mutter zur Tür ging.

„Tut mir leid, Schatz.“ Ihre Stimme klang erschöpft. „Ich muss mich etwas hinlegen. War ein harter Tag.“ Damit zog Emma die Tür hinter sich zu.

Nathalie verstand nicht, was an dem Tag hart gewesen sein sollte. Ihre Mutter arbeitete nicht, sondern lungerte meistens auf dem Sofa oder sonst wo herum. Nicht einmal den Kuchen hatte sie selbst gebacken, sondern beim Bäcker gekauft. Dennoch war es keine Seltenheit, dass ihre Mutter sich tagsüber schlafen legte und dann für Stunden nicht ansprechbar war.

Aber ihr sollte es recht sein, dann waren sie wenigstens ungestört. Sie war froh, dass der Geburtstag überhaupt bei ihnen hatte stattfinden dürfen. Normalerweise mochte ihre Mutter keinen Besuch und wenn, dann waren die Gäste nicht selten schockiert über den Zustand der Wohnung. Alles in allem fand Nathalie es ordentlich, aber oft lagen benutztes Geschirr und Besteck im Spülbecken, der Wäschekorb quoll über und es roch unangenehm. Bei ihren Freunden dagegen war immer alles aufgeräumt und gespült. Sie wünschte sich sehnsüchtig, bei ihr daheim wäre es genauso vorbildhaft.

Heute ging es. Heute hatte ihre Mutter sich die Mühe gemacht, ein wenig aufzuräumen und einen Kuchen zu besorgen. Immerhin.

Christoph beugte sich zu ihr und klaute ihr eine Erdbeere vom Teller.

„Hey, gib her, das ist meine!“ Sie griff empört danach, aber Christoph streckte kichernd seinen Arm in die Höhe.

„Nimm sie doch!“ Er hielt ihr die Erdbeere wieder vor die Nase. Nathalie griff danach, aber er zog seinen Arm rasch zurück. Nathalie stand auf, sprang auf Christoph, doch der warf sich die Beere in letzter Minute in den Mund.

„Du Idiot!“ Sie stemmte die Hände in die Hüfte. Wirklich sauer war sie nicht, Christoph machte nur Spaß.

Sie blödelten noch eine Weile herum. Nathalie fühlte sich wohl. Sie hätte ihre Freunde gerne häufiger gesehen, aber sie wusste, dass das nicht ging.

Zwei Stunden lang spielten sie auf dem leicht versifften Teppichboden im Wohnzimmer Memory. Plötzlich hörte sie, dass ihr Vater die Wohnung betrat. Nathalies Herz begann zu hämmern.

„Na, wo ist meine Prinzessin?“ Ihr Vater Thorsten besaß eine kräftige, laute Stimme und kam mit zügigen Schritten ins Wohnzimmer.

„Hier“, antwortete sie tonlos, den Blick auf den Boden gerichtet.

„Na, machst du sie schön fertig?“, polterte er und umarmte sie überschwänglich.

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und verzog die Mundwinkel, in dem Versuch, ein Lächeln zustande zu bringen. So wirklich gelingen wollte es ihr nicht. Sie hoffte inständig, ihr Vater ginge in sein Arbeitszimmer und ließ ihre Freundinnen und sie in Ruhe.

„Du bist dran!“ Maren blickte verwirrt von Nathalie zu ihrem Vater und zeigte dann auf Christoph. Dieser musterte Nathalie noch einen Moment, wandte sich dann aber den Karten zu.

Zu Nathalies Erleichterung drehte sich der Vater weg und ging in sein Arbeitszimmer, nicht ohne nochmal das Gesicht seiner Tochter zu tätscheln. Nathalie hasste diese Berührung, aber sie versuchte, sich nicht davon die Laune verderben zu lassen.


Kurz nach acht waren Christoph und ihre Freundinnen gegangen. Morgen war zwar schulfrei, aber die Eltern ihrer Freundinnen wollten nicht, dass sie so spät alleine unterwegs waren. Ihrer Mutter wäre es egal, stellte Nathalie traurig fest. Diese hatte, wie zu erwarten, den gesamten Tag verpennt.

Nathalie betrachtete sich im Spiegel. Ein Mädchen mit strohblonden Haaren, Sommersprossen und verschiedenfarbigen Augen blickte ihr entgegen. Ihr rechtes Auge war hellblau, das linke schimmerte in einem haselnussbraunen Ton und umschloss eine winzige, blaue Stelle unterhalb der Pupille. Manchmal kam ihr das Mädchen im Spiegel wie eine Fremde vor. Sie putzte sich die Zähne, wusch sich das Gesicht und stieg in ihr kuscheliges, weiches Bett mit der bunten Farm auf dem Bezug. Es zeigte einen Bauernhof mit Pferden, Kühen und Schafen, wo alles ruhig und friedlich wirkte. Nathalie wünschte sich auf den Bauernhof. Alles war besser als hier zu sein. Der späte Abend, wenn sie zu Bett ging, war die allerschlimmste Zeit des Tages. Aber heute hatte sie Geburtstag. Vielleicht ließ er sie wenigstens heute in Ruhe.

Sie knipste das Licht aus und verkroch sich unter ihrer Decke. Sie lauschte in die Dunkelheit. Ihr Vater schien draußen noch zugange zu sein, offensichtlich genehmigte er sich ein Bier. Sie hörte ihren eigenen Puls in den Ohren rauschen. Er würde nicht kommen. Heute würde er sie in Ruhe lassen.

Kurze Zeit später wurde die Tür zu ihrem Zimmer leise geöffnet. Es war mucksmäuschenstill, aber sie wusste, sie war nicht alleine. Sie drehte sich schnell zur Seite und machte leise Schnarchgeräusche, damit er glaubte, sie schlafe tief und fest. Vielleicht ging er dann wieder.

„Hallo Prinzessin!“, flüsterte ihr Vater und trat ans Bett. Nathalie hielt den Atem an.

Bitte, verschwinde wieder, betete sie. Bitte! Aber anstatt zu gehen, legte sich ihr Vater neben sie und kroch ebenfalls unter die Decke.

„Süße, ich weiß, dass du nicht schläfst.“ Er schlug einen schmeichelnden Ton an, der sie beruhigen sollte, aber stattdessen spürte sie die blanke Panik. Ihr Vater rückte ganz dicht an sie heran und begann, mit den Fingern an ihren Armen herabzufahren und anschließend ihre Hüfte zu berühren. Dann drückte er sich ganz dicht an sie. „Meine Prinzessin hat doch heute Geburtstag, da will ich ihr ein ganz besonderes Geschenk machen!“

Nathalie roch den penetranten Biergestank in seinem Atem, spürte seine Finger auf ihrer Haut und hätte sich am liebsten übergeben.

„Papa, bitte“, flehte sie, aber ihr Vater hielt ihr den Mund zu.

„Shh“, machte er liebevoll, dann packte er sie an den Armen und zwang sie, sich zu ihm zu drehen.

„Du weißt doch, ich liebe dich, mein Schatz.“ Er wälzte sich halb auf sie. Sein Gewicht drückte ihr fast die Luft ab. Dann griff er unter ihr Shirt und streifte es ihr ab. Nathalie hoffte nur, dass er so schnell wie möglich fertig war und wieder ging.

„Oh, du bist so eine Hübsche“, flüsterte er. „Und du hast wundervolle Augen.“ Einen Moment lang hielt er inne und betrachtete sie.

Nathalie traute sich kein Wort mehr zu sagen, sie lag einfach nur da und ließ es geschehen. Sie fragte sich, warum ihre Mutter nichts unternahm. Sie wollte das nicht. Sie hasste es. Aber ihre Mutter saß einfach tatenlos im Schlafzimmer und ignorierte, was nebenan geschah.

In diesem Moment riss ihr Vater ihre Jogginghose und ihren Slip nach unten. Währenddessen küsste er ihren Hals, ihre Brust und ihren Bauch. Wieso tat er ihr das Nacht für Nacht an, wenn er sie doch liebte?

„Papa, bitte“, bettelte sie mit tränenüberströmtem Gesicht. „Bitte, hör auf.“

Tatsächlich hörte er auf. „Ach Prinzessin, so schlimm war es doch gar nicht!“ Seine Stimme klang wie die eines liebevollen Vaters, der sein Kind beruhigt, weil es sich das Knie aufgeschrammt hat.

Sie drehte sich von ihm weg und vergrub das Gesicht unter der Decke, ängstlich, beschämt, aber auch erleichtert, dass er endlich fertig war. Es war das schlimmste Geburtstagsgeschenk, das sie je erhalten hatte. Aber für heute hatte sie es überlebt.

Ihr Vater lag noch immer neben ihr und machte keinerlei Anstalten, zu gehen. Er packte sie erneut und drehte sich zu ihr. Was wollte er denn noch?

„Süße, du weißt doch, du bist das Größte und Beste in meinem Leben.“

Nathalie wagte es nicht, etwas zu erwidern.

„Das weißt du doch, oder?“, beharrte er.

Da ihr Vater nicht locker ließ, nickte sie stumm und hoffte, dass er nun endlich verschwand.

„Gut“, flüsterte er ihr ins Ohr und strich ihr sanft die zerzausten Haare aus dem Gesicht. „Sehr gut.“

Dann riss er sich die Unterhose runter und sie spürte den qualvollsten Schmerz, den sie je erlebt hatte.

Ohnmacht

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