Читать книгу Die POPkörner (1). Ein Stern für Lou - Stefanie Taschinski - Страница 8

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2. Song


»Herrjemine, wir sind viel zu früh!«, sagte Frau Blum und pustete sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. »Das wird Vanessa überhaupt nicht gefallen.«

Herr Blum warf seiner Frau einen belustigten Blick zu. »Vielleicht hätten wir doch an der letzten Autobahnraststätte warten sollen, bis es fünf Uhr ist«, frotzelte er.

»Nein!«, lachte Frau Blum. »Aber es wird ein Schock für sie sein.«

Lou liebte das Lachen ihrer Mutter und beugte sich nach vorne zwischen ihre Eltern. »Im schlimmsten Fall kannst du sie ja medizinisch versorgen«, schlug Lou vor. Schließlich war ihre Mutter Ärztin.

In diesem Moment meldete sich Anton zu Wort. »Freut sich Tante Vessa nicht?«, fragte er ängstlich.

Lou sah zu ihm. Anton hatte genauso tiefblaue Augen wie ihr Vater. Nur mit einem ganz leichten Silberblick und seine runde Nase war übersät mit Sommersprossen.

»Aber logo freut sie sich«, versicherte Lou.

Anton presste seinen Strickkäfer, Kirk, an die Brust. Das tat er immer, wenn er unsicher war oder etwas nicht verstand. Antons einundzwanzigstes Chromosom war etwas anders gebaut als das von Lou – in der Medizinersprache hieß das Downsyndrom – und Ironie verstand er nicht.

»Alle freuen sich auf uns: Tante Vanessa, Onkel Oliver, Grandmère, Motte, Till und Ole. Alle! Alle! Alle!«, sagte Lou und schob die Wagentür auf. Behände sprang sie aus dem VW-Bus und reckte ihre Arme und Beine in alle vier Himmelsrichtungen. Von dem langen Flug und der Autofahrt waren sie ganz steif. Vor genau zwei Tagen hatten sie und ihr Bruder noch auf dem Holzsteg vor ihrer kanadischen Blockhütte gesessen, die nackten Füße ins kalte Wasser des Pazifiks gehalten und den Robben zugeschaut, die sich auf dem Felsen gegenüber sonnten. Und nun ragte die Jacobi-Villa imposant vor ihr auf. Die Fassade war in einem eleganten Hellgrau gestrichen und in allen Fenstern hingen die gleichen gestreiften Vorhänge. Lou ging die letzten Meter auf das schmiedeeiserne Tor zu.

»Lusi, warte!«, ertönte hinter ihr die Stimme ihres Bruders. »Kirk und ich kommen mit!« Anton sprang aus dem Bus.

Lou sah zur Villa hinauf und blinzelte. War da nicht eben ein Gesicht gewesen, hinter dem vorletzten Fenster im ersten Stock?

Sie rieb sich die Augen. Das Fenster war leer. Na ja, sie war ja auch total übermüdet vom Jetlag. Vermutlich sah sie schon Gespenster.

Anton schob mit Kirk im Arm die linke Hälfte des Tors auf. Lou bemerkte, wie er dabei die Beine zusammenklemmte. »Musst du mal?«, fragte sie besorgt.

»Nur Pipi.«

Da öffnete Lou schnell die rechte Seite des Tors und nahm Anton an die Hand. »Komm«, sagte sie und zog ihn mit in Richtung der großen Rhododendronbüsche, die die Auffahrt der Villa säumten. Bis sie ins Haus kamen, war es bestimmt zu spät. Und Lou wollte unter keinen Umständen, dass Tante Vanessa Anton gleich am ersten Tag mit vollgepinkelter Hose sah. Solche Höhepunkte wollte sie sich lieber für später aufheben.

Während Lou und Anton im schattigen Grün abtauchten, fuhr Herr Blum den VW-Bus langsam die kiesbedeckte Auffahrt zum Kutscherhaus hoch.

Lou spähte durch die ledrigen Blätter zur Villa hinüber. Gerade ging hinten die Terrassentür auf und Onkel Oliver kam auf die Veranda. »Hallo, Moni! Hallo, Stefan!«, rief er und lief auf Lous Eltern zu.

Lou drehte sich wieder zu ihrem Bruder. »Fertig?«

»Jahaa«, sagte Anton und zog seine Hose ein Stückchen höher. Lou seufzte erleichtert. War alles noch mal gut gegangen. Nur ein winziger Spritzer war vorne auf Antons Turnschuhen zu sehen. Lou wartete, bis ihre Mutter und ihr Onkel sich in die Arme fielen, dann schlüpfte sie so unauffällig wie möglich mit Anton aus dem Rhododendron.

»Hallo, Onkel Oliver«, sagte Lou, als sie neben ihm standen.

Ihr Onkel drehte sich um. Er war ein ganzes Stück kleiner als Herr Blum, hatte schmale Schultern und sein Kopf war bis auf einen spärlichen Haarkranz kahl. Aber seine braunen Augen strahlten die Kinder freundlich an. »Louise! Anton! Da seid ihr ja! Ich habe mich schon gefragt, ob eure Eltern euch auf dieser kleinen Insel vor Vancouver vergessen haben«, sagte er und zog die beiden an sich.

»Ne, leider nicht«, grinste Lou. »Wir…«

Ein lauter Nieser unterbrach sie. »Hapüüüh!«

Lou drehte sich zur Villa. Oben auf der Terrasse stand Tante Vanessa und tupfte sich mit einem Taschentuch die Nase. Ihre glatten schwarzen Haare rollten sich über den Schultern in einem vollendeten Schwung nach innen. Sie trug ein edles bordeauxfarbenes Kostüm und eine hellgraue Bluse. Sie sieht aus wie eine Schaufensterpuppe, schoss es Lou durch den Kopf.

Links und rechts von Tante Vanessa standen die frisch gestriegelten Zwillinge: Till und Ole.

Lou sah sich um. Wo waren Motte und Grandmère?

Tante Vanessa schritt die Stufen von der Veranda hinunter.

»Ooh, ihr seid schon da. Willkommen, willkommen!« Doch statt einer echten Umarmung verteilte sie nur gehauchte Luftküsschen.

Die Zwillinge machten eine steife Verbeugung und sagten »Guten Tag«.

»Hey, Till! Hey, Ole!« Lou ging auf ihre Tante zu. »Wo ist denn Motte?«

Aber gerade da hatte ihre Tante den Fleck auf Antons Schuh entdeckt und musterte ihren Neffen von oben bis unten. Ehe sie noch etwas sagen konnte, stand schon Herr Blum neben seinem Sohn und legte den Arm um seine Schulter.

»Guten Tag, Anton«, sagte Tante Vanessa und nur ihr gespitzter Mund verriet, dass ihr noch etwas ganz anderes auf den Lippen lag.

»Hallo, Tante Vessa«, murmelte Anton eingeschüchtert.

Onkel Oliver räusperte sich und sah zu seinen Söhnen. »Wollt ihr Lou und Anton nicht mal unsere Meerschweinchen zeigen?« Er blickte zu Anton. »Wir haben nämlich drei!«

Lou bemerkte, wie ihre Tante angewidert das Gesicht verzog.

»Echte Meerscheinchen?«, fragte Anton begeistert.

Die Zwillinge stießen sich in die Rippen.

»Meerscheinchen…«, äffte der im dunkelblauen Poloshirt Anton nach. Der andere lachte mit.

Lou warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu. Aber Herr Blum lächelte seiner Tochter beruhigend zu.

»Dann sollte aber auf jeden Fall ein Erwachsener mitgehen«, wandte Tante Vanessa sich an ihren Mann und sah vielsagend zu Anton. »Ich meine…«

»Ach, das schaffen die Kinder schon allein«, winkte Frau Blum unbekümmert ab.

»Keine Sorge, Tante Vessa, Kirk kommt doch mit«, erklärte Anton ernst und hielt ihr den Strickkäfer hin.

»Na, dann mal ab die Post!«, sagte Onkel Oliver schnell, bevor seine Frau weitere Einwände erheben konnte.

Die Jungs rannten los. Nur Lou blieb stehen.

»Willst du nicht mit?«, fragte Herr Blum überrascht.

»Doch…«, sagte Lou. Sie blickte zur Villa hoch. »Aber wo ist Motte? Sie ist doch da, oder?«

Onkel Oliver wollte gerade antworten, da unterbrach ihn Tante Vanessa. »Selbstverständlich ist sie da. Karlotta hat nur etwas für die Schule vorzubereiten. Aber spätestens zum Abendessen werdet ihr euch sehen.«

»Motte macht was für die Schule?«, fragte Lou erstaunt. »Ich dachte, es sind noch Ferien?«

Tante Vanessa lächelte nachsichtig. »In der Tat, aber Karlotta möchte selbstverständlich bestens auf den Unterricht vorbereitet sein.«

»Aah!«, brachte Lou heraus. Ehe sie noch weitere Fragen stellen konnte, klopfte Herr Blum beherzt auf die Kofferraumklappe des Busses. »Zeit zum Auspacken!«

Onkel Oliver atmete aus. »Ich helfe euch.«

Tante Vanessa wandte sich zum Gehen. »Also ich muss mich noch um unser Menü kümmern«, verkündete sie. »Ihr seid ja wirklich sehr früh gekommen…«

»Einen Moment noch, Vanessa. Ist die Wohnung denn schon offen?«, fragte Frau Blum.

Tante Vanessa hielt inne. »Oh, keine Ahnung. Ich habe den Schlüssel jedenfalls nicht«, sagte sie und eilte in Richtung Villa.

»Ich schau mal nach«, bot Lou an und rannte die Metalltreppe hoch, die außen an der Seite des Kutscherhauses in den ersten Stock führte. Neben der Haustür standen eine hübsche Holzbank und auf dem Fensterbrett Blumentöpfe mit blauen und gelben Krokussen. Lou rüttelte an der Tür. »Ist abgeschlossen, Ma!«

»Sieh mal unter der Fußmatte nach. Vielleicht hat Grandmère den Schlüssel dort versteckt.«

Lou hob die Matte an, aber darunter lag auch nichts.

»Fehlanzeige.«

Genau in diesem Augenblick fuhr ein kleines dunkelblaues Auto mit offenem Verdeck die Auffahrt hoch.

»Grandmère!«, rief Lou und flitzte die Treppe wieder herunter. Ihre Großmutter stieg aus dem Auto. Der Fahrtwind hatte ihr kräftiges silbernes Haar durcheinandergewirbelt und ihre Wangen waren leicht gerötet. Ihre Augen strahlten Klugheit aus und ihr lächelnder Mund verriet Wärme und Humor.

»Mon Dieu, bin ich etwa zu spät?«, fragte sie und schritt auf ihre Familie zu. In dem Knopfloch ihres jadegrünen Blazers steckte ein winziges Sträußchen Schneeglöckchen und unter ihrer weiten Hose schimmerte ein Paar weißer Turnschuhe. Lou flog in ihre Arme. »Du kommst genau richtig!«

»Ma petite fille«, seufzte Grandmère und drückte Lou zwei Küsse auf die Wangen. »Lass dich ansehen.«

Bewundernd wanderte ihr Blick von Lous leuchtend gelbem Kapuzenpulli über die ultramarinblaue Pumphose bis hin zu ihren weichen Wildlederstiefeln. »Meine Große! Magnifique! Genauso hübsch wie deine Mutter!«

Nachdem Grandmère auch ihre Tochter, Frau Blum, und ihren Schwiegersohn, Herrn Blum, fest in die Arme geschlossen hatte, sah sie sich erstaunt um. »Und wo ist mein Lieblingsenkelsohn? Wo ist Anton?«

»Hinten im Garten«, erklärte Frau Blum. »Ole und Till zeigen ihm die Meerschweinchen.«

»Ah, bon«, nickte Grandmère. »Natürlich. Die Tiere machen uns allen sehr viel Freude.«

»Oh ja«, prustete Lou. Insbesondere Tante Vanessa… Aber das sagte sie lieber nicht.

»Wir wollten eigentlich gerade mit dem Auspacken beginnen«, meldete Onkel Oliver sich zu Wort.

»Eine ausgezeichnete Idee!«, stimmte Grandmère zu.

»Ja, aber die Wohnungstür ist abgeschlossen und wir haben leider keinen Schlüssel!«, erzählte Frau Blum weiter.

Grandmère schlug die Hände vor den Mund, klappte ihre große violette Handtasche auf und begann, darin zu suchen. »C’est un bordel, ça!« Sie schob ihren Arm immer tiefer und tiefer in die Tasche. »Diese Tasche frisst einfach alles auf!«

»Wir müssten irgendwo noch einen Ersatzschlüssel haben«, überlegte Onkel Oliver.

Aber da zog Grandmère einen silbernen Schlüssel hervor und drückte ihn Lou in die Hand. Und während Lou und Grandmère lachend die Treppe zur Wohnung hinaufstiegen, saß in der Villa hinter dem vorletzten Fenster im ersten Stock ein anderes Mädchen und knabberte wütend ihre Fingernägel ab. Sie musste handeln – und zwar schnell!

Die POPkörner (1). Ein Stern für Lou

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