Читать книгу Schlossgartensterben - Stefanie Wider-Groth - Страница 15

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Am Sonntagmorgen riss das Martinshorn eines aus der nahen Einsatzzentrale des Roten Kreuzes startenden Krankenwagens Emmerich früh aus dem Schlaf. Man hört’s, die Heimat hat mich wieder, dachte er ein wenig geknickt und drehte sich um, nur um festzustellen, dass er eigentlich wach war. Wach und offenbar auch willens, seinem Beruf wieder nachzugehen, denn das Erste, was ihm einfiel, war der Tote hinterm Denkmal. Vorsichtig, um Gabi nicht zu wecken, schlich er sich aus dem Schlafzimmer, setzte Teewasser auf und suchte sein Handy. Er fand es in der Innentasche seines Cordsamtjacketts, das genauso am Haken der Garderobe hing, wie er es vor dem Urlaub zurückgelassen hatte. Wobei ihm jetzt erst auffiel, dass die Innentasche dieses Jacketts, das sich seit einer unüberschaubaren Anzahl von Jahren in seinem Besitz befand, ein veritables Loch aufwies. Der Akku des Handys erwies sich als leer, Emmerich hängte es ans Ladegerät, gab zwei Beutel in den Wassertopf und schenkte sich nach kurzer Wartezeit eine Tasse Tee ein. Mit dem Festnetzapparat wählte er Frenzels Nummer im Präsidium, doch es meldete sich niemand. Emmerich setzte sich aufs Sofa und nahm sich die Aussage des Zeugen Heiko Sauer vor:

Auf dem Weg von der Nikolausstraße zum Hauptbahnhof ist mir am Freitagmorgen hinter dem Denkmal beim Landespawillion ein Fuhß aufgefallen. Der Fuhß hat so komisch ausgesehen, dass ich dachte, ich sehe mal, was da los ist. Da lag ein Mann auf dem Boden, der nicht reagiert hat, als ich ihn angesprochen habe. Deshalb habe ich mich gepückt und seinen Puls gefühlt und dann gesehen, dass Blut auf seinem Hemd war. Der Mann war schon ganz kalt, da habe ich die Polizei gerufen.

Die Aussage, literarisch sicherlich nicht wertvoll und orthografisch bedenklich, was Emmerich allerdings schon seit längerem nicht mehr in Staunen versetzte, war eindeutig und unterschrieben, wie es sich gehörte. Emmerich glaubte nicht an die Notwendigkeit, den Zeugen Heiko Sauer ein zweites Mal befragen zu müssen. Überhaupt gab es nichts, was er in diesem Moment, abgesehen vom Teetrinken, unternehmen konnte. Frenzels Handynummer befand sich unzugänglich in seinem erst noch aufzuladenden Gerät, auf gut Glück ins Präsidium zu fahren, erschien ihm wenig vielversprechend. Bis zum sonntäglichen Frühstück blieben ihm sicher noch zwei Stunden. Emmerich beschloss, einen Spaziergang zu machen, hinterließ Gabi eine entsprechende Nachricht, zog eine leichte Regenjacke über und machte sich auf zum mittleren Schlossgarten. Der Weg durch den Park entsprach dem, den er normalerweise zur Arbeit nahm, doch am Sonntag, zu dieser frühen Stunde, ging es dort wesentlich ruhiger zu, als er es gewohnt war. Emmerich schlug deshalb ein gemächliches Tempo ein, beobachtete Vögel und verharrte ein wenig bei den Springbrunnen vor dem Planetarium, bevor er nach ungefähr zwanzig Minuten das Denkmal erreichte. Abgesehen von ein paar Inlineskatern und einem Streifenwagen, die in einiger Entfernung langsam durch den Park rollten, konnte er niemanden entdecken. Behutsam hob er das zwischenzeitlich etwas lädiert wirkende Polizeiabsperrband an, das den Tatort umgab, und schlüpfte hindurch. Die Bedeutung des steinernen Monuments, so erinnerte er sich dunkel, war ihm einst im Heimatkundeunterricht erklärt worden, den Windungen seines Gehirns aber längst wieder entwichen. Aus Sicht des Täters jedenfalls war es kein schlechter Ort, um einen Toten in der Dunkelheit vor neugierigen Blicken zu verbergen, der Sockel breit genug und gleich dahinter ein dicht wachsendes Nadelgehölz. Mehr zu sehen gab es nicht, die Spurensicherung hatte gründlich gearbeitet, kein Zigarettenstummel, kein Fitzelchen Papier lag auf dem Boden. Emmerich blieb dennoch einige Minuten stehen, um den Ort auf sich wirken zu lassen, drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse und starrte gerade selbstvergessen auf das Nadelgehölz, als hinter seinem Rücken eine metallische Stimme schnarrte:

„Hallo, da drüben. Weg dort, aber zackig.“

Ohne Eile wandte Emmerich sich um und entdeckte den Streifenwagen in unmittelbarer Nähe des Denkmals.

„Zackig“, wiederholte die Stimme des uniformierten Fahrers durch den Lautsprecher des Wagens, während auf der Beifahrerseite ein ausgesprochen junger, zweiter Beamter ausstieg.

„Würden Sie bitte zu mir kommen! Die Hände aus den Taschen lassen.“

„Immer mit der Ruhe, Kollege“, erwiderte Emmerich und ging zum Absperrband. „Das hat schon seine Ordnung, ich bin …“

„Stehen bleiben“, forderte der Beamte. „Was haben Sie da zu suchen? Können Sie nicht lesen, was hier steht? Po-li-zei-absperrung. Das steht hier.“

„Personenkontrolle.“ Der Fahrer des Streifenwagens war hinzugetreten. „Ihren Ausweis bitte. Schön langsam.“

„Jetzt macht mal halblang, Jungs“, verlangte Emmerich in belustigtem Ton und bückte sich unter dem Band hindurch, um zurück auf den Hauptweg zu gelangen.

„Stehen bleiben habe ich gesagt. Und keine dummen Witze.“

„Ist ja gut.“ Emmerich fasste in die Taschen der leichten Regenjacke und dort ins Leere. „Ich fürchte“, sagte er mit dem freundlichsten Lächeln, zu dem er an einem frühen Sonntagmorgen imstande war, „ich habe keinen Ausweis bei mir. Wir können das trotzdem schnell klären, mein Name ist …“

Die beiden Beamten wechselten einen raschen Blick.

„Einsteigen“, sagte der Fahrer und wies auf den Streifenwagen. „Sie kommen zur Feststellung Ihrer Personalien mit aufs Revier. Keine weiteren Diskussionen.“

***

Horst saß im Wohnzimmer und hörte Beethoven. Nicht, dass er in Anna-Marias Augen ein besonderes Verständnis für klassische Musik aufbrachte, Horst hörte fast jeden Sonntag Beethoven und meist auch nur die jedermann sattsam bekannte fünfte Symphonie, doch der Rest der Familie wusste, dass während der Zeit des Musikhörens Störungen unerwünscht waren. Die Kinder hatten sich daher gleich nach dem Frühstück von dannen gemacht, um sich mit irgendwelchen Freunden zu treffen, Anna-Maria dagegen saß im Arbeitszimmer und las zum dritten Mal eine SMS-Botschaft ihrer Freundin Selina. Ruf mich an. Tom könnte etwas zugestoßen sein. Die Nachricht war vor einer knappen halben Stunde eingetroffen, doch Anna-Maria wollte nicht zurückrufen, solange Horst sich in Hörweite befand, auch wenn Beethoven diese Hörweite erheblich einschränkte. Horst hatte ein ihr manchmal geradezu unheimlich erscheinendes Talent dafür, immer dann in Erscheinung zu treten, wenn man am wenigsten mit ihm rechnete. Sie würde mit dem Rückruf warten, bis er am frühen Nachmittag das Haus verlassen würde, um schwimmen zu gehen. Um sich selbst bis dahin die Zeit zu vertreiben, schaltete sie den Computer ein und legte ein Mahjong-Spiel in den CD-Schacht. Tom könnte etwas zugestoßen sein. Unkonzentriert entfernte sie Mausklick um Mausklick virtuelle Klötzchen mit asiatischen Symbolen, bis das Klingeln des Telefons sie unterbrach. Anna-Maria griff hastig nach dem Hörer, Beethoven und das Telefon vertrugen sich schlecht, wie sie aus langer Erfahrung wusste.

„Semmler.“

„Mein Name ist Glöckner. Ich muss Ihren Mann sprechen.“

„Mein Mann ist leider gerade unabkömmlich. Kann ich etwas ausrichten?“

„Es ist dringend.“

„Im Moment darf … kann ich ihn nicht stören.“

„Ich rufe wieder an. In … sagen wir … zwanzig Minuten.“

Am anderen Ende der Leitung wurde im selben Moment aufgelegt, in dem die Tür zum Arbeitszimmer geöffnet wurde.

„Wer war das?“, fragte Horst in unfreundlichem Ton.

„Dein Herr Glöckner.“ Anna-Maria legte den Hörer weg. „Er ruft wieder an. Ich dachte, du wolltest nicht gestört werden. Es tut mir leid, wenn …“

„Nein, lass nur“, winkte Horst etwas zugänglicher ab. „Ich wollte heute sowieso früher ins Mineralbad Berg. Da kann ich ihn ja von unterwegs zurückrufen. Bis später dann.“ Horst verließ das Arbeitszimmer, sie hörte, wie er die Musikanlage abstellte, sich fertig und auf den Weg machte. Anna-Maria nahm die Mahjong-CD aus dem Laufwerk, schaltete den Computer aus und ging ins Schlafzimmer. Auf dem Hocker vor dem Bett stand Horsts Schwimmtasche, das frische Handtuch, das sie ihm bereitgelegt hatte, war unberührt.

***

Mit dem sicheren Gefühl, einen verdorbenen Sonntag vor sich zu haben, betrat Emmerich, flankiert von den beiden jungen Beamten, die unterirdische Polizeistation an den Treppen zur S-Bahn-Haltestelle Hauptbahnhof. Ein Mann in Jeans und sportiver Freizeitjacke, der am Tresen lehnte, drehte sich um, bekam große Augen und unmittelbar darauf einen Lachanfall.

„Gibt’s nicht“, prustete er zwischen zwei Salven. „Bist du verhaftet?“

„Mirko, du bist ein Vollidiot“, informierte Emmerich seinen Untergebenen ungehalten. „Obwohl ich froh bin, dass du hier bist. Warum bist du hier?“

„Bin mit einem neuen Zeugen verabredet. Ein gewisser Edwin Edamer. Müsste jeden Moment eintreffen.“

„Die Herren kennen sich?“, fragte der Fahrer des Streifenwagens streng, aber hörbar verunsichert. Hinter dem Tresen standen weitere Kollegen und grinsten breit. Emmerich nahm an, dass er im Verlauf der nächsten Woche zum Gespött des ganzen Präsidiums und etwa der Hälfte der baden-württembergischen Polizei avancieren würde und gab ein resigniertes Stöhnen von sich.

„Kennen“, wiederholte Mirko gedehnt. „Ich? Den da?“

„Also nicht?“, vergewisserte sich der Beifahrer irritiert.

„Doch, natürlich. Das ist Hauptkommissar Reiner Emmerich vom Dezernat Tötungsdelikte. Was hat er ausgefressen?“

„Unbefugtes Betreten eines abgesperrten Tatorts“, murmelte der Fahrer betreten. „Woher hätten wir wissen sollen … wir sind erst seit ein paar Wochen hier im Dienst …“

„… und ich hatte keinen Ausweis dabei“, tröstete Emmerich die jungen Kollegen, die verlegen zu Boden sahen. „Ihr habt völlig korrekt gehandelt. Herzlich willkommen in unserer schönen Landeshauptstadt.“

„Danke“, entgegnete der Beifahrer kleinlaut. „Dann machen wir uns mal wieder auf den Weg.“

„Schönen Tag noch“, grüßte Emmerich generös und wandte sich wieder an Mirko. „Wieso willst du ausgerechnet hier einen Zeugen vernehmen?“

„Herr Edamer kommt mit der S-Bahn, der Weg ins Präsidium war ihm zu weit. Am Telefon sprach er von Beobachtungen, die er im Park gemacht hat. Also dachte ich, ich warte hier auf ihn und gehe gleich mit ihm hin. Sonst haben wir ja leider noch nicht viel.“

„Und woher weiß Herr Edamer …?“

„Aus der Zeitung. Die Samstagsausgaben haben schon kurze Berichte gebracht. Die erste Pressekonferenz ist allerdings erst heute Nachmittag.“

„Tatsächlich? Wer wird die halten?“

„Ich“, sagte Mirko und straffte die Schultern. „Du hast ja Urlaub. Was mich zu der Frage bringt, warum du überhaupt am Tatort warst?“

„Reine Neugier“, brummte Emmerich verstimmt. „Das ist deine erste Pressekonferenz, nicht wahr? Bist du sicher, dass …“

„Ich hab schon oft genug dabeigesessen, oder?“

Ein Geräusch ließ sie beide innehalten, die Tür der Polizeistation öffnete sich, und herein trat ein kleiner Mann in einem schäbigen, braunen Anzug, der einen Einkaufstrolley hinter sich herzog.

„Edamer“, stellte er sich vor. „Ich soll hier einen Kommissar treffen.“

„Das bin ich.“ Mirko reichte dem kleinen Mann die Hand. „Ich heiße Frenzel.“

„Edwin Edamer“, ergänzte der, den Händedruck erwidernd. „Rentner und Flaschensammler. Ich habe den Mörder gesehen.“

***

In der Gerokstraße ging Anna-Maria Semmler unruhig und telefonierend im Schlafzimmer auf und ab.

„Wie meinst du das? Tom könnte etwas zugestoßen sein?“

„Wie ich es geschrieben habe“, entgegnete Selina sachlich. „Loretta hat mich angerufen. Sie war gestern mit Tom verabredet und wollte ihn besuchen, da …“

„Loretta? Warum? Warum wollte sie ihn besuchen?“

„Mein Gott, das ist doch jetzt egal. Loretta ist auch so eine, die sich immer in die Falschen verknallt …“

„Wieso auch?“ Anna-Maria bemerkte, dass ihre Stimme ein paar Tonlagen zu weit nach oben gerutscht war und atmete tief durch. „Bei mir ist das ganz anders, es…“

„Beruhige dich, mein Kind.“ Selina sprach tief und geduldig. „Hör auf, immer nur an dich zu denken. Für Eifersüchteleien ist jetzt nicht die rechte Zeit. Es ist nicht wichtig, was Loretta bei ihm wollte. Sie wollte ihn besuchen, was nicht ging. Weil fremde Leute in der Wohnung waren. Wie im Krimi, sagt Loretta. Leute, die weiße Anzüge trugen und alles untersucht haben.“

„Und Tom? Wo war Tom?“

„Sie hat nicht nach ihm gefragt. Ist nur ein paar Treppen weiter hochgestiegen, hat ein paar Minuten gewartet und ist gleich wieder abgehauen.“

„Blöde Kuh.“ Anna-Maria, die Loretta nur vom Sehen kannte, setzte sich aufs Bett. Ihr Herz klopfte, im Bauch verbreitete sich ein flaues Gefühl.

„Falsch, mein Herzblatt“, korrigierte sie Selina. „Du hättest auch nichts anderes getan. Niemand will in etwas hineingezogen werden.“

„Aber warum?“ Anna-Maria kreischte fast. „Was soll ihm denn passiert sein?“

„Lies die Samstagszeitung. Am Freitag wurde im Schlossgarten ein toter Mann gefunden. Tom war doch dort. In der Nacht zum Freitag. Mit Gerhard auf Patrouille. Oder etwa nicht?“

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