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»Ihr seid ein jämmerlicher Haufen Schwachmaten! Schaut euch doch nur mal an! Selbst der Volkssturm war in besserem Zustand als ihr!«

Professor Kusch stand leicht versetzt hinter dem aufgebrachten Bison, wie Oleg Gorzka heimlich genannt wurde. Allerdings nur, wenn er es nicht hörte. Kusch musste dem millionenschweren Bauunternehmer leider recht geben. Trotz der martialischen Uniformen sah die Truppe wenig heldenhaft oder wenigstens annähernd soldatisch aus. Am schlimmsten hatte es wohl Pawel erwischt. Er trug seine rechte Hand in einer dicken Bandage, in die eine Packung Tiefkühlerbsen eingewickelt war. Trotzdem mussten sie gleich am nächsten Morgen einen Arzt ihres Vertrauens aufsuchen. Er war zwar kein Experte, aber Kusch vermutete, dass mindestens das Kopf- und Kahnbein, wahrscheinlich sogar das große und kleine Vieleckbein gebrochen waren. Der Hammer hatte einen ordentlichen Schaden angerichtet. Nur gut, dass Pawel kein Konzertpianist, sondern Polier in Gorzkas Firma war. Doch selbst in dieser Funktion war es äußerst nützlich, wenn man seine Hand vollumfänglich benutzen konnte. Zusätzlich zierte Pawels Hinterkopf eine riesige Beule. Ein Wunder, dass sein Schädel den Schlag ausgehalten hatte. Die Gehirnerschütterung, die der hünenhafte Pole ohne Zweifel erlitten hatte, steckte er bisher erstaunlich gut weg.

»Was für eine blamable Vorstellung«, fuhr Gorzka fort und schaltete, die Fernbedienung lässig über seine Schulter haltend, den Fernseher hinter ihm ein.

Eine Totale aus großer Höhe erschien auf dem Bildschirm. Langsam sank die Drohne ab und näherte sich der Maschinengewehrstellung in dem kleinen Wald auf der gegenüberliegenden Seite des Sees wie ein angreifender Tiefflieger. Jetzt war Pawel zu sehen, wie er aufsprang und das schwere MG auf die Angreifer richtete. Die boten tatsächlich einen jämmerlichen Anblick.

»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, das ist eine Spielszene aus The Biggest Loser! Seht euch Fettärsche doch nur einmal an! Da bewegt sich ja eine aufgeschreckte Kuhherde eleganter über das Feld!«

Während Gorzka verdrossen weiterschimpfte, ließ Kusch den Blick über die angetretene Truppe schweifen. Neben Pawel balancierte Ali auf einem Bein. Auch mit dem türkischstämmigen Polen mussten sie so bald als möglich zu einem Doktor. Sein Schienbein war definitiv gebrochen und nur notdürftig mit zwei hölzernen Kochlöffeln geschient worden. Außerdem hatte er eine böse Platzwunde am Kinn, die genäht werden sollte. Irgendjemand hatte ihm einen Verband um den Kopf gewickelt, sodass er wie eine Karikatur eines Mannes mit Zahnschmerzen aus den Zwanzigerjahren aussah. Merkwürdigerweise jammerte er nur darüber, dass ihm die Ohren wehtaten.

Auf Ali folgte eine Fingerverletzung. Dimitri hatte sich seine rechte Hand unter die Achsel geklemmt und atmete mit weit geöffnetem Mund geräuschvoll ein und aus. So war seine Zahnlücke gut zu sehen. Dabei ging die Schwellung seines Daumengelenks bereits wieder zurück.

Kamil sah am fittesten in der Reihe aus, von der Augenklappe und der leicht gekrümmten Körperhaltung abgesehen. Er hatte den Lebertreffer noch nicht vollständig verarbeitet und war bei seinem Sturz vom Steg mit dem linken Auge voran in einen Dornenbusch gefallen.

»Herr Professor, hören Sie mir überhaupt zu?«

Kusch zuckte zusammen. »Wie bitte?«

Den Bison reizte man besser nicht. Wie sein tierischer Namensvetter nahm der sonst Anlauf und rammte einen mit seinem Betonschädel gegen die Wand. Buchstäblich.

»Was sind Ihre nächsten Schritte nach dem Fehlschlag in Berlin, habe ich gefragt«, wiederholte Gorzka und kam dem Professor bedrohlich nahe.

Sie waren fast gleich groß, Kusch jedoch nur halb so schwer und mindestens doppelt so alt. Er war in Gedanken gewesen und hatte den Themenwechsel nicht mitbekommen. Das passierte ihm in letzter Zeit öfter. Leider hatte Gorzka recht. Berlin war tatsächlich ein Desaster gewesen. Nach mehr als zwei Jahren hatten sie endlich einen neuen Hinweis bekommen. Der Tipp kam von einer sehr vertrauenswürdigen Quelle. Leider hatte auch hier der im Wohnzimmer angetretene Volkssturm versagt. Besonders der beinverletzte Ali. Dabei war die Aufgabe leicht, der Plan wohldurchdacht gewesen. Kamil sollte sich als Pfleger getarnt in das Bundeswehrkrankenhaus Berlin einschleusen. Dort wurde eine Patientin behandelt, die laut Aussage ihrer Informanten Kontakt zu dem Objekt gehabt hatte, nach dem Oleg Gorzka und er, Professor Alexander Kusch, schon ihr Leben lang suchten. Und obwohl die Kontaktperson die kranke Soldatin als schwach und bettlägerig beschrieben hatte, war sie robust genug gewesen, um Kamil den Hintern zu versohlen. Vielleicht war die Hodenverletzung, die er aus Berlin mitgebracht hatte, sogar der Grund, warum er noch immer nicht gerade stehen konnte.

»Herr Professor, ich warte!«

Gorzka trat jetzt so nah vor Kusch, dass sich fast ihre Nasenspitzen berührten. Unwillkürlich hielt der Professor die Luft an, da er die Knoblauchwolke, die ihm entgegenschlug, nicht aushalten konnte. Obwohl der Spitzname Gorzkas recht martialisch klang, sah er eher wie der typische Bauernjunge aus einem russischen Märchen aus. Er war nicht dick, eher kräftig, mit Pausbacken, die im Moment rot glühten und strohblonden Haaren, die in einer Prinz-Eisenherz-Gedächtnis-Frisur geschnitten waren.

»Wir werden nicht erneut ins Krankenhaus gehen«, antwortete Kusch endlich.

»Das hätte ich Ihnen auch nicht geraten«, entgegnete Gorzka und warf einen verächtlichen Blick auf Kamil.

Der nestelte sich daraufhin nervös an seinem Schritt herum.

»Ich habe mich mit unserer Kontaktperson geeinigt. Sie wird die Informationen hierherbringen lassen.«

»Doch nicht zu mir!«, donnerte Gorzka aufgebracht. »Sie wissen ganz genau, dass meine Frau keine Geschäfte in unserem Wochenendhäuschen duldet!«

Ja, das wusste der Professor. Der große starke Bison stand dermaßen unter dem Pantoffel, dass die Männer, die in schwarzen SS-Uniformen mit dem zugehörigen Totenkopf am Revers vor ihnen standen, bunte Filzhausschuhe trugen, um den Teppich nicht schmutzig zu machen. Und das, obwohl seine Frau, die schöne Helena, noch nicht mal im Haus war. Kusch hatte es nie verstanden, wie Frauen eine solche Macht über das andere Geschlecht ausüben konnten. Wahrscheinlich aber auch, da er sich von jeher eher zu Männern hingezogen fühlte.

»Nein, wir treffen uns auf dem Campingplatz«, erwiderte der Professor.

»Wann?«

Gorzkas Augen glühten vor Aufregung. Seine Nasenflügel zitterten. Kusch konnte die Anspannung sehr gut nachvollziehen. Ihm ging es nicht anders. Wenn die Kontaktperson recht hatte, dann standen sie kurz davor, die Entdeckung ihres Lebens zu machen.

»Schon morgen.«

Gorzka schloss kurz die Augen.

»Wie viel?«, wollte er als Nächstes wissen.

»Bei einem Kurs von etwa eins zu drei reden wir von einer Milliarde Euro. Aufgerundet«, gab der Professor bereitwillig Auskunft und ein Raunen lief durch den Raum.

»Das weiß ich selbst!«, blockte Gorzka ab und schaute zwischen den angetretenen Männern und dem Professor hin und her.

Augenscheinlich war es ihm nicht recht, dass Kusch die Summe ausgeplaudert hatte.

»Wie viel kostet mich die Information, will ich wissen!«

»Fünfzigtausend.«

»Euro?«

Der Professor kniff kurz die Augen zusammen. Was denn sonst, Zloty?

»Ja, Euro«, antwortete er ruhig.

Oleg Gorzka atmete schwer aus.

»Sie geben mein Geld mit vollen Händen aus, Herr Professor. Erst quartieren sich Ihre Leute im Ritz-Carlton in Berlin ein und hinterlassen eine horrende Rechnung, ohne dass die Unternehmung von Erfolg gekrönt war, und jetzt das!«

»Eigentlich sind das Ihre Leute, nicht meine«, hielt der Professor dagegen.

»Das stimmt leider. Aber der Schuldige wird seiner Strafe nicht entgehen.«

Kamil wurde mit einem Mal kreidebleich und kippte noch weiter zur Seite, als er eh schon stand.

»Wir kehren heute nach Danzig zurück. Pawel und Kamil kommen mit. Der Rest bleibt hier und unterstützt den Professor. Wegtreten!«

Als Kusch sich auch zum Gehen wandte, pfiff Gorzka ihn zurück.

»Ich werde Ihnen die fünfzigtausend geben«, sagte er, als sie allein im Zimmer waren. »Allerdings ist das Ihre letzte Chance. Wenn Sie damit nicht zum Ziel kommen, suche ich mir einen anderen Wissenschaftler und mauere Sie in meinen nächsten Appartementblock ein.«

Das war kein Scherz. Der Professor hatte mehrere Männer aus Gorzkas Umfeld verschwinden sehen. Bei einem war er sich ziemlich sicher, dass der seine letzte Ruhe direkt hinter ihnen im See gefunden hatte. Zerkleinert in winzige Stücke. Der Kerl war erst Gorzkas Frau und dann einem Profihäcksler zu nahegekommen. Da sie ihn mit den Füßen voran in den Einführschacht gesteckt hatten, waren seine Schreie erst sehr spät verklungen.

Gorzka starrte Kusch aus seinem pausbäckigen Gesicht an. Der Professor hielt seinem Blick, ohne zu zwinkern, stand. Endlich ließ Gorzka von ihm ab und lief zu einem großen Wandgemälde hinüber. Kusch war sich ziemlich sicher, dass Gorzkas Frau das Bild gemalt hatte. Nach Zahlen. Es war mit Scharnieren an der Wand befestigt. Der Bison liebte es, sich mit einer Geheimagentenaura zu umgeben. Hinter dem Gemälde kam ein Wandtresor zum Vorschein. Gorzkas Daumenabdruck entriegelte die Tür. In dem Safe stapelten sich Geldscheine bis in die letzte Ecke. Sorgsam, wie bei einem Jenga-Spiel für Millionäre, zog Gorzka fünf Bündel hervor und warf sie dem Professor zu.

»Ihre letzte Chance!«, wiederholte er drohend.

Kusch war froh, als er Gorzkas Haus verlassen hatte. Er konnte den Kerl nicht ausstehen, brauchte ihn aber. Ohne die finanziellen Mittel des Baumoguls hätte er seine Suche nicht fortführen können. Dabei ging es dem Professor nicht um das Geld. Für ihn zählte der künstlerische Wert, das Vermächtnis und wenn er ehrlich zu sich selbst war, auch der Ruhm. Was sollte er schon mit einer Milliarde Euro anfangen? Für die knappe Zeit, die ihm noch auf Erden blieb, hatte er längst ausgesorgt. Und wenn man bedachte, dass er sich seinen Lebensstandard selbst erarbeitet und erkämpft hatte, ohne fremde Hilfe, konnte er mit Recht stolz darauf sein.

Er war als Waisenjunge aufgewachsen, hatte sich von klein an gegen Größere und Stärkere zur Wehr setzen müssen. Nur klüger als er war kaum jemand gewesen. Mit seinem messerscharfen Verstand hatte Kusch es geschafft, trotz aller Widrigkeiten eine akademische Laufbahn einzuschlagen und seine dunkle Seite vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

Oleg Gorzka und er hatten sich zufällig getroffen. Wie das Leben manchmal so spielte. Gorzkas Firma hatte den Zuschlag für den Forschungsneubau der Erfurter Universität erhalten, an der Kusch an der Theologischen Fakultät lehrte. Die Feierlichkeiten anlässlich des Spatenstichs hatte er als notwendiges Übel empfunden und kurz davorgestanden, das Weite zu suchen, als er dem cholerisch in sein Telefon brüllenden Gorzka über den Weg gelaufen war. Polnisch hatte der Professor damals seit Langem nicht mehr gehört oder gesprochen. Die vertrauten Laute hatten ihn innehalten lassen. Und er hatte ganz gegen jede Etikette dem Gespräch gelauscht. Die Diskussion hatte sich um Ostpreußen gedreht. Natürlich. Zu der Zeit wie auch heute kannte Gorzka nur zwei Themen. Entweder ging es darum, seinen Profit, den er aus seinem Bauimperium zog, zu maximieren, oder darum, Erich Kochs verschwundenes Vermögen aufzuspüren.

»Was willst du?«, hatte Gorzka ihn damals angeblafft und dabei sein Telefon zugehalten.

»Ich kann Ihnen helfen«, hatte Kusch auf Polnisch geantwortet, wobei es ihm anfangs schwergefallen war, sich an die richtigen Worte und deren korrekte Aussprache zu erinnern.

»Kein Interesse«, hatte Gorzka abgewinkt und sich nach Pawel umgesehen, der ihm schon als Leibwächter diente.

Doch dann hatte der Professor ein Detail erwähnt, das Gorzka hatte aufhorchen lassen. Seitdem waren sie ein Team. Eine Zweckgemeinschaft, vereint mit einem Ziel.

»Wohin geht es, Professor?«

»Wie bitte?«

»Wohin wir fahren?«, wiederholte Herr Daras seine Frage.

Er saß hinter dem Lenkrad des Kübelwagens und schaute Kusch erwartungsvoll an.

»Ach ja«, murmelte der Professor und sah sich um, als sei er sich nicht sicher, wo er sich im Moment befand.

Auch das passierte ihm in letzter Zeit öfter. Sein Gehirn verbiss sich in ein Thema und schaltete dabei seinen Körper in eine Art Stand-by-Modus. Wenn er wieder aufwachte, konnte er sich oft nicht erinnern, wie er an den jeweiligen Ort gekommen war.

»Das Buch bitte«, bat er Daras, der in Romanen des 18. Jahrhunderts wohl als Diener bezeichnet worden wäre. Pfleger traf es mittlerweile besser.

Daras beugte sich zum Rücksitz und angelte einen Rucksack hervor. Er musste nicht lange suchen, das Buch lag ganz oben. In den letzten Wochen hatten sie es oft benutzt.

»Und?«

»Dreiundzwanzig Uhr fünfunddreißig«, entgegnete Daras.

Mit der Zunge im Mundwinkel malte Kusch daraufhin die entsprechende Zeigerstellung in ein vorgetragenes Ziffernblatt ein und zeigte Daras das Ergebnis.

»Stimmt«, bestätigte der und nahm dem Professor das Buch ab.

»Sehr gut.« Kusch war erleichtert. »Der Uhrentest gehört zur Gruppe der psychometrischen Prüfungen und kann die Früherkennung einer Demenz unterstützen.«

»Sehr wohl, Herr Professor.«

»Und, Daras, zahlen Sie das Geld auf mein Konto ein«, ordnete der Professor an und reichte den Packen Geldscheine zu ihm hinüber.

Pepe S. Fuchs - Schatzjäger

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