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Tag 3: Die alte Wohnung

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Die Sonne scheint mit voller Energie, ein heißer Augusttag. Nach dem Aufstehen gehe ich am Ufer des Pfaffenteichs spazieren. Möwen segeln über den Vormittag. Dieser Teich, mitten in der Stadt, erinnert mich an die Binnenalster in Hamburg. Ein bisschen ist Schwerin ja wie Hamburg, denke ich, nur weniger von sich selbst überzeugt.

Nachmittags komme ich in der Pension Karina an, die es schon im Jahr 2000 gab. Das winzige Hotel befindet sich in der Nähe der Wohnung, in der ich einst mit Kathrin gelebt habe. Das Bett in meinem Zimmer steht direkt unter dem Fenster zur Werderstraße.

Ich stelle den grauen Karton und meine Tasche ab und gehe wieder hinaus. Der alte An- und Verkauf an der Ecke Robert-Koch-Straße ist noch da, sonst ist einiges anders. Ein Banken- und Versicherungsunternehmen hat seinen Firmensitz neu gebaut, ein majestätisches Gebäude, vor dem der Rasen kurzgemäht ist. Ich gehe weiter bis in die Joseph-Haydn-Straße. Der Kindergarten gegenüber unserem Hauseingang hat sich kaum verändert. Aus einigen Fenstern im Erdgeschoss des Wohnblocks dringen Töne eines Fernsehers. In einer anderen Wohnung schreit ein Baby. Die Eingangstür ist noch die gleiche: Holz, in Blau und in Weiß gestrichen. Ganz oben haben wir gewohnt.

Soll ich einfach klingeln? Ohne lange zu überlegen, drücke ich auf den Klingelknopf oben rechts. Mein Herz schlägt schneller. Niemand öffnet. Einen Augenblick stehe ich vor der Tür, durch die ich vor etwa 20 Jahren fast jeden Tag gegangen bin. Zwei Männer kommen vorbei und betreten das Haus. Bevor sich die Tür wieder schließt, folge ich ihnen. Sie verschwinden in einer Wohnung in der zweiten Etage. Ich gehe die Treppen weiter hinauf, bis ich vor unserer einstigen Wohnung stehe. Erinnerungen kehren zurück. In meinem Kopf sehe ich, wie es hinter der Tür ausgesehen hat: der kleine Schrank im Flur, unsere Schlafhöhle in der Dachschräge und der Dachbalken im Wohnzimmer.

Ich nehme einen Stift und ein Stück Papier aus meiner Tasche. „Hallo, meine Name ist Steffen Dobbert. Ich habe vor langer Zeit hier gewohnt. Jetzt bin ich wieder in Schwerin. Darf ich mit Ihnen/Dir mal sprechen? 15 Minuten wären toll. Bitte um kurze Nachricht.“ Den Zettel schiebe ich mit meiner Telefonnummer unter der Wohnungstür hindurch, drehe mich um und gehe die Stufen langsam wieder hinab. Unterwegs schießen Fragen durch meinen Kopf: Was, wenn mir jemand aufgemacht hätte – wäre ich wirklich einfach in die alte Wohnung gegangen? Was hätte ich gesagt? Und was mache ich hier eigentlich?

Unten auf dem Gehweg werde ich unruhig. Ich schaue in den Himmel und gehe schneller. Wenn ich ein Buch über Mecklenburg-Vorpommern schreiben soll, könnte ich zu den sechs, sieben wichtigsten Touristen-Attraktionen fahren – Ostseebäder, Kreidefelsen, Seenplatte. Irgendetwas würde ich darüber schon recherchiert und aufgeschrieben bekommen. Doch was unterscheidet mein Buch dann von vielen anderen? Nein! Ich muss auch da hinschauen, wo es schmerzen könnte. Ich bin der Ich-Erzähler auf dieser Reise. Und ich möchte eine Reportage über die Gegenwart dieses Landes schreiben, jenseits von Klischees und Tourismusmarketing.

Auf dem Rückweg zur Pension komme ich an einem Karton mit Spielsachen vorbei. Er steht mitten auf dem Bürgersteig. Ein altes verwuscheltes Kuscheltier und ein rotes Spielzeugauto von Hot Wheels liegen darin. „Nimm mich mit! :)“ hat jemand auf die Pappe geschrieben. Ich gehe weiter.

Als ich damals aus Schwerin abgehauen bin, wollte ich Kathrin nicht verlassen. Ich wollte sie nie verlassen. Aber nachdem, was hier passiert war, musste ich fortgehen und Abstand gewinnen.

In der Pension lege ich mich ins Bett, nehme den Deckel vom grauen Karton und lese ein paar Seiten in Kathrins Tagebüchern. Da sind die Erlebnisse unseres Ägyptenurlaubs und die Zeilen, die sie in unserer Wohnung zurückgelassen hat:

„Ich kann nicht anders. Die Angst vor dem Leben ist größer als die Angst vor dem Tod. Ich halt das nicht mehr aus. Trotzdem liebe ich Euch. Seid nicht traurig. Ich wollte es so.“

So hat Kathrin es auf die Rückseite eines Briefumschlags der Volksund Raiffeisenbank geschrieben. Wie eine schnelle Notiz oder eine Einkaufsliste, die man hinkritzelt, bevor man rasch in den Supermarkt geht. Danach hat sie sich am Dachbalken unserer Wohnung erhängt.

#heimatsuche

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