Читать книгу Henkersfest - Stefanie Wider-Groth - Страница 10

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Das Taxi hielt vor einer jener schönen, alten Villen, deren Errichtung sich auch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nur sehr vermögende Leute hatten leisten können. Bernds Vorfahren väterlicherseits mussten solche Leute gewesen sein. Die Mutter dagegen entstammte einfacheren Verhältnissen, hatte den eigenen Vater durch den Krieg verloren und so mit ihrer Tochter wenigstens das Aufwachsen ohne den männlichen Elternteil gemeinsam. Damit aber, so Emmys Auffassung, endeten auch schon die Gemeinsamkeiten. Im Gegensatz zu ihr war die Mutter, dank der gemachten, sogenannten „guten Partie“, niemals gezwungen gewesen, sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen und mutmaßlich immer noch der Ansicht, dass es genügen müsse, wenn eine Frau für Mann und Kinder ein gemütliches Zuhause schaffte. Dem Weltbürger Hubert Steisshofer und dessen „Herumzigeunern“ hatte sie entsprechend skeptisch gegenübergestanden, für Emmys eigenen Drang zum Reisen nur begrenztes Verständnis aufgebracht. Seit Huberts Tod vertrat sie den Standpunkt des „Ich-hab’s-ja-gleich-gewusst“, eine Auffassung, die für Emmy wenig hilfreich war und nicht dazu beigetragen hatte, die Entfremdung zwischen den beiden Frauen zu verringern. Besucht hatte sie das Haus in der Neuen Weinsteige ohnehin schon lange nicht mehr, aber so waren auch die Anrufe immer seltener geworden. Emmy entlohnte den Taxifahrer, schulterte ihren Rucksack, holte tief Luft und ging entschlossen auf die Villa zu. Die Haustür samt Klingel war offenbar erneuert worden, ebenso das dazugehörige Schild, wo nun über dem Familiennamen merkwürdigerweise das Wort „Vogelgarten“ stand. Darunter einige weitere Namen, die Emmy gar nichts sagten. Sie drückte einmal kurz auf den Klingelknopf, dann, nachdem nichts geschah, ein zweites Mal noch etwas länger. Im oberen Stockwerk wurde ein Fenster geöffnet, das weißhaarige Haupt einer alten Dame, die ohne Zweifel nicht Lisbeth Schlaicher war, erschien.

„Zu wem wollen Sie?“

„Zu meiner Mutter“, entgegnete Emmy, den Kopf in den Nacken gelegt, während sie versuchte, sich ihr Erstaunen nicht anmerken zu lassen.

„Ich kenne Sie nicht. Wer ist Ihre Mutter?“

„Frau Schlaicher.“

„Ach, Gott“, sagte die alte Dame ratlos. „Was machen wir denn da?“

„Kann sie nicht kommen und mir öffnen?“ Emmy nahm an, dass es sich bei der zum Haupt gehörenden Person um eine Freundin der Mutter handeln musste.

„Nein“, verneinte die. „Sie ist doch krank. Ich selbst bin noch gar nicht angezogen, ich kann so nicht ins Erdgeschoss. Und Frau Finkelstein kommt erst in einer Stunde.“

Eine Information, mit der Emmy nichts anzufangen wusste.

„Was ist mit meinem Bruder?“, wollte sie deshalb, ohne weiter nachzudenken, wissen. „Ist er daheim?“

„Ihr Bruder?“, wiederholte die alte Dame fragend.

„Bernd.“

„Im Haus ist alles ruhig.“

Es war dies keine Antwort, die Emmy erwartet hatte, sie schloss daraus, dass Bernd entweder abwesend oder noch im Bett sein musste. Beides änderte nichts daran, dass die Haustür geschlossen blieb.

„Warten Sie“, rief die unbekannte alte Dame im selben Augenblick. „Ich habe eine Idee. Es kann aber ein Weilchen dauern.“

***

Die Stimmung war vielleicht ein wenig anders, die Musik etwas leiser, das Henkersfest selbst aber am Samstag schon ebenso gut besucht wie am Vorabend. Emmerich widerstand der Versuchung, sich mit einem frisch gezapften Bier auf einem sonnigen Plätzchen niederzulassen, nur mit Mühe. Stattdessen begann er, sich an den Getränkeständen zu erkundigen, ob es irgendwo eine Sammelstelle für verlorene oder herrenlose Gegenstände gäbe. Er erntete einiges Achselzucken, bevor ihn eine junge Frau ein paar Häuser weiter, die Hauptstätter Straße entlang, ins Café Stella schickte. Dort herrschte reger Betrieb, wieder musste Emmerich warten, bis sich jemand für ihn zuständig fühlte, dann aber wurde er eine Treppe nach oben geführt, in einen kleinen, gemütlichen Raum, wo sich auf einem schwarzen Sofa ein Berg aus Rucksäcken, Handtaschen, Pullovern, Regenschirmen, Kopfbedeckungen und Jacken aller Art stapelte. Ob er die, die er suche, beschreiben könne, wurde er der Form halber gefragt. Emmerich zeigte seinen Dienstausweis, was mit einem erleichterten Lächeln und der Bemerkung, er könne sich so lange er wolle und ganz in Ruhe umsehen, quittiert wurde. Woraufhin die Kellnerin geschäftig wieder nach unten eilte und ihn alleine ließ. Während der nächsten halben Stunde bekam Emmerich daher die Gelegenheit, sich ungehindert darüber zu wundern, was seine Mitbürger so alles an einem gewöhnlichen Freitagabend mit sich herumtrugen. Eine Stimme, die unvermittelt dreimal wiederholte „Geh ans Telefon, du Depp“ ließ ihn zusammenzucken, entpuppte sich dann aber als der Klingelton eines Handys, das sich in einer Jackentasche meldete. Weitere Telefone unterhielten ihn mit konventionelleren Melodien, er legte sämtliche Behältnisse und Kleidungsstücke, die solche Geräusche von sich gaben, ohne weitere Durchsuchung zur Seite. Der Tote hatte wenig bei sich gehabt, immerhin aber sein Handy, es war nicht davon auszugehen, dass er mehrere besessen hatte, und Emmerich bedauerte bereits, keine Handschuhe mitgenommen zu haben. Mehrfach waren seine Finger nun schon mit gebrauchten Taschentüchern in Berührung gekommen, außerdem mit einem halb aufgegessenen Salamibrötchen und einer etwas zerdrückten Banane. Aus einer Handtasche entwendete er ohne schlechtes Gewissen ein Päckchen mit Papiertüchern, aus einer anderen ein Salbeibonbon, das er in den Mund steckte, um seine Sinne von den zahlreichen, keineswegs immer wohltuenden Gerüchen zu befreien, die von dem Stapel ausgingen. Letztlich aber waren seine Bemühungen von Erfolg gekrönt, aus einer neu wirkenden Outdoorjacke zog er irgendwann eine schmale Börse, die den Ausweis eines Bernhard Schlaichers enthielt. Dazu die Karte einer Krankenkasse, eine weitere zum Geldabheben, dreihundertzwanzig Euro in bar, einige Visitenkarten und zwei gebrauchte Fahrscheine der Stuttgarter Verkehrsbetriebe. Weitere Taschen der damit reichlich ausgestatteten Jacke enthielten eine Brille, einen teuer aussehenden Kugelschreiber, Medikamente und einen Schlüsselbund. Emmerich stopfte alles zurück in die Jacke und behielt nur den Ausweis in der Hand, als sein eigenes Handy sich meldete.

„Schlaicher, Bernhard“, sagte Mirko ohne weitere Begrüßung. „Geboren im Januar 1958, gemeldet in Stuttgart, Katharinenstraße.“

„Stimmt“, entgegnete Emmerich mit Blick auf den Ausweis.

„Was soll das heißen? Stimmt?“

„Dass ich tatsächlich seine Jacke gefunden habe. Mit Papieren und allem, was der Mensch so braucht.“

„Also suchen wir jetzt die Angehörigen?“

„Seine Mutter lebt in einem Seniorenheim namens Vogelgarten. Soll in der Neuen Weinsteige sein.“

„Das weißt du schon?“

„Gelernt ist gelernt“, verwies Emmerich nonchalant auf seinen Vorsprung an Berufserfahrung.

„Sie wird sicher ein älteres Semester sein“, vermutete Mirko unbehaglich. „Ich geh da keinesfalls alleine hin.“

„Natürlich nicht. Vielleicht gibt es ja noch andere. Angehörige, meine ich.“

„Das wär mir recht.“ Mirko hüstelte. „Du weißt, ich kenn mich aus. Mit den älteren Semestern. Bekanntlich wohne ich bei meiner Oma. Es ist nicht immer einfach.“

„Was ist schon einfach in diesem Leben?“, meinte Emmerich, der ebenfalls wenig motiviert war, mit einer Todesbotschaft im Seniorenheim aufzukreuzen. Die Outdoorjacke verfügte über einen Aufhänger, er schob den Zeigefinger hindurch und hängte sich das Kleidungsstück salopp über die rechte Schulter. „Darf ich einen Vorschlag machen?“

„Bitte.“

„Wir treffen uns auf dem Henkersfest und gehen dann zuerst mal in die Katharinenstraße.“

„Das machen wir.“ Mirko wirkte erleichtert. „In einer halben Stunde bin ich da.“

***

Die Zigarette, die Emmy sich angesteckt hatte, um das „Weilchen“ zu überbrücken, war längst geraucht, als die Tür der Villa endlich von innen geöffnet wurde. Wieder sah sie sich einer ihr unbekannten Frau in vorgerücktem Alter gegenüber; diese allerdings musste sich das Haar gefärbt haben, es war von einem dunklen Braun ohne einen grauen Faden. Die Frau stützte sich auf einen Stock, kam aber rein optisch noch recht flott daher, als habe sie sich gerade ausgehfertig angekleidet.

„Sie müssen die Emilie sein“, sagte sie ohne Umschweife. „Kommen Sie nur herein. Die Besuchszeit beginnt zwar erst ein wenig später, aber für Sie können wir sicher eine Ausnahme machen. Sie kommen von weit her, nicht wahr?“

„Besuchszeit?“

„Wir öffnen normalerweise niemals selbst. Wenn wir allein im Haus sind. Es könnte ja Gott weiß wer vor der Türe stehen.“

Emmy rührte sich nicht vom Fleck, während sie versuchte, zu verstehen, was da vorging. Ihr Unvermögen war ihr wohl auch anzusehen, denn ihr Gegenüber setzte mit einem freundlichen Lächeln hinzu:

„Sie waren lange nicht mehr hier, habe ich recht? Da wissen Sie vielleicht noch gar nicht, dass wir uns zu einer Wohngemeinschaft zusammengetan haben.“

„Wir? Wer ist denn wir?“

„Nun, Ihre Mutter und … aber kommen Sie doch erst einmal herein.“

Mit einer gehörigen Portion Skepsis trat Emmy über die Schwelle, nur um als Erstes einen ihr fremden Geruch wahrzunehmen. Das Haus hatte auch schon früher alt gerochen, nach Staub und Kölnisch Wasser, nach lang gebrauchtem Holz und Möbelpolitur. Jetzt aber …

„Hier entlang“, bat die Frau mit dem Stock und zeigte dorthin, wo sich einst die Bibliothek von Schlaicher senior befunden hatte. „Entschuldigen Sie bitte, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Möbius. Wiltraud Möbius.“

„Steisshofer“, erwiderte Emmy, sich ungläubig umsehend, mechanisch. Der alte Bauernschrank, der immer die Diele dominiert hatte, war entfernt worden. An seiner Stelle befand sich nun ein Kasten aus silbrigem Metall, den Emmy schnell als rollstuhlgerechten Lift identifizierte, mit dem man ins obere Stockwerk gelangen konnte. Nicht ein Teppich bedeckte mehr das offenbar neu versiegelte Parkett, weiße Raufasertapeten in Verbindung mit zwei modernen Kunstdrucken an der Wand schufen eine völlig andere Atmosphäre als die Holzvertäfelungen, die Emmy gekannt hatte. Hinzu kam eine geradezu unheimliche Stille, nirgendwo tickte mehr eine Uhr, kein Radio lief, sämtliche Fenster schienen geschlossen zu sein, es drang kein einziges Geräusch von draußen an ihr Ohr.

„Alles neu, ja, ja“, sagte Frau Möbius nickend. „Sie werden staunen, was aus der Küche geworden ist. Wenn Sie wollen, führe ich Sie gern ein wenig herum.“

„Eigentlich wollte ich nur zu meiner Mutter.“

„Mittagsruhe. Sicher schläft sie noch. Am besten, Sie warten auf Frau Finkelstein.“

„Wer, zum Kuckuck, ist Frau Finkelstein?“

„Sie kommt immer am Wochenende, macht Kaffee und richtet uns das Abendessen.“

„Tatsächlich?“

Frau Möbius, die vorangegangen war, blieb stehen, drehte sich um und stützte sich auf ihren Stock.

„Sie wissen überhaupt nichts, stimmt’s?“, sagte sie, Emmy von unten herauf ansehend. „Darüber, was aus Ihrem Elternhaus geworden ist.“

„Es ist nicht mein …“, wollte Emmy schon zu einer Erklärung ansetzen, entschied dann aber, dass ihre familiären Verhältnisse Frau Möbius eigentlich nichts angingen. Auch wenn die sich im Haus bewegte, als sei es das ihre. „Ist Bernd zu Hause?“, fragte sie stattdessen knapp.

„Ihr Bruder“, entgegnete Frau Möbius mit wissender Miene und schüttelte den Kopf. „Er wohnt schon lange nicht mehr hier. Für gewöhnlich schaut er einmal am Tag vorbei. Meistens gegen Abend. Aber das bekomme ich gar nicht immer mit.“

„Wissen Sie, ob er gestern hier war?“

„Gestern? Lassen Sie mich nachdenken.“ Frau Möbius legte die ohnehin schon etwas runzelige Stirn in tiefe Falten. „Nein“, sagte sie nach einer kleinen Weile. „Gestern kam nicht einmal Alina.“

„Alina?“

„Seine Freundin. Oder Lebenspartnerin, wie man heute sagt.“

„Ich habe mehrfach versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Wir waren verabredet, aber er hat mich versetzt.“

„Ja.“ Frau Möbius lächelte wieder freundlich, aber unverbindlich. „Ich fürchte, da kann ich Ihnen auch nicht helfen. Kommen Sie doch einfach in mein Zimmer, bis die Mittagsruhe endet. Wir warten auf Frau Finkelstein und können dabei ein wenig plaudern.“

Henkersfest

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