Читать книгу Henkersfest - Stefanie Wider-Groth - Страница 8

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Der Polizist ging voraus, Emmerich und Frenzel hinterher. Die Weberstraße verdiente ihren Namen nicht, es handelte sich mehr um eine Gasse, eine der wenigen in der Stadt, die von den Bomben des Zweiten Weltkriegs verschont geblieben waren. Wo es hineinging, in die Gasse, war schon von Weitem ein kleiner Pulk von Schaulustigen zu sehen, die sich um einen oder vielleicht auch zwei Streifenwagen herum versammelt hatten.

„Und du willst ernsthaft in diesem T-Shirt vor all die Leute treten?“, wollte Emmerich wissen, während sie sich der Gruppe näherten.

„Was soll ich machen?“ Mirko zuckte die Schultern. „Ich hab kein anderes dabei.“

„Du kannst es umdrehen“

„Wie? Mit dem Bild nach hinten?“

„Nein. Links herum.“

„Die Nähte außen? Glaubst du, das sieht besser aus?“

„Alles sieht besser aus als ein Kaninchen hinter Gittern.“

Der Pulk war erreicht, sie drängten sich hindurch bis zum bereits von den Kollegen abgesperrten Bereich. Viel zu sehen gab es nicht, auf dem Pflaster lag ein regungsloser Körper unter einer Decke, daneben standen zwei Sanitäter im Gespräch mit einem Notarzt und einem Polizisten. Dahinter zwei weitere Kollegen, die einen aufgeregten, kleinen Mann zu beruhigen versuchten, sowie ein zweites Absperrband, das die Neugierigen auf der gegenüberliegenden Seite zurückhielt. Emmerich und Frenzel betraten den Schauplatz des Geschehens.

„Nichts mehr zu machen“, sagte der Notarzt, nachdem man sich mit knappen Worten gegenseitig vorgestellt hatte. „Mehrere Messerstiche, die auf den ersten Blick nicht tödlich aussehen. Trotzdem … tut mir leid. Sie werden den Mann ja sicher obduzieren lassen.“

„Sicher“, bestätigte Emmerich. „Sonst noch etwas, das ich wissen müsste?“

„Nicht von meiner Seite. Wir würden gerne weiter. Ist viel los, heute Nacht.“

„Wir halten Sie nicht auf.“ Emmerich wandte sich an einen der Kollegen. „Der KDD ist informiert?“

„Müsste jeden Augenblick da sein“, nickte der Polizist. „Hoffentlich. Wir haben alle Hände voll damit zu tun, die Leute abzuwimmeln.“

„Wann ist das Ganze denn passiert?“

„Ist höchstens eine halbe Stunde her. Schätze ich mal.“

„Wer hat euch gerufen?“

„Weiß ich gar nicht. Hören Sie, bitte …“ Der Polizist eilte zum gegenüberliegenden Absperrband, wo eine gepflegte Dame im Rentenalter versuchte, unter dem Band hindurchzuschlüpfen. „Bleiben Sie, wo Sie sind. Sie können hier im Moment nicht durch.“

„Das will ich gar nicht“, erklärte die Dame resolut, ohne sich von ihrer Absicht abhalten zu lassen. „Durch. Ich will hinein. In dieses Haus da. Wir haben hier eine Veranstaltung. Die anderen sind alle drinnen.“

„Es tut mir leid …“

„Und ich muss aufs Klo. Ich bin siebenundsiebzig Jahre alt. Sie können eine Seniorin in meinem Alter nicht davon abhalten, aufs Klo zu gehen. Das ist Diskriminierung. Ich werde mich beschweren. Ich weiß nur noch nicht wo.“

Emmerich sah die Frau an und darauf das Haus, auf das sie zeigte. Es handelte sich um ein liebevoll restauriertes, mittelalterliches Bauwerk, das sich wohltuend von seinen etwas heruntergekommenen Nachbarn unterschied. Aus den Fenstern im Erdgeschoss starrte neugierig eine unbestimmte Anzahl weiterer Senioren.

„Oh, du lieber Gott“, stöhnte Frenzel an seiner Seite leise. „Wenn das alles Zeugen sind …“

„Durchlassen“, entschied Emmerich energisch. „Aber nur sie. Du gehst mit ihr rein und fragst, ob die Leute drinnen etwas von dem Vorfall mitbekommen haben. Wer ist der aufgeregte Herr da drüben?“

„Ein Zeuge“, erklärte der Polizist, während Mirko die gepflegte Dame zuvorkommend in das gepflegte Haus geleitete. „Behauptet, alles aus nächster Nähe beobachtet zu haben. Wenn ich es recht verstanden habe.“

Dort, wo Emmerich und Frenzel hergekommen waren, geriet die Menge in Bewegung und wurde schließlich abgedrängt, um einem Bus des Kriminaldauerdienstes Platz zu machen. Polizist und Kommissar seufzten erleichtert auf angesichts der eintreffenden Verstärkung.

„Seht zu, dass ihr von möglichst vielen Leuten hier die Personalien kriegt, bevor sie sich verdünnisieren“, wies Emmerich den Polizisten an. „Ich schaue mal, was der Herr zu sagen hat.“

„Geht klar“, entgegnete der Kollege. Emmerich ging ein paar Schritte weiter. Es handelte sich um die Sorte Tatort, die er von allen am wenigsten schätzte. Theoretisch hätte man für jeden glotzenden Passanten einen Beamten gebraucht, um festzustellen, wie lange sich dieser Passant bereits in der Nähe aufhielt. Praktisch war dies unmöglich, selbst wenn der Täter sich noch unter den Neugierigen befand. Was, nach Emmerichs Erfahrung, durchaus im Bereich des Möglichen lag. Tatorte mit weniger Öffentlichkeit waren eindeutig zu bevorzugen, man konnte sich die Dinge aber, wie so oft im Leben, nicht aussuchen.

„Wen haben wir hier?“, fragte er also die Kollegen, die den erregten kleinen Mann in Schach hielten.

„Das ist Herr …“

„Günlay. Yavuz Günlay“, erklärte temperamentvoll der kleine Mann, der trotz sommerlicher Hitze korrekt in Anzug und Krawatte daherkam. „Ich alles hab gesehen. Alles. Sind Sie der Kommissar?“

„Bin ich“, bestätigte Emmerich jovial. „Was haben Sie gesehen?“

„Alles. Die Mord. Die Mörder …“

„Es waren mehrere?“

„Nix mehrere. Eine Mann. Eine Mörder. Eine Messer. Mann hat gerufen ,Arscheloche. Riesenarscheloche. Ich dir geben. Ich dir zeigen. Ich dein Henker‘.“ Herr Günlay hielt kurz inne, bevor er mit Nachdruck hinzusetzte: „Henker! Sie verstehen? Von Fest.“

„Nein“, entgegnete Emmerich freundlich und löste behutsam Herrn Günlays Hand vom Ärmel seiner Regenjacke, die im Begriff war, sich dort festzukrallen. „Noch einmal von vorn und bitte langsam.“

„Der Zeuge glaubt“, versuchte der jüngere der beiden uniformierten Kollegen zu erklären, „dass die beiden Männer, Täter und Opfer, von da drüben kamen. Dort steigt eine Party namens Henkersfest.“

Emmerich registrierte nur nebenbei, dass man ihm offenbar, aufgrund seines fortgeschrittenen Alters vermutlich, die Kenntnis derartiger Festivitäten nicht mehr zutraute.

„Wie sah der Mörder aus?“, stellte er, ohne auf die Bemerkung einzugehen, die Frage, deren Antwort ihm am dringlichsten zu sein schien.

„Schwarze Mann“, erwiderte Herr Günlay prompt.

„Ein Farbiger?“

„Nix farbig. Schwarze Pulli. Mit Kapuze.“

„Haben Sie sein Gesicht gesehen?“

„Nix gesehen. Kapuze groß. Hat gestochen zweimal, dreimal. Diese Mann …“ – Herr Günlay wies auf den regungslosen Körper – „… ist gefallen hin. Wieder gestochen. Dann Seil um Kopf. Und weg.“

„Weg? Wohin?“

Herr Günlay zeigte dorthin, wo die Weberstraße weiter in die Stuttgarter Altstadt und hinein ins Rotlichtviertel führte.

„Ich alles hab gesehen. Wie hoch ist Belohnung?“

„Davon kann keine Rede sein“, wehrte Emmerich die Ansprüche des Zeugen ab und wandte sich an den Kollegen. „Sehen Sie zu, dass wir eine ordentliche Aussage von ihm bekommen. Und klären Sie ihn über seine Pflichten als Staatsbürger auf.“

„Ich nix Deutscher“, insistierte Günlay sofort fuchtelnd.

„Aber Bürger“, gab Emmerich bestimmt und abschließend zurück, während er bemerkte, dass Mirko aus der Tür des restaurierten Hauses getreten war. Er winkte ihn heran, näherte sich dem Körper und hob vorsichtig die Decke dort, wo der Kopf des Toten vermutet werden durfte. Ein vielstimmiges Raunen der Schaulustigen begleitete sein Tun. Unübersehbar war das von Günlay erwähnte Seil, das in Form einer Henkersschlinge locker um den Hals des Toten hing. Die grüne Kappe hatte ihm jemand so übers Gesicht gelegt, dass es nicht zu erkennen war.

„Herrgottsack, verdammt noch mal“, fluchte Emmerich so leise, dass nur Mirko ihn verstehen konnte. „Es ist der Typ, der mich vorhin ums Haar umgerannt hat.“

„Mmmhh“, machte Mirko zustimmend, aber wenig aussagekräftig.

„Wir hätten den Täter aufhalten können. Er war keine fünf Zentimeter weit von uns entfernt.“

„Mmmhh“, nickte Mirko ein zweites Mal. „Wir haben’s aber nicht getan.“

In einer Tasche des Toten klingelte ein Handy.

***

„Er geht immer noch nicht ran.“ Emmy Steisshofer schob ihr Telefon zurück in die Jackentasche. „Was soll ich denn jetzt tun?“

„Hab ich dir doch gesagt.“ Micha, der mittlerweile Ziegenbärtige, der seinen alten Spitznamen nicht mehr ausgesprochen wissen wollte, lächelte munter. „Du kannst mein Sofa nehmen. Vorher ziehen wir noch ein paar Runden um die Häuser …“

„Welche Häuser? Gibt’s denn die ganzen alten Läden noch? ,Die Röhre‘? ,Das Unbekannte Tier‘?“

„Es gibt andere. Am Hans-im-Glück-Brunnen zum Beispiel. Da kann man sich auch besser unterhalten.“

Emmy unterdrückte mit Mühe ein herzhaftes Gähnen. Sie hatte Micha bei einem Caipirinha in dürren Worten den Verlauf ihres bisherigen Lebens sowie die momentane Situation geschildert. Natürlich immer in der Hoffnung, dass sich an dieser Situation in naher Zukunft etwas ändern würde. Im Gegenzug war ihr ein annähernd einstündiger Vortrag betreffend die Karriere des einstigen Schulkameraden zuteil geworden, die sich offenbar in erster Linie dadurch auszeichnete, keine zu sein. Als DJ fühle er sich mittlerweile etwas zu alt, hatte Micha ihr gestanden, er mache das nur noch in Ausnahmefällen. Die Medienbranche sei wohl interessant, leider aber völlig überlaufen. Sein nächstes Projekt werde voraussichtlich irgendwas mit Kochen und Veranstaltungen sein. Was Emmy davon halte? Und ob sie wohl Interesse habe, mitzumachen? Nein, das hatte Emmy nicht, auch wenn sie dies vorerst für sich behielt, um nicht den Verlust des in Aussicht gestellten Nachtlagers zu riskieren. Welchen Sinn sollte es haben, eine ungewisse Zukunft in München gegen eine noch ungewissere in Stuttgart zu vertauschen? Hier hatte sie nicht einmal eine Wohnung. Auch wenn er allem Anschein nach nicht auf ein Abenteuer aus, sondern eher auf der Suche nach einer Geldgeberin war, kam Michas Sofa allenfalls für diese eine Nacht infrage. Nur dass ihr nicht der Sinn danach stand, sich vorher noch stundenlang herumzutreiben.

„Sag bloß nicht, dass du müde bist.“ Micha drohte ihr schelmisch mit dem Zeigefinger.

„Doch“, sagte Emmy, diesmal ihr Gähnen hinter der vorgehaltenen Hand verbergend. „Hundemüde. Ich bin seit heute früh um sieben auf den Füßen.“

„Na, dann.“ Überraschenderweise brachte Micha keine weiteren Einwendungen vor. „Ich hab noch Bier zu Hause. Es ist nicht weit. Wir können laufen.“

***

Das öffentliche Interesse hatte nachgelassen, nachdem der Tatort mit aufgespannten Folien vor den Blicken der Schaulustigen verborgen worden war. Zwischen den Folien ging die Spurensicherung routiniert ihrer Arbeit nach, für Emmerich und Frenzel, die sich zunächst an der Suche nach weiteren Zeugen unter den herumstehenden Passanten beteiligt hatten, gab es wenig zu tun.

„Geh zurück aufs Fest“, sagte Mirko irgendwann. „Deine Gabi freut sich. Ich komme hier alleine klar.“

„Meinst du? Was ist mit deinem Junggesellenabschied?“

„Die sind inzwischen sicher blau und über alle Berge.“

„Tut mir leid für dich.“

„Mir nicht.“ Mirko sah für einen Augenblick versonnen drein. „Ich mag keine Junggesellenabschiede.“

Bevor Emmerich etwas erwidern konnte, fiel ihm nicht nur Gabis Bemerkung hinsichtlich der nicht vorhandenen Partnerin des Jüngeren ein, gleichzeitig öffnete sich auch neben ihm die Tür des restaurierten Hauses. Er verzichtete auf eine Antwort und sah stattdessen fragend die gepflegte Dame an, der er zuvor den Durchgang gestattet hatte.

„Ich wollte mich nur erkundigen“, sagte die liebenswürdig, sorgfältig darauf bedacht, jeden Blick in Richtung des Toten zu vermeiden, „wann wir hier herausdürfen? Unter diesen Umständen können wir uns leider keinen Vortrag über die Geologie der Schwäbischen Alb anhören.“

„Verständlich“, meinte Emmerich, sich lediglich für den Bruchteil einer Sekunde fragend, ob er selbst überhaupt in der Lage wäre, Derartiges durchzustehen, egal unter welchen Umständen. „Ich frage mal. Vielleicht, wenn Sie hintereinander an der Wand entlanggehen.“ Wenig später kam er mit einem positiven Bescheid zurück. Woraufhin sich im Gänsemarsch eine kleine Kolonne von knapp zwanzig Personen im letzten Lebensdrittel hastig in Richtung des Absperrbandes in Bewegung setzte, die gepflegte Dame gleich zu Anfang, während ein Mann in beigen Hosen und leichter Strickjacke den Abschluss bildete. Emmerich schätzte ihn auf etwas über siebzig. Neben dem Leichnam, der gerade unbedeckt von einem Fotografen aus verschiedenen Positionen abgelichtet wurde, blieb der Mann stehen.

„Sie“, sagte er ungerührt und winkte Emmerich. „Ich glaub, den kenne ich.“

„Im Ernst?“

„Wohlgemerkt“, sagte der Mann bedächtig. „Ganz sicher bin ich nicht. Aber, wenn mich nicht alles täuscht, ist das der Junge von Frau Schlaicher.“

„Und wer ist …“

„Müssen wir das hier besprechen?“

„Nein. Entschuldigen Sie, das müssen wir natürlich nicht. Wir können gerne ein paar Meter weiter gehen.“

Der Mann jedoch runzelte die Stirn und sah hinter der sich zügig entfernenden Kolonne her.

„Meine Mitfahrgelegenheit“, wehrte er entschuldigend Emmerichs Ansinnen ab. „Darauf bin ich angewiesen. Ich kann jetzt nicht bleiben. Hier …“ Etwas umständlich wurde eine Börse aus der Gesäßtasche der beigen Hose gezogen, eine Visitenkarte daraus entnommen und Emmerich überreicht. „Rufen Sie mich an. Von mir aus auch am Samstag. Oder Sonntag. Für mich sind alle Tage gleich. Am besten um die Mittagszeit.“

„Herr … Kröhl?“, vergewisserte sich Emmerich, das Kärtchen so entziffernd, wie er es eben ohne seine Lesehilfe in der schlecht beleuchteten Gasse vermochte.

„Pröhl“, verbesserte der Mann. „Klaus Friedrich Pröhl. Meine Mutter heißt Adelheid.“

„Ach was?“

„Die ist befreundet mit Frau Schlaicher. Aber das erkläre ich Ihnen dann. Jetzt muss ich wirklich …“

Henkersfest

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