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II. Start in Schwerin: Tod oder Leben? „Die Angst vor dem Leben ist größer als die Angst vor dem Tod.“ (Kathrin, 2002) Tag 1: Moin!
ОглавлениеEinige Baustellen auf der A24, kein Stau. Ich fahre an Blumenwiesen, Kühen, Wäldern, Windrädern und Stoppelfeldern vorbei. Auf den Äckern neben der Autobahn haben viele Bauern ihre Ernte schon eingeholt. Strohballen haben sie zurückgelassen. Rund, wie riesengroße Smileys sehen sie aus.
Herzsprung, Ausfahrt 21. Es ist nur ein Ortsname, doch ich muss an Kathrin denken. Noch ein paar Kilometer bis zur Landesgrenze. Je näher ich MV komme, desto mehr Stoppelfelder sehe ich.
In Schwerin parke ich in der Innenstadt. Die Sonne wärmt das Kopfsteinpflaster. Ich steige aus dem Auto, gehe ein paar Meter und schaue meinen VW-Bus an. Meine Tochter nennt ihn oft Waldemar. Wie Waldemar an diesem Hochsommertag dasteht, mit seinem dicken „B“ auf dem Kennzeichen. Er könnte der VW-Bus eines Touristen sein, eines Touristen aus der Hauptstadt, der nun zu Fuß Schwerin erkundet und über die vielen historischen Gebäude staunt.
Durch enge Gassen gelange ich in die Altstadt, komme an Elektro Eckstein und an ehemaligen Büroräumen eines Ebay-Verkaufsagenten vorbei. Wie ein ausgesetzter Hund, der eine verlorene Fährte sucht, streune ich durch die Stadt. Eine Bäckerei-Filiale hat wegen Personalmangels geschlossen. Tauben suchen und finden Essensreste auf Gehwegplatten. Ich gehe weiter, bis zum Schloss. Umgeben von Seewasser ragt das märchenhafte Gebäude mitten in der Stadt in den Himmel. Fast jeder der vielen goldenen Türme glänzt in der Sonne. An einer Hauswand, dem Schloss gegenüber, bemerke ich ein etwa fünf mal fünf Meter großes Plakat: „Heimat trifft Gefühl“, dazu ein Foto von zwei Menschen, die sich umarmen.
Ich bleibe eine Weile stehen, schaue auf die groß gedruckte „Heimat“ und spüre ein Gefühl von Unsicherheit, das ich nicht genau deuten kann. 80 Tage? Die Reisezeit erscheint mir lang, vielleicht zu lang. Ich weiß noch nicht einmal, wo ich heute Abend schlafen kann.
Vielleicht kann Wolf Karge Orientierung geben. Er soll das sprechende Geschichtsbuch dieses Landes sein. Mehr als 30 Bücher hat er, der ehemalige Museumsleiter und Archivar, über Mecklenburg-Vorpommern geschrieben. Etwas Historie kann am Anfang so einer Reise nicht schaden, denke ich. Wer seine Vergangenheit kennt, rätselt vielleicht weniger in der Gegenwart. Ich gehe Richtung Dom und drücke auf den Klingelknopf mit dem Namen Karge.
„Hallo!“, klingt es aus der Tür des alten Hauses.
„Moin! Steffen Dobbert hier.“
„Willkommen! Zweite Etage.“
Wolf Karge, ein schlanker Mann mit Stoppelvollbart und runden Brillengläsern, der 1951 in Schwerin geboren wurde, bietet mir ein Glas Wasser an. Wir setzen uns an einen Holztisch in seinem Büro. Ich erzähle, was mich zu ihm führt. Über uns an der Wand hängt eine riesige Landkarte Mecklenburg-Vorpommerns.
„Heimat, was bedeutet das für Sie, Herr Karge?“
„Reines Bauchgefühl. Es endet nicht an einer Landesgrenze und hängt für mich mit einem Slang zusammen, also dem Klang einer Sprache.“
„Was ist Heimat?“
„Gegenfrage: Was ist typisch deutsch? Sauerkraut? Bauhaus? Schwarzwaldklinik? Rammstein? Merkel? Kohl? Die Volksmusikerin Stefanie Hertel? Die Kulturwissenschaft konnte das in vielen Forschungsjahren nicht eindeutig beantworten.“
„Und wo ist Ihre Heimat?“
Wolf Karge spricht von Heiligendamm, dem ersten Seebad auf Europas Festland. Dort, direkt an der Ostsee, sei er aufgewachsen und mit der Molli, einer dampfbetriebenen Schmalspureisenbahn, täglich zur Schule nach Bad Doberan gefahren. Er schätze Schwerin auch sehr, sagt Karge. Aber Heimat, das sei kein leichter Begriff. Einige Museen im Land glaubten, sie müssten das Wort neuerdings aus ihrem Namen streichen – weil es nicht mehr gut oder modern genug klinge. Andererseits gebe es Versuche, den Begriff positiv zu deuten. Von links, rechts, überall werde um den Heimat-Begriff wieder gerungen.
Ich erzähle, dass 80 Prozent der Mitglieder der DDR-Heimatvereine zuvor in der NSDAP gewesen waren. Und dass der Heimat-Begriff in den vergangenen Jahrhunderten immer dann besonders häufig diskutiert wurde, wenn sich eine Neuordnung der Gesellschaft vollzog. Als die Fürstentümer Europas zerbrachen und zahlreiche Männer mit der Sehnsucht nach einer eigenen Nation in Kriege zogen. Als im 19. Jahrhundert die Industrialisierung Kontinentaleuropa erreichte und viele aus den Dörfern in die Fabriken der Städte zogen. Als die beiden Weltkriege endeten und heimatlos Gewordene eine neue Heimat suchen mussten.
Und heute? Wolf Karge und ich überlegen. Womöglich erleben wir nun eine vierte Phase, in der Heimat wieder häufig diskutiert wird. Vielleicht liegt es an der Erfindung des Internets, am weltweit vernetzten Handelssystem, an immer schneller fahrenden Zügen, Autos und Schiffen, an Handys und Laptops, die Videogespräche zwischen Hanoi und Anklam ermöglichen. Denkbar, dass uns ausgerechnet die Errungenschaften der Globalisierung stärker nach Orten oder Gemeinschaften suchen lassen, mit denen wir uns heimatlich verbunden fühlen.
Dann berichte ich Karge von den Worten, die ich nach meiner Ankunft auf dem Plakat gesehen habe: „Heimat trifft Gefühl!“
„Das ist PR!“, sagt er trocken.
Was hatte ich eigentlich erwartet? Zwei Männer, die am ersten Tag dieser Reise bei einem Glas Wasser über ihre Heimat-Gefühle philosophieren, bis ihnen Tränen in die Augen steigen? Nicht mit Wolf Karge. Wir sind uns einig. Es ist schon schwer, eine Heimatdefinition in Bezug auf Deutschland zu finden. Architektur und Kultur sind hierzulande mindestens europäisch geprägt.
„Eins noch“, sagt Karge: „Kein Mecklenburger benutzt das Wort Moin! Geht nicht! Kommt vermutlich aus Schleswig-Holstein. Die Mecklenburger sagen: Tach. Und Schwätzer hängen noch etwas dran. Taching oder so. Es gibt da im Plattdeutschen feine Unterschiede.“
Ich nehme einen Schluck Wasser. „Moin“ ist das einzige, das ich jedem gerne in Gedenken an meine Herkunft aus dem Norden zur Begrüßung entgegenschleudere. Ausgerechnet das soll heimattechnisch falsch sein?
Trotzdem: Ich mag Wolf Karge, weil er viel weiß, aber seinen Doktortitel nie erwähnt. Und weil er mir Tipps für meine Reise gibt: das Künstlerdorf Ahrenshoop auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst, die Insel Hiddensee und den Hügel der unbekannten Toten, einen Soldatenfriedhof auf der Insel Usedom in Kamminke, von dem ich noch nie etwas gehört habe. Ich schreibe mir Notizen ins Handy, bedanke mich und gehe nach einem Händedruck hinaus in die Stadt.
Wieder laufe ich durch die Gassen der Altstadt. Jetzt kehrt die Erinnerung zurück: Marktplatz, Puschkinstraße, Schloßstraße, Marienplatz und dann immer gerade hoch. Bevor wir damals in unsere kleine Dachgeschosswohnung gezogen sind, hatte ich Kathrin oft bei ihren Eltern besucht. Deren Haus steht noch immer in der Voßstraße. Der Putz an der Garagenwand kommt mir vertraut vor. Ob ich einfach klingeln kann, ohne Voranmeldung nach so vielen Jahren?
Ich weiß nicht.
Ich klingele.
Ein Hund bellt. Die Tür geht auf. Der Hund, groß wie ein kleines Kopfkissen, und Heidi, Kathrins ältere Schwester, stehen vor mir. Vor etwa 17 Jahren haben wir uns das letzte Mal gesehen. Ohne zu zögern umarmen wir uns und reden eine Weile. Ich erzähle über dieses Buchprojekt, was mich nach Schwerin führt.
Ihre Mutter sei vor wenigen Jahren kurz nach ihrem Vater gestorben, sagt Heidi. Krebs, beide. Ihr Vater habe es bis zu seinem Tod nicht überwunden, dass er es gewesen sei, der Kathrin damals gefunden habe. Viele Dinge ihrer Schwester musste sie wegschmeißen, sagt Heidi. Aber ein Karton sei noch da, mit Fotos und Tagebüchern von Kathrin. Ob sie den holen solle?
Der kleine Hund leckt meine Füße. „Gerne, aber nicht mehr heute“, antworte ich. Das geht mir zu schnell.
Nachdem die Tür hinter mir ins Schloss gefallen ist, atme ich durch und schaue in den Himmel. Langsam gehe ich entlang der Straßenbahnschienen Richtung Marienplatz. Auf der Eisenbahnbrücke in der Wittenburger Straße bleibe ich kurz stehen. Etwas Abendsonne scheint durch die Wolken hindurch. Auf dem Giebel eines Wohnhauses leuchtet in der Dämmerung ein Wandbild. Es zeigt den Wasserkreislauf der Natur.
Die Luft riecht nach Sommer. Es ist ein schöner Abend.