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Tag 2: Verfolgungsjagd mit der Stasi
ОглавлениеIch erwache auf der Couch im Arbeitszimmer einer Wohnung, die mir fremd ist, gehe ins Wohnzimmer und entdecke einen Zettel auf dem Tisch: „Kaffee ist in der Kanne“. Das muss Christina geschrieben haben, vermute ich, bevor sie zur Arbeit nach Rostock gefahren ist. Obwohl sie mich nie zuvor gesehen hatte, sie hier mit ihrem Freund wohnt und im vierten Monat schwanger ist, hat sie mich als Couchsurfer aufgenommen. Ich trinke einen Kaffee und blättere durch ein Buch, das ich für die Reise mitgenommen habe. „Atlas des Aufbruchs“ heißt es. Es geht um 1989 in MV. Ich lese von einem Wolfram Grafe, und Google sagt, er betreibe heute ein Geschäft in der Schweriner Innenstadt. Ich rufe an und habe Glück.
Wenn ich dieses Land begreifen will, muss ich bei den Anfängen beginnen. Und einer der Anfänge MVs liegt in der Revolution 1989 – ohne die gäbe es das Bundesland heute nicht und ich hätte als Thälmannpionier ein rotes Halstuch bekommen.
Ich gehe an der Paulskirche vorbei zum Pfaffenteich. Winzige Wellen laufen über die Wasseroberfläche. Eine Entenfamilie schwimmt hastig über das Wasser. Wirkt so, als hätte sie heute noch etwas vor. Ich beeile mich.
1989, am Wochenende nach dem Mauerfall, fuhren meine Eltern mit mir das erste Mal über die Grenze „nach drüben“. Ich war sieben Jahre alt, und als wir ewig im Stau standen, boten unbekannte Menschen uns Kuchen, Kaffee und Tee zur Begrüßung an. Eine Frau schenkte mir ein selbstgenähtes Kuscheltier: hellblau und bärenähnlich sah es aus, mit Knopfaugen. Das blaue Bärenwesen saß nach diesem Wochenende noch lange in meinem Kinderzimmer. Die Revolution hatte seitdem für mich Knopfaugen.
Viel mehr habe ich vom Mauerfall und der Wiedervereinigung nicht mitbekommen. Was ein Volksaufstand wirklich bedeutet, erlebte ich erst, als ich als Reporter in der Ukraine arbeitete. Im Stadtzentrum Kiews starben am 20. Februar 2014 auf dem Maidan mehr als hundert Menschen. Einer von ihnen – Andrij Stepanowitsch Saienko, ein Name, den ich nie vergessen werden – wurde direkt vor meinen Füßen erschossen, weil er für mehr Demokratie und weniger Korruption auf die Straße gegangen war.
Warum kam es 1989 in DDR-Städten wie Schwerin nicht so weit? Mit dieser Frage im Kopf erreiche ich Wolfram Grafes Büro in der Münzstraße. Er trägt kleine, runde Brillengläser, eine schwarze Weste über einem blauen Hemd, helles Haar und einen grauen Bart. Auf dem Tisch liegt eine Packung Zigarren. Früher habe er Pfeife geraucht, sagt er, und macht uns zwei Tassen Kaffee. Dann setzt er sich in einen Lederstuhl und erinnert sich.
Ende der Achtziger arbeitete Grafe als Stadtjugendrat der evangelischen Kirche in der Oase, einem ausgebauten Boden einer Kirche auf dem Großen Dreesch. Das Ministerium für Staatssicherheit hörte damals sein Telefon ab und vor seinem Haus im Schleifmühlenweg stand fast immer ein Überwachungswagen. Eines Abends nahm sich Grafe einen Brief vom Schreibtisch, den er noch einstecken wollte. Von seiner Wohnung fuhr er mit seinem grünen Trabant los. Ein Lada der Stasi folgte ihm bis zur Post. Grafe warf den Brief ein und setzte die Fahrt fort. Der Lada folgte ihm immer noch. Es war nun schon kurz vor Mitternacht, leere Straßen – eigentlich alles wie gewohnt. Da stellte sich Grafe spontan eine Frage: Ob er die Stasi abhängen könne?
Er gab einfach mal Gas. Die Spitzel folgten ihm quer durch Schwerin bis auf die mehrspurige Ausfallstraße. Grafe raste sich einen kleinen Vorsprung heraus und wendete unerwartet über den Mittelstreifen. Als ihm der Stasi-Lada auf der Nebenfahrbahn entgegenkam, winkte er. Er hatte sie wirklich abgehängt. Die Staatssicherheit ist sogar langsamer als ich, dachte Grafe. Und als er wieder zu Hause ankam, sah er, wie vor seinem Haus schon ein anderer Lada wartete.
So sei das damals gewesen. Wegen der Verfolgungsjagd habe es keinen großen Ärger gegeben, sagt Grafe und setzt seine Kaffeetasse auf dem Tisch ab. Ich habe den Überwachungswahn der DDR in einigen Filmen gesehen: Gundermann oder Das Leben der anderen. Doch Grafes Augenzeugenbericht fesselt mich viel mehr. Seine Anekdote sagt: Die Stasi war immer da. Und einige der Überwachten hatten sich so sehr daran gewöhnt, dass sie sich sogar Späße erlaubten.
„Was war Ihr stärkstes Revolutionserlebnis?“, frage ich. Grafe überlegt nicht lange und erzählt vom 23. Oktober 1989. An diesem Montagabend, zwei Wochen nach der entscheidenden Demo in Leipzig, erreichte die Revolution die Bezirks- und Beamtenstadt Schwerin. Im schlimmsten aller Fälle, befürchtete Grafe, könnte es enden wie im Juni ’89 in Peking, als auf dem Tian’anmen-Platz mehrere Hunderte Menschen starben und die Protestbewegung gestoppt wurde. Für so ein Szenario hatten Grafe und seine Frau die Kinder sicherheitshalber bei Freunden untergebracht.
Zur Demo kamen in Schwerin etwa 40000 Menschen, viel mehr als gedacht. Mit brennenden Kerzen in den Händen liefen sie vom Dom erst eine Runde um den Pfaffenteich, vorbei am Arsenal-Gebäude der Polizei, und dann durch die Altstadt Richtung Schloss. Zunächst blieb es friedlich. Die Menschen sangen Lieder für mehr Freiheit und skandierten Rufe gegen den Unrechtstaat.
Am Platz vor der Schlossinsel trafen beide Seiten aufeinander. Die SED hatte zur selben Zeit eine eigene Kundgebung organisiert, Soldaten zusammenziehen und Waffen verteilen lassen. Es war ein ungleiches Kräftemessen. Die Demonstranten waren mehr, doch die Vertreter des Staates hatten Gewehre.
Und plötzlich wollten einige Demonstranten das Gebäude der SED-Bezirksführung stürmen. Vor allem die Jüngeren unter ihnen brüllten und waren entschlossen, Gewalt anzuwenden. Grafe versuchte sie zu beruhigen. Die Situation war unübersichtlich und brenzlig. Doch durch das Eingreifen von Grafe und anderen konnten die wütenden Demonstranten von ihrem Plan abgehalten werden. Sie brachen keine Tür auf. Die Soldaten feuerten keinen einzigen Schuss ab.
Einige Monate nach der Demo traf Grafe einen Mann, der in dieser Nacht des 23. Oktober dabei gewesen war. Als Soldat stand er mit geladener Waffe hinter der Tür des SED-Gebäudes – quasi gegenüber von Grafe. Hätten die Demonstranten die Tür aufgebrochen, hätte dieser junge Soldat den Schießbefehl seiner Vorgesetzten befolgen müssen.
Revolutionen sind Tage des Umbruchs, an denen jede und jeder Einzelne für sich entscheiden muss, wie weit er geht. Der Volksaufstand in der Ukraine war in meinem Leben ein Wendepunkt. Danach begann in mir ein Prozess des Nachdenkens und der Politisierung. Grafe erging es 1989 ähnlich. Er sah, dass Veränderung möglich ist. Der 23. Oktober 1989 zähle zu den spannendsten Tagen seines Lebens, sagt Wolfram Grafe.
Noch lange könnte ich ihm zuhören: Wie viele Kirchenoberen erst abwarteten und sich dann auf die Seite der Demonstranten stellten. Wie das Neue Forum gegründet wurde. Aber ich hatte Heidi etwas versprochen.
Als ich in der Voßstraße ankomme, warten Donuts auf dem Gartentisch. Heidis Tochter ist auch da. In ihrem Gesicht erkenne ich die Dreijährige, die damals morgens oft zu Kathrin und mir ins Bett geklettert kam. Sie ist nun eine junge Frau, die in Wismar studiert. Wir trinken Kaffee. Ich fühle mich entspannter als gestern und bemerke, wie vielfältig die Blumen in Heidis Garten blühen. Sie holt einen grauen Karton mit geriffelter Oberfläche aus dem Haus und stellt ihn vor uns auf den Tisch. Vermutlich habe Kathrin ihn irgendwann einmal bei Nanu-Nana gekauft, sagt sie. Kathrin liebte solche Krimskrams-Läden. Wir lachen, schauen kurz in den Karton – und reden über das Schweigen nach dem Tod.
Ob ich Kathrins Relikte nicht mitnehmen möchte, fragt Heidi. Ich überlege kurz, bedanke mich für ihr Vertrauen und gehe kurz darauf mit dem Karton unterm Arm zum Auto.