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Montag, 12. April 2021

Kriminaloberkommissarin Kathrin Klein verließ ihre Wohnung in der Heidehofstraße in Stuttgart-Ost und machte sich eilig auf den Weg ins Präsidium. Sie hatte gestern noch geraume Zeit bei ihrem Freund Jeremy verbracht und war erst gegen halb eins daheim angekommen. Eigentlich hatte sie gar nicht so lang bleiben wollen, aber es war ein toller Abend gewesen. Jeremy hatte für sie ein köstlich schmeckendes Kartoffelgratin zubereitet, dazu gab es Schweineschnitzel, worauf Kathrin allerdings verzichtete, da sie seit ihrem dreizehnten Lebensjahr Vegetarierin war. Es folgten ein spannender Actionfilm sowie tiefgründige Gespräche, und sie hatte sich nicht losreißen wollen und können, so dass es sehr spät geworden war. Müde fühlte sie sich jedoch kaum, da sie problemlos mit wenig Schlaf auskam und frühes Aufstehen gewöhnt war. Dennoch sehnte sie sich nach einem starken, schwarzen Kaffee.

Es war kühl an diesem Morgen. Kathrin ließ sich in den Sitz ihres weißen Peugeot gleiten und schaltete fröstelnd die Sitzheizung ein. Sie startete den Motor und gab Gas. Die gleichnamige Haltestelle Heidehofstraße hinter sich lassend, nahm sie schwungvoll die Kurve, vorbei am Eugensplatz, der einen tollen Blick auf den Stuttgarter Kessel bot, und fuhr in Richtung Pragsattel.


Kurz darauf erreichte sie das große weiße Präsidium in der Hahnemannstraße 1.

„Morgen“, brummte ihr Kollege Markus, als sie den Flur zu ihrem Büro betrat.

„Guten Morgen.“ Sie lächelte. Markus Kern war Kriminalhauptkommissar und ihr Vorgesetzter. Sie verstanden sich prima, waren seit Ende letzten Jahres sogar per Du, was Markus, der in dieser Hinsicht noch alte Schule war, einiges an Überwindung gekostet hatte. Er war mit seinen Anfang fünfzig bereits seit vielen Jahren, um nicht zu sagen Jahrzehnten, bei der Polizei. Er hatte kurzes, leicht ergrautes Haar mit Schnurrbart und eine schlanke Figur. Kathrin war neunundzwanzig und erst seit vier Jahren bei der Kripo. Trotzdem hielt Kern große Stücke auf sie, das wusste sie.

„Alles gut bei dir?“ Kern, offenbar gerade auf dem Weg zu seinem Büro, blieb stehen und betrachtete sie, vermutlich erstaunt, wie sie es schaffte, so fit und ausgeruht zu wirken, während er sich bekanntermaßen morgens aus dem Bett kämpfen musste. Kathrin ordnete ihn eher in die Kategorie Morgenmuffel ein.

„Alles super.“ Sie strahlte wohl zu auffällig, denn Kern grummelte:

„Lass mich raten, Jeremy?“

„Jup.“ Sie nickte.

Kern kannte ihren Freund. In einem ihrer ersten Fälle war Jeremy Lauter ein Zeuge gewesen und hatte ihnen bei einem Mordfall wichtige Informationen liefern können. Dabei waren sie sich nähergekommen und nun seit zwei Jahren ein Paar. Dennoch konnte sich Kathrin eine Zeit ohne Jeremy schon gar nicht mehr vorstellen.

„Irgendetwas Aktuelles?“, beschloss Kathrin das Thema zu wechseln.

„Kein neuer Fall, aber Herr Wullner will dich sprechen.“ Ohne eine weitere Erklärung verschwand Kern in seinem Büro.

Kathrins Herz machte einen Satz. Wullner war Kriminalrat und der direkte Vorgesetzte von Kern. Normalerweise, wenn es dringende Angelegenheiten zu besprechen gab, wandte er sich an Kern und nicht an sie. Sie beschloss, sich noch kurz einen Kaffee zu holen und dann zu schauen, was Wullner ihr mitteilen wollte. Sie steuerte die Teeküche am Ende des Gangs an.

„Morgen, Kathrin.“ Cem Aktürk, Kriminalkommissar und ein Techniknerd, wie Kathrin ihn gerne nannte, betrat die Küche.

„Morgen, Cem“, lächelte sie. „Zufällig noch Kaffee da?“

„Gerade erst frischen aufgesetzt. Extra für dich!“ Er grinste über beide Ohren.

„Du bist meine Rettung!“ Dankbar ging Kathrin zu der Kaffeemaschine, die einen verführerischen Duft verströmte, und goss sich eine große Tasse ein.

Cem musterte sie. „Sag mal, warst du beim Frisör?“

„Nö, ich trag sie nur anders.“ Kathrin hatte ihre schulterlangen, blonden Haaren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, da es für sie praktischer war.

„Steht dir ausgesprochen gut!“, grinste er.

„Danke, du Charmeur.“ Sie lächelte.

„Hallo ihr beiden“, begrüßte eine raue Stimme sie. Überrascht drehten sich Kathrin und Cem um.

„Hallo Jürgen“, rief sie. „Das ist ja ne Überraschung. Dachte, du bist noch zwei Wochen in Elternzeit.“

„War ursprünglich geplant“, erklärte Kriminalkommissar Jürgen Matern und schenkte sich ebenfalls eine Tasse ein. „Aber nachdem Ziegler für einige Wochen wegen einer Knieverletzung ausfällt, hat mich Kern gefragt, ob ich nicht etwas früher wieder einsteigen kann.“

„Oh. Von einer Knieverletzung wusste ich gar nichts.“ Kathrin sah Jürgen an. Er war klein und stämmig, etwas größer als Kathrin. Jürgen war erst Mitte dreißig, auch wenn er im Moment deutlich älter wirkte, was vermutlich der Kindererziehung und den damit verbunden schlaflosen Nächten geschuldet war.

„Ja, er hat sich gestern Morgen beim Training verletzt.“

„Der Arme.“ Kathrin nippte an ihrer Tasse. Der Kaffee war stark, ganz nach ihrem Geschmack. Sie spürte, wie nach ein paar Schlucken ihre Lebensgeister langsam zurückkehrten.

„Ist schon bekannt, wann er wiederkommt?“, fragte Cem.

Jürgen zuckte mit den Achseln. „Wird vermutlich einige Wochen in Anspruch nehmen.“

„Jetzt zeig mal ein Foto von der Kleinen!“ Kathrin war neugierig.

Jürgen stutzte einen Moment. „Hab keine Fotos auf dem Handy. Sind alle auf der Digicam. Ganz altmodisch.“ Er grinste entschuldigend.

„Schade.“ Kathrin war enttäuscht.

„Übrigens, Wullner will dich sehen!“

„Hab's mitbekommen, danke.“ Hatte der Kriminalrat eine Rundmail geschickt oder warum wusste das jeder? In diesem Moment summte Jürgens Handy. „Sorry.“ Er verließ, mit dem Handy am Ohr, die Küche.

„Biste wieder geblitzt worden?“, schmunzelte Cem.

„Ausgeschlossen. Hab eine App, die mir alle Radarfallen anzeigt.“ Sie reckte das Kinn.

„Bringt nix, wenn du nicht abbremst.“ Er warf ihr ein freches Grinsen zu.

„Warten wir‘s ab!“ Sie beendete den kurzen Schlagabtausch und verließ die kleine Teeküche. Insgeheim war sie etwas besorgt. Sie hoffte, dass das Gespräch mit Wullner nichts mit ihrem temperamentvollen Fahrstil zu tun hatte, weswegen sie sich schon den ein oder anderen Bußgeldbescheid eingehandelt hatte, sowie eine Standpauke von Markus. Aber eigentlich war es nicht Sache des Kriminalrats, sie deswegen zu tadeln, und in diesem Falle hätte Markus sie bestimmt vorgewarnt.

Sie verwarf den Gedanken an einen Bußgeldbescheid und klopfte zaghaft an die Bürotür des Kriminalrats auf der gegenüberliegenden Seite der Teeküche.

„Kommen Sie rein!“, ertönte eine tiefe Männerstimme.

Sie betrat das Büro, welches um einiges größer war als das ihres Vorgesetzten.

In der Mitte des Raumes thronte ein großer, dunkler Schreibtisch, hinter dem Wullner saß und sie durch die Brille hindurch musterte.

„Bitte, nehmen Sie Platz.“ Er wies auf den freien Lederstuhl ihm gegenüber.

„Danke.“ Kathrin schloss die Tür und setzte sich. Sie war gespannt auf das, was kommen würde, aber auch ein wenig beunruhigt.

„Einen kleinen Moment noch.“ Wullner tippte umständlich in seinen PC.

Der Kriminalrat war Ende fünfzig, hatte eine Halbglatze und einen merklichen Bauchansatz, der verriet, dass er nicht mehr an Außeneinsätzen beteiligt war. Sein Blick war stets ernst und streng. Widerrede oder gar Unterbrechungen konnte er überhaupt nicht leiden, Sinn für Humor hatte er – Kathrins Meinung nach – ebenfalls keinen, weshalb man in seiner Anwesenheit besser keine Scherze machte.

Kathrin wandte sich ab und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Auf der linken Wandseite dominierte eine große Vitrine mit Fachlektüre, an der Wand auf der gegenüberliegenden Seite hingen hässliche, abstrakte Bilder sowie die vielen Auszeichnungen aus Wullners Karriere. Rechts davor stand ein großer Benjamini neben den Fenstern, die einen unverstellten Blick auf die vertrauten Weinberge boten. Sie fragte sich, ob sie auch eines Tages hier sitzen würde.

„So, jetzt.“ Er schob die Tastatur beiseite und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Kathrin.

Kathrin legte die Unterarme, mit den Händen ineinander gekreuzt, auf den Schreibtisch und blickte Wullner erwartungsvoll an.

„Es geht um Folgendes.“ Er legte eine Pause ein und Kathrin merkte, wie sie für einen Moment die Luft anhielt.

„Ich habe einen Anruf von den Kollegen in Frankfurt am Main erhalten. Der dortige Kriminalhauptkommissar, Herr Hanau, geht Ende des Jahres in Rente. Sie suchen einen Nachfolger, der ab sofort die Teamleitung übernimmt.“ Wullner legte abermals eine Pause ein und sah Kathrin an. Diese reagierte jedoch nicht, sondern wartete, was folgte.

„Und da Sie sich auf eine ähnliche Stelle in Stuttgart beworben haben, aber abgelehnt wurden, habe ich die Unterlagen weitergereicht. Sie gaben ja ihr Einverständnis, dass Ihre Bewerbung auch für andere, infrage kommende Stellen mit berücksichtigt wird.“ Er blickte sie durch die Brille hindurch an.

„Ja“, bestätigte Kathrin. Sie war verwirrt. „Ich soll also die Teamleitung bei der K1 in Frankfurt übernehmen?“ Sie schaute Wullner überrascht an. „Haben die dort keine anderen Kriminaloberkommissare?“ Ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen. Sie wollte nicht weg.

„Kriminaloberkommissare haben sie“, antwortete Wullner langsam. „Sie suchen eine Kriminalhauptkommissarin und wenn Sie die Stelle antreten, sind Sie eine.“

Kathrins Herz machte einen Satz. Jegliche Skepsis war verflogen. Eines Tages die obersten Stufen der Karriereleiter zu erklimmen, war ihr großer Traum.

„Wow.“ Sie blickte zur Seite. „Das hört sich verdammt gut an.“

„Dachte ich mir.“ Wullner nickte ihr aufmunternd zu.

„Weiß Kern es schon?“

„Nein, ich wollte zuerst mit Ihnen sprechen.“

Kathrin nickte und fragte sich, wie Kern wohl reagieren würde, wenn sie ihm die neue Nachricht übermittelte.

„Ich würde gerne eine Nacht drüber schlafen, wenn das ok ist?“ Sie blickte Wullner an.

„Sicher. Sie haben noch Zeit. Geben Sie mir bis Ende nächster Woche Bescheid. Bis dahin können Sie es sich überlegen.“

Wullner erhob sich und Kathrin stand ebenfalls auf.

„Ich weiß, dass das keine einfache Entscheidung ist“, erklärte Wullner, während er sie zur Tür führte. „Sie haben sich hier gut eingelebt, kommen gut mit Kern und dem Rest des Teams aus, aber leider können wir Ihnen hier im Moment keine solche Stelle anbieten. Deswegen nutzen Sie die Chance! Sie sind ehrgeizig und fleißig und ich konnte Sie, auf Anfrage der Kollegen, nur wärmstens empfehlen.“

„Danke, das bedeutet mir viel.“ Kathrin lächelte, was Wullner wie üblich nicht erwiderte. Er hielt ihr die Tür auf. „Schlafen Sie eine Nacht drüber, sprechen Sie mit Ihrem Freund oder wem auch immer, und geben mir dann Bescheid.“

„Mach ich, danke.“

Wullner schloss die Tür und Kathrin verharrte für einen Moment auf der Stelle. Sie konnte es kaum fassen. Sie bekam die einmalige Gelegenheit, mit neunundzwanzig Jahren Kriminalhauptkommissarin zu werden! Viel schneller als erwartet. Aber leider nicht hier. Nicht bei ihrem Team und nicht in Stuttgart.

Mit gemischten Gefühlen kehrte sie in ihr Büro zurück, wo Cem sie bereits gespannt erwartete.

„Und?“, fragte er, kaum dass sie das Büro betreten hatte.

„Wurdest du degradiert?“

„Ganz im Gegenteil.“ Sie blickte ihn an. „Mir wurde eine Beförderung in Aussicht gestellt.“

„Glückwunsch!“, rief er. „Und warum machst du dann so ein Gesicht?“

„Weil ich dafür nach Frankfurt ziehen müsste“, seufzte sie wehmütig.

„Moment mal, von welcher Art von Beförderung sprechen wir?“

„Mir wurde eine Stelle als Kriminalhauptkommissarin in Frankfurt angeboten!“

Cem sah sie mit großen Augen an. „Kathrin, das ist fantastisch!“ Er war begeistert. „Das wolltest du doch immer.“ Er trat zu ihr an den Tisch. „Dein großer Traum!“

„Ja, stimmt schon“, antwortete sie mit einem Anflug von Stolz. „Aber ich wollte, beziehungsweise ich möchte, hier Kriminalhauptkommissarin werden. In Stuttgart. Mit Markus, mit euch. Mir gefällt es hier, ich möchte nicht wegziehen.“

„Verstehe.“ Cem nickte. „Aber es ist deine Chance. Ich würde sie nutzen!“ Damit wiederholte er genau Wullners Worte. „Weiß Kern schon davon?“

„Nein.“ Kathrin schüttelte den Kopf. „Kannst du mir einen Gefallen tun?“ Sie schaute Cem an.

„Klar. Was denn?“

„Sag Markus vorerst nichts.“

„Willst du dich einfach davonstehlen?“ Cem machte ein empörtes Gesicht.

„Natürlich nicht. Aber ich muss erst mal in mich gehen, mit Jeremy sprechen und mir darüber klar werden, was ich will. Vorher macht das keinen Sinn, sonst gibt’s viel Wirbel, am Ende vielleicht für nichts.“

„Ok.“ Cem nickte. „Ich schweige“, und tat als würde er mit dem Finger einen Reißverschluss am Mund zumachen.

Kathrin musste lächeln. „Danke. Ich werd‘s ihm auf jeden Fall noch sagen.“

„Was wirst du mir auf jeden Fall noch sagen?“ Kern betrat das Büro und blickte Kathrin erwartungsvoll an.


Selten hatte sich Kathrin so auf ihr Bett gefreut. Sie ließ sich auf die flauschige Matratze fallen, zog die Decke an sich und knipste das Licht aus. Wie versprochen hatte Cem nichts verraten, und auf Markus Frage war sie mit vermeintlichen Belanglosigkeiten ausgewichen. Obwohl Kern klar war, dass man nicht wegen Belanglosigkeiten zu Wullner zitiert wurde, beließ er es dabei, und Kathrin war dankbar dafür. Sie wollte unbedingt Kriminalhauptkommissarin werden. Aber dafür nach Frankfurt ziehen? Das würde nicht nur bedeuten, sich in ein neues Team eingewöhnen zu müssen, sondern auch Jeremy zurückzulassen. Insgeheim hoffte sie, er würde mitkommen, aber ob er für sie umzog, war fraglich. Zumal sie dort erst mal eine Wohnung finden mussten. Von Zusammenziehen war bisher noch keine Rede gewesen. Eigentlich wollte sie Jeremy die Neuigkeit direkt nach der Arbeit mitteilen, beschloss dann aber, es auf den nächsten Tag zu verschieben. Heute wollte sie einfach nur schlafen.

Das Klingeln ihres Handys riss sie aus dem Tiefschlaf.



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