Читать книгу Schlossgartensterben - Stefanie Wider-Groth - Страница 10
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Mit Gabis Handy in der Hosentasche saß Emmerich hinter dem Steuer der alten A-Klasse und empfand ein leichtes Gefühl des Triumphes: Es war ihm gelungen, das Telefon an sich zu bringen, ohne dass sie etwas bemerkt hatte. Da es sich bei ihrem Ausflug um eine wichtige Mission handelte, fuhr er selbst, sie benötigten eine knappe Viertelstunde für die Strecke zur Enzianbrennerei, wo er den Wagen mit rasantem Schwung auf den Parkplatz steuerte.
„Guck mal“, sagte Gabi beim Betreten des gelb gestrichenen Gebäudes. „Die haben hier auch eine Ausstellung.“
„Guck du“, versetzte Emmerich nach einem kurzen Blick auf das entsprechende Hinweisschild. „Ich gehe schnell in den Laden und komme gleich nach.“
Er wandte sich nach links, wo einige Stufen zum Verkaufsraum führten. Dessen Inhalt war geeignet, sein Herz höher schlagen zu lassen. Schnäpse, Brände, Kümmel, Liköre und die dazu passenden Süßigkeiten harrten in enormen Mengen ihrer Käufer, von denen es in Anbetracht des Angebotes nach Emmerichs Einschätzung zahlreiche geben musste. Der Laden selbst wurde zu einem guten Teil von fidelen Senioren bevölkert, die zwar in norddeutschen Idiomen scherzten, sich jedoch durch das Tragen von Landhausmode als Einheimische zu tarnen versuchten. Die Ursache der gelösten Stimmung hatte er schnell ausgemacht, rechter Hand lag ein Probierstand, an dem es allerlei klare und cremige Flüssigkeiten zu verkosten gab. Emmerich zögerte nur kurz, bevor er den Probierstand links liegen ließ, erstand eine Flasche Enzian sowie den Kräuterlikör für seinen Magen und verließ den Laden auf der gegenüberliegenden Seite. Dort geriet er unversehens in die Fänge mehrerer Damen mit edelweißbedruckten Halstüchern und Lodenhütchen.
„Sie“, sagte eine von ihnen und hickste. „Würden Sie bitte ein Foto von uns machen? Mit der Hütte da drüben im Hintergrund?“
„Tut mir leid.“ Emmerich unterdrückte einen Anflug von Panik angesichts so viel beschwipster Weiblichkeit. „Ich muss ganz dringend telefonieren.“
„Macht doch nichts“, tröstete ihn eine Zweite munter. „Wir warten, bis Sie fertig sind.“
Emmerich drehte den Damen demonstrativ den Rücken zu und drückte die Wahlwiederholung.
„Dezernat Tötungsdelikte, Frenzel am Apparat“, leierte Mirkos gelangweilte Stimme. Der Damen wegen senkte Emmerich die seine zu einem Flüstern.
„Ich bin’s. Gibt es schon was Neues?“
„Reiner? Kannst du nicht lauter reden? Ich verstehe dich kaum.“
„Ist gerade schlecht.“
„Wegen Gabi?“
„Nicht wegen Gabi. Nun sag schon …“
„Sieht so aus, als hätten wir ihn identifiziert. Tröge, Thomas, dreiunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Stuttgart-Ost. Wir versuchen, die Angehörigen ausfindig zu machen.“
„Mehr habt ihr nicht?“
„Todeszeitpunkt vermutlich gegen elf Uhr in der Nacht.“
„Was? Da wird mitten in einem öffentlichen Park einer erschossen, und dann findet man den erst am nächsten Morgen?“
„Du weißt selbst, wie ausgestorben die Stadt unter der Woche manchmal ist. Um diese Zeit. Es war dunkel. Das Denkmal steht nicht mitten im Park, sondern eher am Rand.“
„Trotzdem. Elf Uhr. Da müssten doch noch Leute unterwegs gewesen sein. Woher wollt ihr überhaupt so genau wissen, wann …?“
„Zwei Zeugen haben sich gemeldet. Wollen Schüsse gehört haben, aber nichts gesehen. Sie waren nicht nahe genug dran.“
„Nachsehen gegangen sind sie nicht?“
Frenzel gab ein Geräusch von sich, das wie „Pfffff“ klang.
„Würdest du nachsehen gehen? Und dich womöglich in eine Schießerei verwickeln lassen?“
„Ich …“
„Na, also.“
„Sonst noch was?“
„Der Hosenstall stand offen.“
„Von wem?“
„Vom Toten.“
„Wirklich? Was schließen wir daraus?“
„Noch gar nichts.“ Mirko räusperte sich in einer Art, die als Anzeichen für ein strapaziertes Nervenkostüm interpretiert werden konnte. „Wir warten den Bericht der Spurensicherung ab. Hat alles Zeit, bis du zurück bist.“
Emmerich sah sich verstohlen um und musste zur Kenntnis nehmen, dass die Damen noch da waren. Sie schienen tatsächlich auf ihn zu warten, winkten und machten Zeichen, die das Abdrücken eines Fotoapparates andeuteten.
„Ich weiß nicht, ob ich heute noch einmal anrufen kann“, sagte er in gedämpftem Ton, während er den Damen ein gequältes Nicken zuteil werden ließ. „Aber du könntest mir einen Gefallen tun. Kopier das Wichtigste und wirf es in meinen Briefkasten. Dann kann ich morgen Abend schon mal einen Blick darauf werfen.“
„Wenn du meinst“, entgegnete Mirko wenig begeistert. „Ist aber nicht nötig. Ich komme prima zurecht.“
Emmerich sah einen, ob der ihm übertragenen Verantwortung zu Hochform auflaufenden Frenzel vor seinem inneren Auge und wusste, dass etwas Lobendes von ihm erwartet wurde.
„Sehr schön“, grummelte er daher, das Gefühl des eigenen Abseitsstehens ignorierend.
„Schon gut, ich mach’s.“ Mirko kannte seinen Vorgesetzten offenbar gut genug, um die richtigen Schlüsse aus dessen Grummeln zu ziehen. „Bis bald mal.“
„Dito“, gab Emmerich zurück und drückte die rote Taste.
„Na?“, kicherte eine der Damen und hielt ihm eine kleine, silberne Kamera hin. „Machen Sie nun das Foto? Unser Bus fährt nämlich gleich weiter.“
***
Nachdem sie die Reste ihrer leichten Mittagsmahlzeit beseitigt und das benutzte Geschirr gereinigt hatte, ging Anna-Maria Semmler zur Garderobe und nahm ihr eigenes Handy aus der Handtasche. Es war nicht das, welches sie üblicherweise benutzte, sondern ein kleines, rotes Prepaid-Gerät, in dessen Speicher sich nur eine einzige Nummer befand. Anna-Maria schaltete es ein, drückte die Zahlen ihrer PIN und wartete. Keine SMS. Kein eingegangener Anruf in Abwesenheit. Mit einer Mischung aus liebevoller Nachsicht und gelinder Verärgerung rief sie die einzige Nummer auf, wählte und ließ es klingeln. Niemand meldete sich. Anna-Maria runzelte die Stirn, ließ das Handy in die Tasche ihres rohseidenen Hausanzuges gleiten, ging ins Wohnzimmer und griff zum Festnetzapparat.
„Hallo, Sally“, sagte sie, als abgenommen wurde. „Ich bin’s.“
„Anna, Schätzchen, ich hätte dich auch noch angerufen.“
„Hast du heute Nachmittag schon etwas vor?“
„Arbeit, meine Liebe. Warum fragst du?“
„Ich … ich dachte, du hättest vielleicht Lust, mit mir ein wenig laufen zu gehen. Einen guten Platz für unser Klettertraining finden.“
„Schön wär’s.“ Selina seufzte. „Aber die Umstände sprechen dagegen.“
„Schade.“ Anna-Maria räusperte sich und schwieg.
„Du hast doch irgendetwas auf dem Herzen“, folgerte ihre Freundin messerscharf. „Was ist los?“
„Es ist nur … falls Horst dich anrufen sollte … falls er wissen möchte, wo ich gestern Abend war …“
„Dann sag ich ihm, du warst bei mir“, lachte Selina. „Aber mach dir keine Sorgen, er wird nicht anrufen. Horst hasst mich.“
„Ach, nein, das glaube ich nicht. Er mag dich vielleicht nicht besonders, aber …“
„Macht nichts. Ich kann ihn auch nicht leiden.“
„Selina, bitte. Er ist mein Mann.“
„Schon gut, Schätzchen. Ich ruf dich wieder an.“
„Ja“, entgegnete Anna-Maria einsilbig, beendete das Gespräch und nahm erneut das Handy heraus. Wieder ließ sie es klingeln. Und wieder nahm keiner ab. Sie tippte eine kurze SMS des Inhalts, dass sie in einer Stunde am bekannten Treffpunkt sein würde, vertauschte den Hausanzug gegen ihren Laufdress und machte sich auf den Weg zum Frauenkopf.
***
Emmerich hatte den freundlichen Bitten nachgegeben und mit mehreren Digitalkameras das immer gleiche Motiv der Damen vor der historischen Brennhütte festgehalten. Fröhlich kichernd wurde er schließlich entlassen, brachte seine Tüte zum Auto und ging zurück in das gelb gestrichene Gebäude. Gabi stand in einem kleinen Schauraum und studierte die auf diversen Wandtafeln erklärte Geschichte der Enzianbrennerei.
„Was machst du denn so lange?“, fragte sie, nicht ohne einen leisen Vorwurf in der Stimme.
„Da war ein Bus voller Rentner“, erläuterte Emmerich, plötzlich froh darüber, einen plausiblen Grund für die verlängerte Dauer seiner Abwesenheit zu haben. „Die wollten alle ein Gruppenfoto. Ich konnte praktisch nicht Nein sagen.“
„So, so“, meinte Gabi und wandte sich der Betrachtung einer altertümlichen Gerätschaft zu. „Sieh dir das bloß an. Was die Leute für Mühen auf sich genommen haben. Wie einsam es gewesen sein muss, da oben in den Bergen nach diesen Wurzeln zu suchen. Und alles nur wegen Schnaps.“
„Das ist halt ein uraltes Kulturgut“, versuchte Emmerich eine Erklärung, widmete sich pflichtschuldig den Tafeln und las ein paar Zeilen. Der Herstellungsprozess hochprozentiger Getränke interessierte ihn eindeutig weniger als das Ergebnis. „Es gibt sogar Theorien, dass die Menschheit nur deswegen sesshaft wurde.“
„Wegen Schnaps?“
„Ich glaube, eher wegen Bier. Oder Wein. Schnaps kam erst später dazu.“
Er spürte ein leises Vibrieren in der Hosentasche und hatte das Gefühl, rote Ohren zu bekommen, obwohl er wusste, dass ihm dies nie passierte. Sekunden später ertönte der dazugehörige Ton, und Gabi zog überrascht die Brauen hoch.
„Komisch“, sagte sie und sah ihn an. „Das klingt, als wäre es meines. Dabei hab ich’s auf dem Nachttisch liegen gelassen.“
„Ich kann das erklären, Spatz“, erwiderte Emmerich hastig und zog das Handy heraus. „Aber vorher muss ich ran.“
Er drückte die grüne Taste und hielt das Telefon ans Ohr.
„Hier ist Gitti“, rief eine Stimme von sehr weit weg. „Gitti Kerner. Der Chef hat mich angerufen. Wegen einer Leiche im Schlossgarten.“
„Mich ebenfalls“, entgegnete Emmerich knapp. Neben ihm verfinsterte sich Gabis Miene zusehends.
„Wir sollen den Fall übernehmen“, tönte aus der Ferne die Kollegin. „Ich bin aber noch im Urlaub. Im Elsass. Vor Sonntagabend schaffe ich es nicht.“
„Kein Problem. Frenzel ist dran.“ Emmerich grinste schief und fügte nach einem kurzen Seitenblick vorsichtshalber hinzu: „Ich bin auch noch im Urlaub.“
„Das heißt, wir sehen uns gleich am Montag?“
„Genau.“
„Und wir kommen nicht zu spät?“
„Wird schon nicht so dramatisch sein.“
„Dann bin ich beruhigt. Eine gute Heimfahrt wünsche ich Ihnen.“
„Gleichfalls. Bis dann.“
„Warum hast du mein Handy dabei?“, fragte Gabi, kaum dass das Gerät wieder in Emmerichs Tasche verschwunden war.
„Das … also, weißt du … das war nur so ein Impuls. Ein spontaner Impuls.“
„Quatsch“, sagte Gabi rüde.
„Also schön, ich dachte, ich nehme es mit und rufe mal im Büro an. Nur so, um zu hören, ob alles in Ordnung ist.“
„Es warst aber nicht du, der angerufen hat.“
„Nein. Das war … äh … Frau Kerner. Hauptkommissarin Brigitte Kerner.“
„Was wollte sie?“
„Mir sagen, dass sie im Urlaub ist.“
„Unsinn.“ Gabi sah ausgesprochen unerfreut drein. „Warum sollte sie das tun? Da steckt etwas anderes dahinter. Wir sind uns doch einig, was den Unterschied zwischen deiner Arbeit und unserem Urlaub betrifft?“
„Spatz, bitte. Der Urlaub ist schon fast vorbei.“
„Aber nur fast. Ich will jetzt nicht an einen deiner Fälle denken müssen.“
„Musst du nicht.“
„Ich will heute Abend in Ruhe essen gehen.“
„Können wir doch.“
„Und morgen gemütlich nach Hause fahren.“
„Werden wir machen.“
„Okay“, sagte Gabi und wirkte wieder etwas gelassener. „Dann gehen wir jetzt zurück und packen.“
Ohne Hast schlenderten sie zum Auto, wo Emmerich den Beifahrersitz einnahm. Er war längst kein passionierter Fahrer mehr, genoss auf dem Rückweg den Blick über die Landschaft und ließ sich bei heruntergelassenem Fenster die frische Luft, von der er im Stuttgarter Kessel nur träumen konnte, um die Nase wehen.
„Schon grandios, das Watzmann-Massiv, wenn das Wetter mal schön ist“, bemerkte Gabi, als sie das Salzbergwerk passiert hatten und vor dem Kreisverkehr am Berchtesgadener Bahnhof an einer roten Ampel hielten.
„Ja, Spatz“, entgegnete Emmerich schläfrig, das vertraute Vibrieren in der Hosentasche spürend. „Ich muss noch mal, tut mir leid.“
„Wir haben die Eltern gefunden“, sagte Mirko Frenzel zufrieden. „Roswitha und Dieter Tröge aus Donaueschingen. Sie kommen am Montagvormittag ins Präsidium, ich hole sie vom Bahnhof ab. Ist dir das recht?“
„Aber ja.“
„Die Kopien habe ich fertig.“
„Prima.“
„Kannst du wieder nicht reden?“
„Du sagst es.“
„Dann rufe ich dich morgen Abend an.“
„Gute Idee.“
„Das ist die Höhe“, erklärte Gabi bissig, während sie den Kreisverkehr umrundete und rechts Richtung Königssee abbog. „Nicht einmal in Bayern hat man seine Ruhe.“
***