Читать книгу Schlossgartensterben - Stefanie Wider-Groth - Страница 9
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ОглавлениеEmmerich träumte. Zu Hause hatte er selten Gelegenheit, lange genug in den Federn zu verweilen, um in jenen merkwürdigen Zustand zwischen Wachen und Schlafen zu geraten, in dem es ihm gelang, einen Traum bewusst wahrnehmen zu können. Umso interessierter verfolgte er nun das abstruse Geschehen, das sich in seiner Vorstellung abspielte, seit geraumer Zeit folgte er einem Mann in einer hellen Jacke über eine Wiese und stolperte dabei immer wieder über Löcher und kleine Hindernisse. Aus den Löchern quoll etwas, das aussah wie Kaffeesahne. Emmerich hatte das diffuse Gefühl, dass dieses Zeug irgendwie gefährlich war und langsam in den Stoff seiner Hosen eindrang, jedoch war es ihm unmöglich, umzukehren. Der Mann erreichte einen einzelnen, grauen Felsblock, wo er stehen blieb und sich zu entkleiden begann. Nicht ausziehen, rief Emmerich, ohne zu wissen, weshalb, und hörte den Mann antworten:
„Hossa! Hossa! Hossa, Hossa, Hossa!“
Emmerich kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Das Traumbild verflüchtigte sich, nicht aber die Stimme, die ihre „Hossa“-Rufe beharrlich wiederholte. Die Stimme, so wurde Emmerich langsam klar, gehörte Rex Gildo, verstorben zwar, aber keineswegs als ein Teil seines Traumes aus dem Jenseits agierend, sondern vielmehr als neuester Klingelton von Gabis Handy, das – zusätzlich vibrierend – auf dem Nachttisch herumbrummte. Emmerich richtete sich schlaftrunken auf, stellte fest, dass seine Gattin das eheliche Lager bereits verlassen hatte und griff nach dem Telefon. Es war dasselbe Modell wie sein eigenes, er hatte es vor einiger Zeit günstig – zwei für eins – im Sonderangebot erstanden und daher keine Schwierigkeiten, die grüne Taste zu finden, die er nun beinahe mechanisch drückte:
„Jepp?“
„Frau Emmerich?“, fragte fordernd eine männliche Stimme. „Könnte ich wohl Ihren Mann sprechen?“
„Sie sprechen bereits mit ihm“, entgegnete Emmerich, dem die Stimme bestens bekannt war, träge. „Morgen, Chef.“
„Morgen?“, kam die entrüstete Antwort. „Es ist kurz vor Mittag.“
„Schon?“
„Sagen Sie bloß nicht, ich hätte Sie geweckt.“
„Aber nein“, log Emmerich höflich, an der Anzeige des Reiseweckers die tatsächlich schon fortgeschrittene Zeit ablesend.
„Ich brauche Sie dringend“, erklärte sein Vorgesetzter ohne weitere Rückfragen. „Wann können Sie hier sein?“
„In Stuttgart?“
„Wo sonst? Auf Sansibar vielleicht?“
„Ich bin noch im Urlaub. In Bayern.“
„Hier gibt’s einen Leichenfund mit mutmaßlichem Fremdverschulden. Das übernehmen Sie. Bis Sie zurück sind, setze ich Frenzel darauf an. Nur, damit Sie Bescheid wissen.“
„Das heißt, wir sprechen uns Montag?“
„Nein, heißt es nicht. Ich fliege morgen in aller Herrgottsfrühe für zwei Wochen nach Portugal. Sie müssen ohne mich klarkommen. Verstärkung nur, wenn’s nicht anders geht. Hier hat keiner mehr Zeit. Bei dem bisschen Personal, das man wegen dieser blöden Krise noch zur Verfügung hat.“
Emmerich gähnte. Ohne den Chef klarzukommen, gehörte sicher nicht zu den Dingen, die ihn überfordern würden, ebenso wie er es gewohnt war, keine Verstärkung zu erhalten. Bei der Polizei wurde gespart, seit Jahren schon und lange bevor die Wirtschaftskrise begonnen hatte.
„Haben wir uns verstanden?“, wollte der Chef in forschem Tonfall wissen.
„Aber sicher“, gähnte Emmerich ein zweites Mal. „Gute Erholung wünsche ich Ihnen.“
„Ebenfalls. Wenn ich zurück bin, will ich Ergebnisse sehen.“
Emmerich war nun endgültig wach und sich darüber im Klaren, dass sein Urlaub frühzeitig zu Ende war. Nachdenklich starrte er das Handy an und überlegte, warum der Chef wohl Gabis Nummer gewählt haben mochte, bis ihm einfiel, dass er sein eigenes − um jedweder Störung vorzubeugen − absichtlich zu Hause vergessen hatte. Eine Maßnahme, die sich nun als nutzlos erwies. Emmerich schlug die blau-weiß gemusterte Bettdecke zurück, tauschte seinen Schlafanzug gegen Jogginghose und T-Shirt und ging ins Wohnzimmer des zweckmäßig eingerichteten Ferienapartments. Auf dem Esstisch entdeckte er eine Thermoskanne nebst Tasse sowie einen Zettel. Bin gegen Mittag zurück stand in Gabis schönster Schreibschrift darauf. Emmerich schenkte sich Kaffee ein und dachte, dass dies ein recht dehnbarer Begriff war. Angenommen, „Mittag“ begänne um zwölf, blieb ihm gerade noch eine halbe Stunde, um sich in einen präsentablen Zustand zu versetzen. Oder, um mit Frenzel zu telefonieren. Wie er seine Frau kannte, war kaum mit einer wohlwollenden Reaktion auf geschäftliche Belästigungen während der knapp bemessenen gemeinsamen Ferienzeit zu rechnen. Es galt also, die Zeit ihrer Abwesenheit zu nutzen. Emmerich nahm das Handy, wählte die Nummer des Stuttgarter Polizeipräsidiums und fügte Frenzels Direktwahl an.
„Bist du das, Mirko?“, fragte er, als nach dem zweiten Klingeln abgenommen wurde.
„Wer sonst?“, fragte der jüngere Kollege kurz angebunden zurück. „Es ist meine Nummer.“
„Der Chef hat mich angerufen. Was ist das für eine Leiche?“
„Männlich, Ende zwanzig bis Mitte dreißig“, schnarrte Frenzel unwirsch. „Ich dachte, du bist noch im Urlaub.“
„Stimmt schon. Trotzdem soll ich den Fall übernehmen.“
„Ist mir bekannt. Im Moment eilt es nicht. Die Spurensicherung arbeitet. Mit der Identifizierung sind wir auch noch nicht so weit. Kein Grund, sich den Urlaub versauen zu lassen, ich komme schon klar.“
„Sehr rücksichtsvoll.“ Emmerich konsultierte die vorrückenden Zeiger seiner Armbanduhr. „Trotzdem … gib mir schnell die wichtigsten Fakten. Gabi ist gerade unterwegs.“
„Ist dir langweilig, oder was?“, stichelte Frenzel und kicherte.
„Komm schon …“
„Wir wissen noch nicht viel. Der Tote wurde im Schlossgarten gefunden. Hinter einem Denkmal. Heute früh, so gegen fünf oder halb sechs. Keine Papiere, kein Handy, nur so ein Plastikdings in der Gesäßtasche. Könnte eine Kundenkarte oder ein Mitgliedsausweis sein. Da steht ein Name drauf, und wir versuchen gerade, herauszufinden, ob es seiner ist.“
„Todesursache?“
„Schussverletzung.“
„Suizid?“
„Glaub ich kaum, so wie der aussah.“ Frenzels Stimme klang eine winzige Spur gereizt. „Sicher kann ich natürlich erst nach der Obduktion sein. Das dauert seine Zeit. Es gibt wirklich nichts, was ich dir im Moment konkret sagen könnte.“
Im Hintergrund vernahm Emmerich das Klingeln eines Telefons.
„Hör zu“, sagte Frenzel hastig. „Ich hab jetzt gerade wirklich keine Zeit. Wir sehen uns am Montag. Mach dir keine Sorgen, und grüß Gabi von mir.“
„Sicher nicht“, entgegnete Emmerich ins Leere hinein, trank noch einen Schluck Kaffee und trug das Handy zurück zum Nachttisch. An der Wohnungstür vernahm er Geräusche, ihm blieb gerade noch Zeit, wieder auf die rustikale Eckbank zu schlüpfen und einen entspannten Eindruck zu machen.
„Hi“, lächelte Gabi, mit Tüten beladen, von denen mindestens zwei unübersehbar den Namen des Trachtenmodengeschäftes trugen. „Bist du gerade erst aufgestanden?“
„Gewissermaßen“, gähnte Emmerich und räkelte sich demonstrativ.
„Gewissermaßen?“
„Ich hab schon eine Tasse Kaffee getrunken.“
„Du hättest dich wenigstens rasieren können.“
„Weißt du, Spatz“, sagte Emmerich listig, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen, „dass du sehr gut aussiehst, heute? Richtig erholt?“
„Du auch“, gab seine Gattin das Kompliment zurück. „Im Prinzip. Mit einer Rasur würdest du besser aussehen.“
„Findest du?“
„Ein frisches T-Shirt würde auch nicht schaden.“
„Ein frisches T-Shirt? Wegen einem Tag?“
„Du hast dieses hier schon die ganze Woche an. Wenn’s reicht.“
„Aber nur hier drin“, insistierte Emmerich, der keinen Sinn darin entdecken konnte, ein für seine Begriffe äußerlich vollkommen sauberes Hemd durch ein neues zu ersetzen, das dann zusätzlich gewaschen werden musste. „Wenn wir ausgehen …“
„Mein Stichwort“, fiel ihm Gabi unternehmungslustig ins Wort. „Was machen wir heute?“
„Heute? Ich dachte, du wolltest packen.“
Ihrem Gesichtsausdruck konnte er unschwer entnehmen, dass dies die falsche Antwort gewesen war.
„Erstens“, wurde er umgehend informiert, „packe nicht ich, sondern wir. Und zweitens ist das Wetter super. Das sollten wir noch einmal ausnützen.“
Emmerich versuchte, Zeit zu gewinnen, indem er sich eine weitere Tasse Kaffee einschenkte, musste aber feststellen, dass die Thermoskanne leer war. Seine Gedanken weilten bei Mirko Frenzel und einer Leiche hinter einem Stuttgarter Denkmal. Wobei, wenn man es genau bedachte, sich die Leiche in der Zwischenzeit vermutlich nicht mehr dort befand. Und anmerken lassen durfte er sich seine Gedanken ohnehin besser nicht. Dennoch widerstrebte es ihm, sich aus der Reichweite von Gabis Handy zu entfernen, das sie bei gemeinsamen Unternehmungen im Urlaub für gewöhnlich nicht mitnahm.
„Erzähl mir lieber, was du eingekauft hast“, machte er daher einen halbherzigen Versuch, sie von potenziellen Ausflugszielen abzulenken, was ihm erwartungsgemäß misslang.
„Alles Mögliche“, nuschelte Gabi vage. „Wir könnten uns noch diese Almbachklamm ansehen, die soll sehr romantisch sein.“
Emmerich bezweifelte, dass ein Handy in einer schmalen Klamm eingehende Anrufe empfangen würde, und fand nach kurzem Nachdenken eine andere Lösung.
„Auch meinen Schnaps?“, fragte er liebenswürdig. „Hast du den auch bekommen?“
„Was denn für einen Schnaps?“ Gabi krauste die Stirn und sah ihn argwöhnisch an.
„Meinen Enzian. Und eine Flasche von diesem Kräuterlikör. Der meinem Magen so guttut. Wir hatten ausgemacht, dass wir etwas davon mit nach Hause nehmen.“
„Ach?“, sagte Gabi ungläubig. „Das hatten wir ausgemacht?“
„Aber sicher“, flunkerte Emmerich virtuos und erhob sich. „Komm, wir fahren in die Salzburger Straße zur Brennerei. Ich zieh mir nur noch schnell ein frisches T-Shirt über.“
***
Anna-Maria Semmler, geborene Kolb, stand auf der Terrasse ihres Hauses im Stuttgarter Osten, hatte sich ein Paar übergroße Gartenhandschuhe angezogen und entfernte mit angeekelter Miene einige Schnecken aus den Blumenkübeln. Der Mai neigte sich seinem Ende zu, abgesehen von kühlen Temperaturen, reichlich Regen und Schnecken hatte er in diesem Jahr wenig gebracht und dennoch ihr Leben verändert. Durch die halb geöffnete Terrassentür hörte sie Horst telefonieren:
„Ja … das können Sie schreiben … unsere Mitarbeiter sind unser wertvollstes Kapital … nein, Unternehmenszahlen kann ich Ihnen nicht nennen, aber wir sind gut aufgestellt für die Zukunft …“
Anna-Maria sog scharf die Luft ein und stieß sie mit einem Schnauben wieder aus. Die Kolb & Semmler GmbH beschäftigte seit geraumer Zeit und von Jahr zu Jahr weniger eigene Mitarbeiter, aber Horst würde sich hüten, etwas Derartiges einem Pressefritzen auf die Nase zu binden. Früher war das anders gewesen, da hatte man sich die Arbeiter und Handwerker noch nicht für billiges Geld aus Osteuropa besorgen und nach getaner Arbeit wieder nach Hause schicken können. Anna-Marias Gedanken wanderten zurück in ihre Kindheit, als sie in Gummistiefeln an der Hand ihres Vaters durch endlose Baustellen gestapft war. Damals hatte es Platz gegeben in der Stadt, der Krieg hatte Brachflächen hinterlassen, die eine ganze Generation mit Arbeit versorgten. An eine erinnerte sie sich besonders gut, ein Geviert aus behelfsmäßigen Baracken, von den Einheimischen „Vereinigte Hüttenwerke“ genannt. Freundliche, sehr üppige Damen in kurzen Röcken und tief ausgeschnittenen Oberteilen hatten sie dort regelmäßig mit Bonbons und Lutschern beschenkt, bis ihr Vater dies mittels energischer Zurechtweisungen unterbunden hatte. Seit den 80er-Jahren ragten am selben Ort die Klötze des Schwabenzentrums in die Höhe, Kolb senior hatte daran sicherlich ebenso gut verdient wie beim Bau der S-Bahn oder seinen weiteren Unternehmungen. Heute dagegen war der Stuttgarter Kessel voll, er platzte sozusagen aus allen Nähten, die Topografie ließ eine weitere Ausdehnung der Innenstadt nicht zu. Was im Prinzip nichts Schlechtes war, wie Anna-Maria dachte, doch für die Kolb & Semmler GmbH war dies natürlich keine befriedigende Situation. Horst leitete sie seit knapp zehn Jahren alleine, Anna-Maria allerdings brachte den Geschicken der Firma derzeit nur mäßiges Interesse entgegen. Im Moment sogar genau genommen gar keines, wäre da nicht Horst gewesen, der durch die Terrassentür trat und fragte:
„Hat ein Herr Glöckner angerufen, während ich heute Vormittag im Büro war?“
„Nicht, dass ich wüsste.“ Anna-Maria streifte die Handschuhe ab und legte sie samt der noch daran haftenden Schnecken auf ein Tischchen. „Wer ist das?“
„Ein wichtiger Geschäftspartner. Sagst du mir jetzt, wo du gestern Abend warst?“
„Seit wann interessiert es dich, was ich mache?“
„Anni, bitte …“
„Ich mag es nicht, wenn du mich Anni nennst.“
„Es hat dich zwanzig Jahre lang nicht gestört.“
„Doch.“
Horst kniff die Augen zusammen und blähte die Backen auf.
„Verzeihung, ich habe jetzt keine Zeit, mich mit dir zu streiten …“
„Du hast nie Zeit.“
„… aber heute Abend … heute Abend will ich wissen …“
„Ich war mit Sally zusammen.“
„Du warst wieder bei diesen Leuten?“
„Selina ist meine Freundin. Ich bin eine erwachsene Frau. Ich kann machen, was ich will.“
„Kannst du nicht. Selina steht auf der falschen Seite. Du bist der Firma etwas schuldig.“
„Sag bloß …“
Horsts Handy klingelte, er zog es aus der Innentasche seines Jacketts.
„Glöckner“, erklärte er knapp. „Ich muss los. Wir sprechen später darüber. Heute Abend …“
***