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Tag 5: Im Schloss
ОглавлениеDas erste Mal auf dieser Reise erwache ich in meinem Bus. Waldemar steht vor dem Stall in Groß Eichsen, in dem sich meine Großeltern früher um Schweine, Tauben, Katzen, Hühner und Enten kümmerten. Vor meiner Geburt hatten sie auch mal eine Kuh.
Ein kleines Dorf vor Schwerin: ein See, ein Friedhof, ein Bauer, ein Wald und eine Kirche aus dem Mittelalter. Für etwa zehn Familien bildet Groß Eichsen ein Zuhause. Ich muss etwa sieben Jahre alt gewesen sein, als ich mit Opa Jochen an der Kirche vorbei zum See ging. Wir fuhren mit seinem Angelkahn hinaus. Es war nicht das erste Mal, dass er mich mitnahm, als Kind war ich oft hier, aber an diesem Tag fing ich meinen ersten Aal. Ich war fasziniert von diesem sich schlängelnden Wesen. Aale sind wie Fische und auch wie Schlangen. Wenn Menschen sie nicht hindern, überqueren sie in ihrem Leben einen ganzen Ozean, schlängeln sich über feuchte Wiesen und schwimmen durch Flüsse, nur um am Ende ihres Daseins den ganzen Weg wieder zurückzukehren. Warum? Das weiß kein Mensch genau.
In Groß Eichsen sah ich auch meine erste Bisamratte durchs Wasser huschen, sammelte meine ersten Champignons, blickte das erste Mal in Wildschweinaugen, lernte Moped- (mit dem S51 von Opa Jochen) und Autofahren (mit dem Trabant von Opa Jochen). Opa Jochen verstand mich oft und half mir bei vielem. Seit 2010 liegt er auf der anderen Straßenseite auf dem Friedhof der Kirche, Krebs. Ich vermisse ihn ähnlich wie Kathrin.
Ich mache mir einen Kaffee, dusche im Badezimmer meines Onkels und denke an Happy. Wir haben uns um 11 Uhr bei der Caritas verabredet. Als ich in Schwerin ankomme, bin ich fast eine halbe Stunde zu spät. Happy ist nicht mehr da. Und Telefonnummern wollten wir erst heute austauschen. Ich gehe zum Pfaffenteich. Doch da, wo er und sein Kumpel mit der Zigarette gestern saßen, hat das Landespolizeiorchester heute Posaunen, Trompeten, Pauken und Lautsprecher aufgebaut. Sie spielen Griechischer Wein. Kein Punker weit und breit zu sehen.
Ich ärgere mich über meine Unpünktlichkeit, laufe durch die Innenstadt und treffe Hans, der in der Fußgängerzone mit drei weißen Schäferhunden sitzt. Neben ihm liegen ein Schafsfell, eine Packung Hundefutter und ein selbstgemaltes Schild: „Schäfer ohne Arbeit.“ Ich zeige Hans auf meinem Handy ein Foto von Happy und gebe ihm einen Zettel mit meiner Nummer, falls Happy vorbeikommen sollte. Dann gehe ich schnell weiter Richtung Schlossinsel.
600 Zimmer und 953 Türen soll das Schweriner Schloss haben. Noch bevor ich durch die erste gehe, frage ich mich, wie ein Schloss in einem Märchen auszusehen hat. Es gibt ja keine Definition. Aber dieses Gebäude, komplett umgeben von Wasser, mit den uralten Bäumen im Park, mit dem gepflasterten Innenhof, gekrönt mit unzähligen vergoldeten Dachspitzen, die wie Pfeile in den Himmel ragen – dieses Gebäude auf dieser Schlossinsel sieht sehr märchenhaft aus.
In einem der Schlosstürme befindet sich das Büro von Armin Tebben, dem Direktor des Landtages, mit dem ich verabredet bin. Der 1960 Geborene trägt einen dunklen Anzug und eine rosafarbene Krawatte. Eigentlich sei er Jurist, sagt er. Doch wer ihn länger als eine Stunde über die Restauration des Schlosses reden hört, könnte ihn auch für einen Bauleiter halten, der sich in seine Baustelle verliebt hat. 1993 betrat Tebben das Schloss zum ersten Mal, 2000 wurde er Direktor des Landtages und so zum obersten Bauherren der Anlage. Er organisierte die Sanierung der Außenfassade und den Neubau des Plenarsaals. Tebben erzählt von einem ölverschmierten Vogel, den mal jemand aus Protest gegen die Landesregierung ins Parlament geschleppt habe, und von der NPD, die zehn Jahre im Landtag vertreten war. Ich nippe an meiner Kaffeetasse, höre zu und sehe mich um. Egal, aus welchem Fenster seines Büros man schaut, es sieht immer atemberaubend aus. Erst als er mir erklärt, worin sich aus seiner Sicht NPD und AfD unterscheiden, sind wir nicht einer Meinung.
Die NPD-Abgeordneten wurden über zwei Legislaturperioden von den übrigen Parteien im Landtag ausgegrenzt, sagt Tebben. Doch mit der AfD sei das anders. Auch wenn ihre Mitglieder sich ähnlich rassistisch verhielten, würden sie nicht mehr in gleicher Form ausgeschlossen. Man reiche sich mittlerweile die Hand. „Ernsthaft?“, frage ich. Ich erinnere mich an den Schweriner Weg. Unter diesem Namen ist die Blockade der demokratischen Parteien gegen die NPD bekannt geworden. Drei Grundsätze gehörten dazu:
ERSTENS: Jedem Antrag, der von der NPD-Fraktion eingebracht wird, entgegnet für die demokratischen Fraktionen jeweils nur ein einziger Abgeordneter.
ZWEITENS: Jeder Antrag, der die NPD-Fraktion eingebringt, wird von den demokratischen Fraktionen geschlossen abgelehnt.
DRITTENS: An politischen Informations- und Diskussions-Veranstaltungen nehmen die demokratischen Abgeordneten nur dann teil, wenn kein Vertreter der NPD eingeladen ist.
2006 überzeugte die NPD 7,3 Prozent der Wähler und errang sechs Landtagsmandate. Nach Unterzeichnung des Schweriner Weges schaffte die Partei es bei der nächsten Wahl 2011 mit 6 Prozent knapp noch einmal in den Landtag. Und 2016 gelangte die NPD dann nicht mehr ins Parlament. Tebben entgegnet, dass 2016 dafür die AfD nach einem Wahlkampf gegen Flüchtlinge 20,8 Prozent der Wählerstimmen erreichte. Und, sagt er, man könne eine Partei, die so viele Wähler überzeugte, nicht einfach ausgrenzen. Ich widerspreche. Der Schweriner Weg sei gegen die NPD erfolgreich gewesen und müsse gegen die AfD fortgesetzt werden. Dann belassen wir es dabei. Tebben kennt sich im Schweriner Politbetrieb besser aus. Und ich möchte, dass er mir noch den Plenarsaal zeigt.
In Brüssel, in Straßburg, in Kiew, Berlin, Rom und im Westminster Palace in London, wo die Mutter aller Parlamente ihr Zuhause hat, habe ich mir als Reporter die Streitkammern der Demokratie angeschaut. Diese Räume, die zum Zweck der Debatte erbaut wurden, strahlen alle etwas Einzigartiges aus. Das Schweriner Parlament im Schloss kenne ich noch nicht. Tebben grinst in seinen Stoppelbart. Wir gehen los.
Weiß und schlicht wirkt der Plenarsaal des Parlaments. Pompösen Schnickschnack oder Luxus kann man dem Architekten nicht vorwerfen. Die Namen der 71 Volksvertreter sind mit weißem Klebestreifen an den Tischen angebracht. Und würde durch die farblosen Wandbretter nicht das Schloss durchschimmern, man könnte glauben, im Tagungsraum einer Klinik zu stehen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, als das heutige Mecklenburg-Vorpommern erst Teil der Sowjetischen Besatzungszone und dann der DDR wurde, saß das Parlament für wenige Jahre bis zu seiner Auflösung schon einmal im Schloss. Dann zog bis 1981 eine Pädagogische Schule zur Ausbildung von Kindergärtnerinnen und Kindergärtnern ein. Auch meine Oma Elsbeth, die Frau von Opa Jochen, erlernte hier ihren Beruf und wohnte während dieser Zeit in der einstigen Residenz.
Tebben und ich gehen weiter, Stufe um Stufe höher. Wir kommen an einer kleinen Kirche, die Teil der Anlage ist, und an zwei leeren historischen Särgen vorbei, die auf einem der vielen Dachböden stehen und aus dem 19. Jahrhundert stammen sollen. Ich mache ein Foto nach dem anderen und begreife, dass es nur eine Frage der Zeit sein kann, bis all das zum UNESCO-Welterbe ernannt wird.
Als wir den höchsten Punkt auf dem Schlossturm erreicht haben, findet der Blick kein Ende mehr. Von oben sieht alles – die Altstadt, der Dreesch, Menschen, Autos, Seen, Bäume und Gebäude – klein wie in einer Playmobil-Welt aus. Irgendwo da unten ist bestimmt Happy.