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Tag 4: Hallo Happy!
ОглавлениеSpät wache ich in meinem kleinen Pensionszimmer auf und liege noch eine Weile im Bett. Die Matratze fühlt sich hart an, das Bettlaken und die Decke sind weich. Manchmal ist das Schöne zu nah, um es gleich zu erkennen. Dann dusche ich lange, ziehe mich an und gehe zum Frühstück. Es gibt Rühreier, Käse-, Tomaten- und Fleischsalat. Einige Salate, das Obst und das Ei bereite sie selbst zu, sagt die Pensionsbetreiberin. Bevor sie zusammen mit ihrer Mutter das Gebäude in den 1990ern kaufte, waren hier eine Weinhandlung, eine Gastronomie, ein Fischladen, ein Geflügel- und Wild-Geschäft, eine Bäckerei und ein Milchmann untergebracht. Mehr als 200 Jahre ist das Haus alt, wurde also noch vor Willy Fogs Reise um die Welt gebaut. In den ersten Jahren kassierte ein Nachtwächter von den Hausbesitzern Geld dafür, dass er abends die Gaslaternen in der Werderstraße auslöschte.
Ich esse vom Rührei und habe immer noch Sorgen, wie es mit meiner Reise weitergehen soll. Verschluckt mich die Vergangenheit, wenn ich bis spät in die Nacht in Kathrins Tagebüchern lese? Welche Ziele soll ich in Mecklenburg-Vorpommern ansteuern, um die Veränderungen zu erleben, die es seit meinem Weggang gegeben hat? Versagensängste breiten sich langsam in mir aus. Um mich zu sortieren, schnappe ich mir die Ausgabe der Schweriner Volkszeitung und spaziere nach dem Frühstück zum Ufer des Pfaffenteichs. Die Enten sind noch da. Sie schwimmen. Ich setze mich auf eine Bank und lese einen Artikel über Nacktwanderungen. Verrückt. Ich reiße die Seite heraus, stecke sie ein und gehe weiter zum Südufer.
Auf den Stufen vor dem Wasser sitzt eine ältere Frau, vor sich ein Baby. „Finn, neun Monate alt, in Luzern in der Schweiz geboren, aber im Herzen schon jetzt ein Mecklenburger“, sagt seine Großmutter. Über uns krächzt eine Möwe. Finn ist das egal, er freut sich über sechs Küken, die vor unseren Augen einer Ente hinterherwatscheln. Ich höre, wie sich hinter mir zwei Männer unterhalten und drehe mich um. Der eine trägt eine Brille, der andere raucht. Beide halten ein Sternburger Pils in der Hand. Zwischen ihnen steht eine Flasche Pfefferminzlikör. Sie bieten mir einen Schluck an.
Was soll’s. Pfeffi erinnert mich an Berliner Luft, eine schon zu DDR-Zeiten beliebte Likör-Marke, die ich in der Hauptstadt kennengelernt habe. Ich trinke und komme mit dem Brillenträger ins Gespräch. Auf der einen Seite seines Kopfes hat er sich die Haare kurz rasiert, auf der anderen nicht. Eigentlich heiße er Benny, aber alle würden ihn Happy nennen. Er sei der letzte Punker Schwerins, sagt er lächelnd, und reicht mir erneut die Flasche.
Happy wurde 1990, im Jahr der deutschen Wiedervereinigung, geboren. Seitdem hat er „ordentliche Scheiße“ erlebt, wie er sagt. Jugendknast, Schläge, Obdachlosigkeit. Vielleicht strahlt er gerade deshalb eine gewisse Furchtlosigkeit aus. Ich erzähle von diesem Buch, das ich schreiben möchte, und frage, ob er mich begleiten mag. Happy nickt.
Da mich das Schloss schon an Tag 1 faszinierte, schlage ich das dortige Museum vor. Zusammen gehen wir die Mecklenburgstraße hinunter und biegen Richtung Schlossinsel ab. Im Museum schauen wir in die Waffenkammer und sehen Gold. Im Thronsaal quatschen wir länger mit einem Mitarbeiter. Er sagt, die Architekten hätten sich durch das französische Renaissanceschloss Chambord an der Loire inspirieren lassen. Happy nickt, so als ob er das bereits gewusst hätte, und macht ein Foto von mir.
Nach unserem Museumsrundgang möchte er mich auf ein Bier einladen. Nur wo? Ich frage, ob er den Park der Carl-Friedrich-Flemming-Klinik kenne. Happy nickt erneut, lächelt – und wir haben ein neues Ziel.
Erst verlassen wir mit Waldemar die Altstadt und fahren raus zum Großen Dreesch, wo Happy eine Wohnung gemietet hat. Er sagt, die Leute teilten den Dreesch immer noch in drei Abschnitte ein: Dreesch I, Dreesch II und Dreesch III. Früher, in den Neunzigern, sei Dreesch I das „Möchtegernnazi-Viertel“ gewesen, viele Bomberjacken. Im Dreesch II wohnten auch ein paar „Möchtegernnazis“ und einige Ausländer, es sei der gemischte Stadtteil gewesen. Dreesch III galt als komplettes Ausländer-Ghetto. Dort sollen so viele Schusswaffen und Macheten im Umlauf gewesen sein, dass selbst die Polizei sich nur mit Sondereinsatzkommando hineintraute. Mittlerweile sei aber vieles anders. Einige DDR-Plattenbauten wurden abgerissen, andere umgebaut und saniert. Auch er laufe hier nicht mehr mit einer Axt in der Tasche umher, sagt Happy.
Ich vermute, dass diese Aufteilung in Ausländer- und Nichtausländer-Viertel ein Grund ist, weshalb Schwerin heutzutage deutschlandweit die Stadt mit der größten Segregation ist. Nirgends wohnen arme und reiche Menschen weiter getrennt voneinander als hier. Man spürt diese Trennung, wenn man aus der touristenschönen Altstadt auf den Dreesch fährt. Im Stadtinneren das sanierte pittoreske Schloss, das Museum, Theater, Kirchen, Urlaubergruppen, die alles fotografieren; in manchen Außenbezirken dagegen ehemalige Kaufhallen, die 30 Jahre nach der Revolution immer noch verfallen, und Wohnblöcke aus Betonplatten, in denen Sozialhilfeempfänger leben.
Wir fahren vom Süden der Stadt in den Norden. Vor der Klinik parke ich Waldemar in einer Seitenstraße. Happy und ich nehmen unsere Bierflaschen und gehen zu Fuß auf das Gelände, das sich bis zum Ziegelsee erstreckt. Die Hitze des Tages hat sich in eine schöne Abendwärme gewandelt. Vor uns landet in der Krone eines Baumes ein Vogel. Er sitzt, schaut auf uns hinab und fliegt fort. Wir gehen weiter, zwischen den Gebäuden der Nervenklinik auf einem schmalen Weg entlang.
Als er noch ein Kleinkind war, musste er zusehen, wie sein „Erzeuger“ mit einer Bierflasche auf seine Mutter einschlug, viel Blut. Oft habe er von diesen Bildern geträumt, erzählt Happy. Seine Mutter sei wegen der Schläge irgendwann zusammen mit ihm abgehauen, zu ihren Eltern auf ein Dorf im Westen Mecklenburgs. Aber sein Opa, der im Zweiten Weltkrieg für die Nazis gekämpft hatte, trank Alkohol. Und er hatte eine Flinte, eigentlich für die Jagd. Als Happy 13 Jahre alt war, holte die Vergangenheit seinen Großvater ein. Nachts ging er mit seiner Flinte raus auf den Hof und schoss auf Tauben, die er für Soldaten hielt. Happy hörte das, riss ihm das Gewehr aus der Hand und schlug zu. Opa fiel um. Happy versteckte die Flinte in einer Tiefkühltruhe im Keller. Die unmittelbare Gefahr war vorbei. Aber beide, Happy und sein Großvater, standen unter Schock.
Im Krankenhaus sagten die Ärzte, der alte Mann sei dement und die Krankheit nicht mehr aufzuhalten. Happy wusste, dass Opa nie wieder Opa sein würde, packte ein paar Sachen und verschwand. Viel Leben, viele Drogen, viel Freiheit, mit der man umgehen können muss, und Depressionen folgten in den kommenden Jahren. Happy sagt, bis heute könne er es sich nicht verzeihen, dass er es gewesen sei, der den Großvater, den er sehr liebte, niedergeschlagen habe.
Happy erzählt seine Geschichte, ohne zu überlegen, bevor ein neuer Satz beginnt, und ohne Scham. Wir sitzen mittlerweile auf einer Bank des Klinikgeländes vor dem Gebäude der Station 25. Die Dunkelheit erfasst immer mehr, die Umrisse der Fenster des Stationsgebäudes verschwimmen langsam. Hinter uns erhebt sich ein Mammutbaum. Kurz frage ich mich, ob all das wirklich so passiert sein kann. Als Journalist ist man geübt darin, Leuten zuzuhören und ihre Glaubwürdigkeit einzuschätzen. Happy wirkt auf mich authentisch. Und, denke ich, es ist seine Entscheidung, wie er den Lauf seines Lebens deutet.
Happy und ich stellen fest, dass wir beide schon einmal in dieser Klinik waren. Er, weil er seine Drogensucht besiegen wollte. Ich, weil ich hier Kathrin traf. Mit ihr ging ich damals oft auf dem Parkgelände spazieren. Und während ich nun hier sitze, werden die Erinnerungen wieder deutlicher. Ich sehe, wie Kathrin und ich einst gemeinsam unter diesem Mammutbaum saßen. All das, was damals mit ihr und mir geschah, läuft wie ein Film, den man in doppelter oder dreifacher Geschwindigkeit abspielt, noch einmal in mir ab.
Unsere Bierflaschen sind fast leer. Ich schaue zu Happy. Dieser Bursche, der es seit seiner Geburt nicht leicht hatte, lässt sich Happy nennen, obwohl er Benny heißt. Ein paar Augenblicke schweigen wir. Mein Leben erscheint plötzlich kleiner, unbedeutender. Die Angst, die ich heute morgen vor diesem Buch hatte, relativiert sich.
Bevor wir gehen, zeigt Happy mir noch den Schrei-Baum. Ein Patient, der keine Tabletten nehmen wollte, habe von seinem Arzt gehört, dass er in den Park gehen und schreien könne – immer dann, wenn die Depression in starken Schüben wüte. Dem sei der Patient gefolgt, sagt Happy, oft und lange. Jedes Mal, wenn er im Park vor diesem umgefallenen Baum gestanden und geschrien habe, hätte er in die Rinde ein Bild geritzt. Tatsächlich: Ich erkenne im Baum ein Paar, das auf einer Bank sitzt, daneben schwebt eine Eule. Obwohl es schon dunkel ist, strahlt der Schrei-Baum Kraft aus. Wuchtig und würdig wirkt er, wie er der da vor uns im Park liegt.