Читать книгу Warrior & Peace - Stella A. Tack - Страница 10
Große Göttinnen weinen nicht
ОглавлениеIch saß mit einem fetten, glücklichen Grinsen auf einem Regenbogeneinhorn und jauchzte vor Freude. Eine geringelte Stange, an der das Karusselleinhorn befestigt war, ging dabei rhythmisch auf und ab. Warmer Fahrtwind blies mir das goldene Haar aus dem Gesicht. Ein glitzerndes rosarotes Krönchen funkelte auf meinem Kopf. In einer Hand hielt ich einen Lillifee-Zauberstab umklammert, mit der anderen hielt ich mich an der bunten Plastikmähne des Einhornponys fest. Der Kunststoff fühlte sich fettig und ein bisschen klebrig an. Eigentlich eklig, aber mit stolzen vier Jahren zählte nur, dass ich auf einem Einhorn ritt! Mit einem echten pinken Horn! Begeistert hoppelte ich auf dem steifen Rücken herum und winkte mit meinem Zauberstab Diamond zu, die mir von einer Parkbank aus zusah. Das Lachen der anderen Kinder hallte in meinen Ohren wider. Zwei Einhörner weiter erkannte ich Ruby, die mir altersmäßig am nächsten war. Mit ihren acht Jahren hatte Diamond sie praktisch zwingen müssen, mit mir auf dieses Karussell zu steigen. Ohne sie hatte ich nicht fahren dürfen. Ihre wütenden Blicke und die trotzig vor der Brust verschränkten Arme zeigten nicht nur eine strickte Weigerung, bei so etwas Kindischem Spaß zu haben, sondern auch ein stummes Versprechen, dass ich diesen Tag bitter bereuen würde. Aber im Augenblick konnten mich nicht einmal Rubys Blicke der finsteren Rache einschüchtern. Mein eigenes helles Lachen hallte mit dem der anderen Kinder durch den Hyde Park und fast konnte ich mir vorstellen, dass sie meine Freunde waren. Freunde, die mit mir hierhergekommen waren, um meinen Geburtstag zu feiern. Die Musik spielte fröhlich. Diamonds Gesicht tauchte auf und verschwand. Runde um Runde strahlte ihre kühle Schönheit zu mir herüber, während die Musik lauter und schriller wurde.
Das Lachen verstummte abrupt. Selbst mein eigenes Kichern blieb mir in der Kehle stecken, als die Spielorgelmusik einen leiernden, beinahe trägen Klang annahm, der mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Verunsichert krallte ich mich fester in die Mähne des Tieres. Der Zauberstab rutschte mir dabei aus den Fingern und verlor sich klappernd im Nirgendwo. Der zuvor helle Park verdüsterte sich und die grünen Bäume traten in den Hintergrund. Ruby verschwand. Genau wie die restlichen Kinder. Ich fuhr allein mit meinem Einhorn im Kreis. Nur Diamond saß auf der Bank und beobachtete mich. Runde um Runde.
»Diamond!«, rief ich ängstlich.
Sie antwortete nicht. Das Lächeln klebte immer noch auf ihrem Gesicht.
»Aufhören!«, bat ich und riss an den Plastikzügeln. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Die schiefe Spielmusik verstummte. Die darauffolgende Stille erdrückte mich. »Diamond! Runter!«, rief ich panisch, hob eines meiner Händchen und griff nach ihr. Meine Schwester rührte sich nicht. Legte nur den Kopf schief und musterte mich, als wäre ich eine Kuriosität.
»Du kannst nicht immer alles haben, was du willst, Warrior«, gab sie mit ruhiger Stimme zurück. »Du wolltest unbedingt Karussell fahren. Jetzt bleibst du dort oben, bis die Fahrt zu Ende ist.«
Meine Unterlippe bebte, während das Einhorn weiter an der Stange auf und ab fuhr. »Ich will jetzt runter«, schrie ich. Tränen rannen mir die Wangen hinab.
Diamond seufzte, stand auf und kam auf mich zu. Sobald das Einhorn sie passierte, hob sie mich aus dem Sattel und setzte mich behutsam auf dem schwarzen Boden ab. Elegant ging sie vor mir in die Hocke, sodass wir uns auf Augenhöhe befanden, und wischte mir die salzigen Spuren aus dem Gesicht. »Nicht weinen, Warrior«, rügte sie sanft. »Große Göttinnen weinen nicht, wenn sie Angst haben. Und du willst doch eine Göttin werden. Oder nicht?«
Ich schniefte. Das Einhorn verschwand lautlos in der Schwärze und ich sah ihm mit schreckgeweiteten Augen hinterher. Trotzdem nickte ich. Ja! Ich wollte eine Göttin werden wie Mommy. Oder eine Feenprinzessin. So genau hatte ich mich da noch nicht festgelegt. Diamonds Finger streichelten ein letztes Mal meine Wange, bevor sie meine Hände umfassten. Schniefend drückte ich sie. Unser heimliches Zeichen, dass wir uns liebhatten. Dreimal feste drücken. Diamond drückte zurück. Einmal. Ich lächelte. Zweimal. Ihr Griff wurde unangenehm fest. Mein Lächeln verrutschte. Dreimal. Sie packte so stark zu, dass meine Fingerknöchel knackten. Ich quietschte, wollte meine Hände losreißen, doch Diamonds Griff blieb unnachgiebig.
»Sieh mich an!«, befahl die blonde Schönheit streng.
Erneut versuchte ich, meine Hände zu befreien, denn Diamond machte mir inzwischen genauso viel Angst wie das Karussell zuvor.
»Warrior«, sagte sie und zwang mich, ihr ins Gesicht zu sehen. »Du musst aufhören, ein Kind sein zu wollen!«, schalt sie mich. Ihre Fingernägel gruben sich in meine Haut.
Ich schrie. »Du tust mir weh!«, heulte ich.
»Das Leben tut immer weh«, gab Diamond kalt zurück. »Du musst endlich anerkennen, wer du bist.«
»Das tue ich doch!«, jammerte ich. Die Schmerzen in meinen Händen pulsierten mit jedem Herzschlag. Inzwischen wurden meine Ellbogen taub.
»Nein, tust du nicht. Es macht nämlich einen Unterschied, ob du für dich selbst zur Göttin wirst oder für ihn.« Sie nickte nach rechts.
Unter nassen Wimpern sah ich hinüber und spürte, wie mein Atem stockte. Auf dem zuvor davongefahrenen Regenbogeneinhorn saß Peace – mit der Ausstrahlung eines Raubtiers, das überhaupt nicht glücklich aussah, auf einem bunten Einhorn sitzen zu müssen. Seine seelenlosen Augen leuchteten kalt wie Schnee. Die blauen Haare fielen ihm bis fast auf die Schultern. Eine steile Falte zerteilte seine arrogant gerunzelte Stirn. »Was soll das werden, Warrior? Warum ziehst du mich in deine Träume? Du solltest dich ausruhen.«
»Sieh ihn dir genau an!«, wies Diamond mich an. »Du hast dich ihm unterworfen. Beinahe widerstandslos. Willst du diese Art von Frau werden? Gezähmt und am Zügel, nur um seinen Erwartungen zu entsprechen?«
»Ich habe mich nicht unterworfen«, widersprach ich sofort. Trotzdem tat ich mir schwer, den Blick von dem blauhaarigen Gott loszureißen, der uns seinerseits musterte. Alles in mir wollte zu ihm laufen, sich in seinen Armen vergraben und seine Kälte mit meiner Wärme teilen. Ich wollte seine Lippen auf meiner Haut fühlen. Seine schlanken Finger, die mir über den Nacken strichen. Ich wollte … ich wollte … ihn. Mit Haut und Haaren.
»Er benutzt dich nur, Warrior«, flüsterte Diamond. Ihre Worte stießen unangenehme Spitzen durch meine Brust.
»Das tut er nicht. Wir sind Gefährten!«, zischte ich.
Diamond starrte mich an. »Denk doch mal nach. Wollte er dich? So wie du bist? Hat er dich gesehen und sofort Leib und Seele mit dir geteilt, wie es unter Gefährten üblich ist?«
»Ich …« Mein Atem stockte abermals. »Das kann er gar nicht. Er hat keine Seele«, erklärte ich bestimmt.
Diamond schnaubte belustigt. »Lüg dich doch nicht selbst an. Er hat erst Notiz von dir genommen, als er von deinen Kräften erfahren und dich als nützlich eingestuft hat!«, erwiderte sie missbilligend. »Es brauchte nur ein paar süß geflüsterte Worte, ein paar Berührungen und du bist praktisch willenlos in seinen Händen zerflossen. Sieh es ein, Warrior. Er benutzt dich. Das liegt in seinem Wesen. Sein Vater Zeus ist genauso. Er spielt Schach. Und du bist eines seiner Bauernopfer.«
»Nein! Nein, denn wenn ich sterbe, stirbt auch er. Er braucht mich. Ihm zu helfen, ist das einzig Richtige!« Ich versuchte ein weiteres Mal, mich loszureißen, doch Diamond hielt mich beharrlich fest. Ihre Nägel stachen wie Messer durch die blasse Haut. Ich wimmerte, als ein paar Blutstropfen heraustraten. Süßlich. Silbern. Unsterblich.
»Die Sache an sich steht hier nicht zur Diskussion«, wies mich meine Schwester scharf zurecht. »Es geht um eure Rollen. Rede dir ein, was du willst. Aber es wird schlecht für dich enden, wenn du weiterhin den verliebten Welpen mimst. Du bist eine Chaosgöttin und viel mächtiger als er. Mit ihm wird die Welt untergehen. Er wird von Hass und Rachsucht gelenkt. Seine fehlende Seele, die Dunkelheit in ihm, frisst seinen Verstand auf. Zeus wusste ganz genau, was er tat. Aber mit dir … du an der Spitze würdest die Welt zu etwas Unglaublichem machen. Denk darüber nach. Früher oder später wird es heißen: fressen oder gefressen werden.« Mit diesen Worten ließ sie endlich los und richtete sich auf. Plötzlich wieder liebevoll rückte sie mir das verrutschte Krönchen zurecht. Ihre Finger blieben auf meinem Kinn liegen, hoben es sanft an. »Du bist eine Göttin, Warrior. Akzeptiere es.«
Sie drehte sich um und ging. Ließ mich allein mit Peace zurück, der den eleganten Rücken aus schmalen Augen musterte. »Sie versucht, dich zu manipulieren«, stellte er nüchtern fest. »Einer der alten Götter muss einen Weg in deine Träume gefunden haben. Wir werden etwas dagegen unternehmen.« Sein Blick zuckte zu mir. Ein weicherer Ausdruck huschte über seine schönen Züge. »Hör nicht auf sie!«, raunte er mit belegter Stimme. »Ich bin dein Gefährte. Ich könnte dir niemals so etwas antun. Ich gehöre zu dir und du zu mir. Für immer … immer … immer … immer …«
Ich keuchte. In den wenigen desorientierten Sekunden, in denen ich immer noch glaubte, auf einem Regenbogeneinhorn herumzudüsen, registrierte ich drei Dinge.
1: Ich leuchtete grell wie ein Stern.
2: Ich schwebte einen guten Meter über dem Bett.
3: Jemand hämmerte lautstark gegen die Tür und ging mir damit gewaltig auf die Nerven.
»Herrin Warrior? Ist alles in Ordnung?!«
Ich hatte Schwierigkeiten, der grollenden, tiefen Stimme eine Person zuzuordnen. Als diese jedoch wütend knurrte und ein massiger Leib gegen die Tür krachte, erkannte ich sie endlich als die von Bloodclaw. Hilflos in der Luft schwebend schaute ich mich um. Mein Blick fing dabei meine Spiegelung in der Fensterfront auf. Ich leuchtete so hell, dass es blendete. Das gelöste lange Haar wogte um mich herum, als würde ich unter Wasser schweben, und ein so intensiver Rosengeruch stieg mir in die Nase, dass mir schlecht wurde. Kraftlos ruderte ich mit den Armen. Wie kam ich denn jetzt wieder runter?
»Herrin Warrior?«, bellte der Hund.
Ich öffnete den Mund, wollte um Hilfe rufen, doch die Wörter verstopften mir den Rachen. Heraus kam nur ein hilfloses Röcheln. Inzwischen schwebte ich so hoch, dass ich die Decke berühren konnte. Zappelnd versuchte ich, den Auftrieb zu stoppen, aber mein Körper schwebte stur auf die Zimmerdecke zu, bis meine Nase Bekanntschaft mit dem Putz machte. Stöhnend wollte ich mich abstoßen und im gleichen Augenblick geschahen zwei Dinge für mein schläfriges Hirn zu schnell.
Es rumste laut. Die Tür splitterte und der Höllenhund sprang jaulend ins Zimmer, das schwarze Fell vor Aufregung gesträubt. »Herrin?«, bellte er ungläubig, als ich mit den Füßen strampelte und sich seine rötlich-lilafarbenen Augen endlich auf mich richteten. »Was macht Ihr da oben?«, fragte er mich baff.
Gerade wollte ich etwas Schlagfertiges antworten, als ich fühlte, dass der Widerstand zwischen meinem Körper und der Wand ohne jede Vorwarnung nachgab. Als hätte jemand ein Gummiband überspannt, das schnalzend riss. Meine Haut kribbelte. Im nächsten Moment schwebte ich durch die Decke. Einfach so. Wie ein beschissener Geist!
»Herrin Warrior!« Bloodclaw sprang. Seine Zähne schnappten nach meinem Hemdsärmel. Leider knapp vorbei. Ich fuchtelte wild herum, verlor den Höllenhund aus dem Blick. Kurzzeitig erspähte ich nur dunklen Stahl, Beton und die Stränge aus Magie, die das Konstrukt wie Kleber zusammenhielten. Meine Gedanken jagten kreuz und quer. Was passierte hier? Warum tat ich das? Meine Magie summte und füllte meine Zellen bis zum Überquellen. Wie ein See, dessen Damm gebrochen war und der jetzt alles überschwemmte. Die Göttin in mir schien Amok zu laufen. Aber warum? Es kam mir vor, als suchte sie nach etwas.
Ich schnappte erleichtert nach Luft, als ich endlich die Wand hinter mir ließ und aus dem Fußboden eines Büros auftauchte. Eine Handvoll Schreibtische mit hochgefahrenen Computern stand im Raum rum. Dazu passend einige Götter, die ungläubig aufsahen, als ich neben dem Kopiergerät aus dem Boden purzelte. Ihre Präsenz füllte den Raum. Jung, wild und süßlich hing ihr unsterblicher Geruch in der Luft, wobei einer von ihnen deutlich hervorstach. Hacks dunkler Pony mit den roten Spitzen flog zur Seite, als er mit entgleistem Blick zu mir starrte. Ich nahm Kurs auf die nächste Zimmerdecke, kollidierte dabei aber mit einem der PCs und warf allerhand Krimskrams um.
»Bei Hades’ Klöten! Was ist das?«, fragte einer ungläubig. Eine Göttin kreischte schrill, als wäre ich eine Maus, die ihr gerade unter dem Pausenbrot hervorkroch.
»W-Warrior?«, stotterte Hack. Die Lämpchen und Kabel auf und in seiner Stirn blinkten hektisch, als er auf die Füße sprang. Sein Schreibtischstuhl fiel dabei polternd auf den Boden. »Was machst du da? Was ist passiert?«
Hilflos fuchtelte ich mit den Händen, öffnete den Mund, wollte die Worte gewaltvoll hervorpressen, doch es entwich kein Ton. Kein Piep. Mein Körper streikte immer noch.
»Warrior! Warte! Ich hole Peace!«, sagte der junge Gott, als er meine Misere endlich durchblickte. Zumindest hoffte ich, dass er es tat. Dankbar nickte ich und verschwand in der nächsten Decke. Das Gefühl jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken.
Diesmal ploppte ich mit dem Hintern voran in den nächsten Raum. Ich konnte – wie eben schon – ein überraschtes Kreischen hören. Na, danke auch! Vielleicht sollte ich abnehmen.
Etwas ging zu Bruch und eine Flüssigkeit rann mir klebrig über die Füße. Als sich mein Kopf dazu bequemte, endlich ebenfalls aus dem Boden aufzutauchen, sah ich Charming in Schockstarre. Und … o nein! Panisch kniff ich die Lider zusammen. Das hatte ich niemals sehen wollen. Nie! Nie! Nie! Augenkrebsgefahr! Der Gott war splitterfasernackt und schien eine Party der etwas anderen Art zu feiern. Jene mit viel Haut, Alkohol und anschließendem Psychiaterbedarf.
In der schwer nach Ambrosia und Weihrauch riechenden Lusthöhle tummelten sich alle Arten von Frauen und Männern und … keine Ahnung, was das Ding auf Charming war! Schmuste er mit einer Pflanze? Es schüttelte mich.
Diese Bilder würde ich nie wieder aus dem Kopf bekommen. Ich hörte ein ziemlich bekifftes Glucksen und wagte es zu linsen. Charming rekelte sich in seiner vollen … äh, nennen wir es mal »Gotteskraft« in den Samtlaken. Eine nach Opium und Ambrosia stinkende Zigarette hing ihm aus dem Mund, als er mir einen trägen Schwall aus gelblichem Rauch entgegenblies. Schwindel erfasste mich prompt. Der Gott schien so abgespact zu sein, dass er wohl jeden Augenblick mit mir abheben würde.
»Huiii, Warrior fliegt«, nuschelte er. Das fette Grinsen wurde breiter. Sein Make-up war verlaufen, die Haare wirr. Ein Schweißfilm glänzte auf seiner hellen Haut und roch genauso anziehend wie mein nach Rosen duftender Arsch. »Schick mir ne WhatsApp, wenn du angekommen bist, Süße«, säuselte er.
Mit all der mir verbliebenen Kraft hob ich die rechte Hand und zeigte ihm den Mittelfinger, bevor ich die nächste Decke passierte. Der dort angebrachte Lüster wackelte und klirrte, als ich knapp daran vorbeischrammte. Charmings bekifftes Lachen begleitete mich ein Stück durch die Wand. Ich erwartete das Schlimmste, als ich im nächsten Stockwerk auftauchte. Doch diesmal landete ich lediglich in einem schwach beleuchteten Flur, an dessen Ende eine stählerne Tür mit grün leuchtendem Exit-Zeichen angebracht war. Die Erleichterung, nicht auch noch Bizarre auf der Toilette überrascht zu haben, währte jedoch nur kurz, weil mir einfiel, dass diese Tür wahrscheinlich der Ausgang zum Dach des Hochhauses war. Nackte Panik schnürte mir die Kehle zu. Ich würde im freien Tartaros herumfliegen! In schwindelerregenden Höhen, ohne dass ich meinen Sturz würde bremsen können – falls sich mein Körper jemals dazu entschließen würde, eine Schwebepause einzulegen. Auf meine Flügel vertraute ich aktuell nicht. Ich wackelte mit den Armen und Beinen, versuchte, mich an meine Fährtenschwimmertage zu erinnern, wo ich das Kraulen gelernt hatte. Wobei ich zugeben muss, dass ich mehr abgesoffen als geschwommen war. Nicht alles zählte zu meinen glorreichen Talenten. Schwimmen zum Beispiel eher nicht. Mein Gezappel erinnerte vermutlich an einen lahmenden Frosch, der immer wieder mit dem Kopf gegen die Decke knallte. Und es hatte zur Folge, dass ich mich einmal um 180 Grad drehte und mit Füßen und Popo voran zur Tür schwebte. Meine Haare wogten dabei schwerelos um meinen nutzlosen Körper. Eine vorwitzige Haarsträhne kitzelte meine Nase, stahl sich in mein Nasenloch. Unter meinem heftigen Niesen überhörte ich beinahe die besorgte Stimme, die an den nackten Wänden vorbeischallte.
»Warrior!«
Peace! Endlich! Wurde auch höchste Zeit, dass jemand die Ritterrüstung anzog und mir zur Hilfe eilte. Panisch sah ich auf und erhaschte einen göttlichen blauen Haarschopf, der die Treppen hochhetzte. Genau in diesem Moment schwebte ich durch die Stahltür nach draußen.
Peace’ entsetzter Gesichtsausdruck folgte mir. »Warrior!«, drang seine Stimme gedämpft hinter der Tür hervor.
Ich ächzte, spuckte Haare aus und überlegte, ob ich Peace eventuell eine Spur aus Spuckefäden hinterlassen sollte, damit er mich im schlimmsten Fall dadurch aufspüren konnte. Statt Brotkrumen halt. Aber nein! Er war mein Gefährte. Ich hielt im Spucken inne. Peace würde mich immer finden. Auch ohne dass ich zu ekligen Methoden greifen musste.
»Warrior! Hör sofort mit dem Fliegen auf und komm zurück!«, brüllte er.
Na, der war mir mal ein Witzbold!
Die Klinke wurde nach unten gedrückt, doch die Tür rührte sich trotz Rütteln nicht, während ich in der tartarosischen Dunkelheit über das Dach düste. Stetig dem Abgrund entgegen.
»Warrior! Hör sofort auf mit … was immer du da tust!«
Verarschte der mich? Wütend guckte ich in seine Richtung, obwohl er mich ja nicht sehen konnte.
Er schien die Nerven zu verlieren, denn es rumste laut, als er gegen die Scharniere trat. Zumindest stellte ich mir vor, dass er es tat, denn der Rahmen wackelte ächzend.
»Verdammte Scheiße, Kacke!«, hörte ich Peace fluchen, bevor der verräterische Geruch nach Ozon meine Nase kitzelte. Am Himmel grollte es. In der nächsten Sekunde wurde die gesamte Tür mit einem hellen Blitz aus den Angeln gerissen und flog nach vorn. Leider genau in meine Richtung.
Ich riss die Augen auf. Als Nächstes spürte ich den Aufprall, begleitet von einem Schwall silbernem Blut, das mir aus Nase und Mund sprudelte. Der harte Stoß warf mich vollends über die Kante. Stechender Schmerz setzte unmittelbar danach ein, als meine Halswirbel knackten. Ich schielte, schluckte silbernes Nass hinunter, während ich in einem komischen Winkel auf Peace hinabsah, der zur Dachkante stürzte und die Hand nach mir ausstreckte. Leider war ich für diese Last-Minute-Rettungsaktion schon zu weit weggetrudelt.
»Warrior! Bleib ganz ruhig. Ich … Ich hol dich. Flieg nicht zu weit weg«, rief Peace. Ich musste stark den Drang unterdrücken, nicht auch ihm den Mittelfinger zu zeigen. Wir starrten uns an. Die Distanz zwischen uns war mit so viel unterdrückter Angst, Schuld und Vorwurf geladen, dass sich die Härchen auf meinen Unterarmen aufstellten. Peace schluckte. Der Wind riss an seinem Haar und sein Köper spannte sich an, als wollte er über die Kante springen. Über uns erhellte ein blauer Blitz den Himmel. Schatten schnitten seine Züge in zwei Teile. Sein eines Auge war erst zur Hälfte verheilt und sah aus, als würde es schmerzen. Gut so. Oder auch nicht, keine Ahnung. Plötzlich drehte er auf den Fersen um und verschwand in dem aufklaffenden Flur.
Seine Schritte hallten überdeutlich laut. Ihnen folgte das Schaben von Hundekrallen. Bloodclaw half ihm also. Zumindest ein kleiner Hoffnungsstreifen am Horizont. Der Höllenhund würde mich riechen können, egal, wo im Tartaros ich landen würde. Zum Glück war es nicht das erste Mal, dass ich über diesen Stadtteil hinwegflog.
Während ein scharfer Wind an meinen Klamotten riss, versuchte ich, mich zu orientieren. Ich erkannte Charmings Club, das Dark Wonderland, an den Lichtern, die aus dem Industriegebäude zuckten und bunte Farben in den Himmel malten. Dahinter lagen die Trümmer des Hochhauses, welches der Basilisk zerlegt hatte. Was sich jedoch eine Nasenlänge voraus befand, war absolutes Neuland für mich. Erbärmlich, wenn man bedachte, wie viel Zeit ich hier unten verbracht hatte. Peace hatte mich vorbildlich vom Rest der Götterwelt abgeschottet. Tja, zumindest das würde sich jetzt ändern. Ich leuchtete so beschissen hell, dass mich selbst ein Blinder problemlos vom Himmel hätte schießen können. Trotz der Dunkelheit entdeckte ich das ein oder andere neugierige Augenpaar, welches mich beobachtete. Die unterschiedlichsten Empfindungen und Wellen an Macht trafen mich dabei und je tiefer ich in die Stadt hineinflog, desto wirrer und wilder wurden die Eindrücke, die auf mich einprasselten. Als würde erst dort das Leben im Tartaros pulsieren. Ein paar der schwächeren Schwingungen nahm ich kaum als die Signatur eines Gottes wahr. Andere hingegen ließen meine Haut kribbeln, als liefen Hunderte Ameisen darüber. Andere Präsenzen konnte ich stattdessen gar nicht zuordnen. Die enorme Fülle an neuen Empfindungen stürmte in so kurzen Abständen auf mich ein, dass mir tatsächlich schwindelig wurde. Das Leuchten meines Körpers flackerte. Der wiederum schien immerhin zu wissen, wohin er wollte, auch wenn er dabei wie betrunken herumschlingerte. Doch der Kurs blieb. Immer tiefer ins dunkle Herz des Tartaros hinein. Oder hinaus? Ich hatte eindeutig die Orientierung verloren.
Mit der linken Schulter streifte ich die gläserne Kante eines Hochhauses. Ich wandte den Kopf und blickte in das überraschte Gesicht einer pummligen Göttin. Sie saß in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa. Die Beine untergeschlagen. Eine blaue Decke darum gewickelt las sie in einem Buch. Die Inneneinrichtung sah aus wie die einer gewöhnlichen Wohnung, was Sinn machte, wenn man bedachte, dass auch die Götter hier unten irgendwie normal leben mussten. Trotzdem war dieses Bild verstörend. Wie aus einem Leben, das nicht hierhergehörte. Nicht in den Tartaros, ein Gefängnis.
Kurz trafen sich unsere Blicke. Ihre braunen Bambi-Augen wurden stetig größer, während mein eigener Körper sich grell im Fenster widerspiegelte. Gerade als ich an ihr vorbeidriftete, stand sie vom Sofa auf und stürzte zu mir. Mit zittrigen Fingern öffnete sie eine der gläsernen Fronten. Es knackte, als das schwere Glas nach innen schwang und ihr Kopf mit den schulterlangen blonden Locken herauspoppte.
»He–Hey, ist alles okay bei dir?« Ihre Stimme klang hoch und dünn. Ein süßlicher Geruch wehte mir entgegen. Ich öffnete den Mund, gab aber sofort wieder auf. Seufzend schüttelte ich den Kopf. Die junge Göttin musterte mich wachsam. Ihr Blick huschte über meine Gestalt, als würde sie Dinge sehen, die mir verborgen blieben. Hektische rote Flecken bildeten sich dabei auf ihren runden Wangen. »Ich … Ich glaube, da übt jemand einen Zauber auf dich aus!«
Ich riss besorgt die Augen auf.
»K-Keine Angst!«, stotterte die Göttin und lächelte kurzentschlossen. »Ich folge dir. Du bist nicht allein!« Im nächsten Moment verschwand sie aus meinem Sichtfeld.
Ich trieb davon, zog eine Schneise durch die Dunkelheit und spürte, wie Peace in meinem Inneren nach mir suchte. Seine Verbindung zu mir zog an meiner Seele, als hielte ein straff gespanntes Seil uns zusammen. Ich packte es und zog ihn gedanklich näher zu mir. Er folgte wie ein Bluthund, der seine Fährte aufgenommen hatte. Sehr gut. Zumindest war er unterwegs. Die Anspannung in meinem Nacken ließ ein wenig nach, als ich ein Rufen hörte. Mein Blick zuckte hinab zur Straße.
»Hey! Alles okay? Tief durchatmen! Ich glaube, es zieht dich in Richtung des Idiotendreiecks!«
Die Blondine! Sie stand unter mir, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und brüllte zu mir hoch. Idioten wo, was, wie? Perplex schaute ich auf die mollige Göttin hinab, die ihre Arme umständlich in eine kurze Jacke zwängte und dann hopsend versuchte, ihre Turnschuhe zuzubinden. Ihre kurzen Beinchen hatten Mühe, mit mir Schritt zu halten. Warum tat sie das? Warum folgte sie einer vollkommen Fremden, die wie eine Bekloppte an ihrem Wohnzimmerfenster vorbeigedüst war? Ich würde da ganz sicher nicht hinterherlaufen! Das tat man doch nicht einfach so, oder? Aber um ehrlich zu sein, erleichterte es mich, nicht mehr allein und ohne Hilfe durch den Tartaros zu segeln. Auch wenn besagte Hilfe gerade fluchend über eine Mülltonne stolperte und auf etwas Nassem ausrutschte. Fast hätte ich gelacht, besonders als sich die junge Göttin stöhnend etwas vom Hintern wischte. Das Mädchen linste zu mir hoch und errötete.
»Da war eine … ist dunkel!«, stotterte sie.
Meine Mundwinkel zuckten und ich bog scharf ein. Wenn ich geglaubt hatte, dass es in den Straßen dunkel gewesen war, die bisher nur von mir selbst beleuchtet worden waren, überkam mich hier eine völlig neue Dimension davon. Außerdem änderte sich der Geruch. Es roch nass, feucht und alt, müffelte nach Stein und schwarzer Magie. Das pulsierende Leben in den Straßen hatte sich in Stille verwandelt, war vorsichtiger und gleichzeitig wilder geworden. Wie ein Hunderudel, das warnend die Zähne fletschte. Wenige Lichter erhellten die Wege und die Gebäude waren baufällig und so brüchig, als wäre ich in einer Dystopie gelandet. Wer hier lebte, war eindeutig nicht reich. Meine Füße streiften die Antenne eines halb zerstörten Masts, als es auf einmal passierte. Mein Magen machte einen Salto. Es knackte in meinen Ohren und mein Hintern mimte einen Meteoriten, als er samt mir wie ein Stein vom Himmel fiel. Ohne Vorwarnung. Puff. Das Leuchten um mich herum flackerte wie bei einer kaputten Glühbirne. Ich kreischte. Das Haar peitschte mir ums Gesicht. Der Flugwind riss an meiner Haut und den Klamotten und ich starrte dem Abgrund entsetzt entgegen. Der Boden war nah. Viel zu nah. Mayday! Captain, wir haben ein Problem! Verzweifelt rief ich meine Flügel. Fühlte das Hervorbrechen der Federn und schlug hektisch aus. Zu spät.
Mit voller Wucht krachte ich auf den betonierten Boden. Staub und Asphaltbrocken flogen mir um die Ohren. Mein rechter Flügel knickte ein und ich stöhnte. Schwindel packte mich. Wie schon einen Tag – oder waren es bereits zwei? – zuvor schien mein Körper den Naturgesetzen zu trotzen. Ich blieb heil. Zumindest stachen keine Knochen oder ähnlich ekelhaftes Anatomiezeug heraus. Ich spuckte außerdem kein Blut oder meine Leber aus, was ich als gutes Zeichen wertete. Unter mir knirschten die Betonsplitter, die sich wie ein Nagelbett in meinen Rücken bohrten.
»Ist sie bei Bewusstsein?« Eine schrille Stimme ließ mich orientierungslos aufsehen. Staub wirbelte um mich herum. Ein paar abgerissene Federn flatterten zu Boden. Ich lag in der Kuhle, die mein Körper gewaltvoll in den Boden gerissen hatte. Die Umgebung war nur ein vager Schemen. Ich vermutete allerdings, dass ich in einem Hinterhof gelandet war. Häuserzeilen zogen sich vor und neben mir in die Höhe. Genau wie die Schatten zweier Gestalten, die in einigen Metern Entfernung standen und misstrauisch Abstand zu mir hielten. Ihre bohrenden Blicke jagten mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ächzend setzte ich mich auf und versuchte, das schwindelerregende Karussell in meinem Kopf anzuhalten.
»Sie ist wach!«, kreischte die weibliche Stimme erneut. »Mach was, Virus! Ich kann den Schwebzauber nicht länger aufrechterhalten, die ist wirklich verdammt schwer!«
»Nerv nicht rum, Karma! Ich muss sie mir erst mal ansehen«, gab Schemen Nummer zwei mit tiefer und angepisster Stimme zurück. Beide waren in etwa gleich groß, die Schultern des zweiten eindeutig männlich. Breit. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt, während die hohe Stimme, aka Schemen eins, mit Absätzen auf dem zersprungenen Asphalt klackerte. Das scharfe Klacken wirkte nervös.
»Du sollst sie nicht ansehen. Sie wird schon wieder! Der Zauber hat nur kurzzeitig ihre Struktur verflüssigt. Zwei Minuten und sie ist wieder wie vorher. Jetzt komm!«, motzte sie. »Hast du nicht gehört, was mit Shame passiert ist? Die Olle ist durchgeknallt. Schnapp sie dir und wir verschwinden. Wenn Peace uns mit ihr erwischt, sind wir am Arsch.«
»Halt die Klappe! Ich weiß, was ich tue und es hilft uns nichts, wenn sie Gelee ist«, zischte Mr. dunkle Stimme genervt. Wie hatte ihn die Frau genannt? Virus? Sagte mir nichts. Klang außerdem dämlich. Wie eine Geschlechtskrankheit. Oh, hast du auch Virus? Brennt wie Sau, oder?
Ich krächzte und hustete rasselnd, was die beiden zusammenzucken ließ.
»Mach hinne!«
Virus knurrte und fluchte dumpf, kam auf mich zu. Ich blinzelte zu ihm hoch. Zumindest versuchte ich es. Unter meinen geschwollenen Lidern erkannte ich helle Haut und ein kantiges Gesicht, das sich vor meines schob. Es dauerte ein paar Sekunden, in denen ich den Blick scharfstellte, um endlich mehr erkennen zu können. Seltsamerweise fiel mir sein Haar als Erstes auf. Es war von einem satten Dunkelgrün, dessen Farbe an Waldmoos erinnerte. Schräg. Eine Reihe von kleinen Drähten und Lämpchen zogen sich über die Hälfte seiner Stirn und scharfen Wangenknochen. Das Technikzeug ähnelte dem von Hack, nur waren die von Geschlechtskrankheit … äh, Virus aggressiver. Das Metall stach beinahe gewaltvoll in seine Haut und bohrte sich am anderen Ende wieder heraus. Fasziniert starrte ich ihn an. Seine Augenfarbe kam einer gelbäugigen Katze gleich. Gold und leuchtend. Verschlagen und hungrig.
Virus musterte mich ebenfalls. Mit fast greifbarer Intensität huschte sein Blick über meine Haut. Registrierte die Maske in meinem Gesicht und das lange goldene Haar, das auf dem Boden ausgebreitet lag. Seine faszinierenden Augen verschlangen jeden Zentimeter, den sie zu fassen bekamen. Lasziv strich er mir über die geknickten Flügelspitzen. »Atemberaubend!«, glaubte ich ihn murmeln zu hören. Offensichtlich war ich kein Gelee mehr, denn seine Haut traf auf meine Federn. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die Ränder dieser tatsächlich wieder an Festigkeit erlangten. Was war das für ein eigenartiger Zauber gewesen?
Ich zuckte zusammen und wich zurück. Seine Berührung schmerzte wie Nadeln, die durch meine Haut stachen.
»Hey! Hey, was macht ihr da?« Eine dritte Stimme zerriss die Stille.
Virus sah ruckartig auf und endlich hatte ich das Gefühl, wieder atmen zu können. Seine Begleiterin murrte etwas Abfälliges, als die mollige Göttin schnaufend wie eine Dampfwalze um die Ecke bog. Sie musste mehrfach kollabiert sein, denn über ihre hübschen Wangen zogen sich Schrammen und ihr Knie schien zu bluten. Keuchend joggte sie auf uns zu und hielt sich dabei mit gequältem Gesicht die linke Seite.
»Mannomann!« Ihre Wangen waren knallrot angelaufen. »Ich hätte doch nicht mit Zumba aufhören sollen, dachte schon, ich hole dich gar nicht mehr ein!« Sie schaute zwischen mir und dem Duo hin und her. »Karma, Virus!«, schnaufte sie überrascht. Allerdings nicht positiv. Ihre Stimme kippte bei dem letzten Namen leicht, was sie mit einem schiefen Grinsen zu verstecken versuchte. Sie blieb stehen. »Was tut ihr denn hier?« Ihr Stupsnäschen kräuselte sich nervös.
»Verschwinde, Fawn! Du störst!«, brummte Virus nach einem kurzen Räuspern, bei dem die Drähtchen an seiner Stirn unruhig aufleuchteten.
»Setz deinen fetten Arsch wieder in Bewegung, Fawn! Du hast hier nichts zu suchen«, plärrte seine Begleitung.
»Oh … ähm … aber …« Die kleine Göttin mit dem schönen Namen lachte nervös und kiekste dabei schrill. »… das ist … ähm … eine Freundin von mir! Sie hat kleine Navigationsschwierigkeiten. Meistens wenn sie Ambrosia mit Red Bull mischt. Ich habe ihr gesagt, sie soll das lassen, aber, tja … sie ist koffeinsüchtig und nicht immer die Hellste. Ich wollte sie gerade nach Hause bringen. Wir … ähm … sind schon zu spät zu, äh, einer P–Party!«
Nicht die Hellste? Empört guckte ich sie an. Eventuell hatte sie recht, aber mein Ego maulte trotzdem.
Virus verengte die leuchtenden Augen zu Schlitzen und stand langsam aus der Hocke auf. Ich registrierte seine langen Beine, die in einer engen dunklen Jeans steckten. An seinen Füßen trug er schwarze abgewetzte Stiefel. »Hau ab! Jetzt«, sagte er kurz angebunden, jedoch mit solch drohendem Unterton, dass Fawn der Arsch sichtlich auf Grundeis ging. Sie wurde blass und guckte hektisch zu mir.
Ihre volle Unterlippe bebte. »Mach ich, aber nicht ohne sie. Außerdem sind Verflüssigungszauber verboten. Die sind gefährlich! Stellt euch vor, sie hätte auf einmal ihre gesamte Struktur verloren«, fauchte sie Karma an, die wiederum nur mit den Schultern zuckte.
»Das Risiko war es wert.«
Meine Verwunderung wuchs erneut. Wieso tat Fawn das? Sie kannte mich doch gar nicht. Als würde Virus dasselbe denken, stieß er ein Lachen aus. Der Spott darin war nicht zu überhören. Dabei legte er den Kopf zur Seite und musterte die Göttin abschätzig. »Weißt du denn überhaupt, wer deine sogenannte Freundin ist, Fawny?«
Fawn zögerte und leckte sich über die Unterlippe. »Sie … das ist … also … wir kennen uns noch nicht lange!«, brachte sie mühsam hervor.
Ja, genau. In etwa drei Minuten.
»Aber sie gehört zu mir!«, schloss sie tapferer und funkelte Virus entschlossen an.
Er grinste.
Die Tusse neben ihm gackerte nervtötend. Sie erinnerte mich immer mehr an eine meiner Schwestern.
»Sie gehört nicht dir!«, stellte Virus klar. »Sie gehört dem Gottvater. Das ist Warrior Pandemos. Die neue Gottmutter.«
Fawns Gesichtszüge entgleisten. Sie betrachtete mich. Leider nicht mehr mit diesem netten, sorgenvollen Ausdruck darin, sondern richtiggehend verschreckt. Virus tat es ihr gleich, jedoch mit einem Hunger, der mir den Magen umdrehte. Gleichzeitig kribbelte meine Haut wie von einem jähen Energieschub. Etwas in mir reagierte auf ihn. Ich knallte diesem Etwas eine Bratpfanne auf den Kopf. Was hatte ich nur immer mit Typen, die mich entführten? War das ein Fetisch?
»Das hier ist eine Nummer zu groß für dich, Fawny«, schnurrte Virus. »Tu uns allen einen Gefallen, geh in deine Wohnung zurück und vergiss, was du gesehen hast. Wir kümmern uns um Warrior.«
»Das … Das ist keine gute Idee! Ihr solltet euch da nicht einmischen«, behauptete Fawn. »Peace wird alles in Schutt und Asche legen, wenn er bemerkt, dass sie weg ist!«
Hat er bereits bemerkt, warf ich stumm ein. Nur das mit dem In-Schutt-Legen ließ noch auf sich warten.
»Das ist ja auch der Plan!«, triumphierte Virus’ Freundin.
»Karma!«, fuhr ebenjener sie scharf an.
Die Tussi kam endlich so nahe, dass der Schatten aus ihrem Gesicht wich und ich sie anschauen konnte. Ich stöhnte entnervt. Passend zur Fistelstimme und der ätzenden Lache sah sie aus wie ein Pornostar. Langes schwarzes Haar, volle Lippen und Brüste, mit denen sie jemanden hätte erschlagen können. Welche Körbchengröße war das? Z?
Karma bemerkte, dass ich sie musterte, und grinste. »Ich verstehe das nicht!«, säuselte sie und fuhr mit der Hand ein paar träge Kreise um Virus’ Schultern. »Das ist die Kleine, um die so viel Aufstand gemacht wird? Sie sieht aus wie ein getretenes Hündchen.«
Getreten? Hündchen? Ich? Mit jedem mir verbliebenen Rest Energie funkelte ich sie wütend an. Nach allem, was ich in den letzten Tagen durchgemacht hatte, wirkte ich nun mal nicht, als hätte ich gerade das Filmset für Lutscht feucht und göttlich verlassen.
Alle drei musterten mich auf eine Weise, die mir nicht behagte. Wobei Fawn aussah, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie mir nun helfen oder schreiend Reißaus nehmen sollte. Ich an ihrer Stelle würde definitiv das mit dem Schreien machen. Wäre die gesündere Reaktion gewesen.
»Zumindest ist sie ziemlich still«, murmelte Virus. Erneut ging er vor mir in die Hocke, wobei er Porno-Karmas fummelnde Hände von sich schlug.
Virus fasste mir ins Gesicht. Sein Daumen sowie Zeige- und Mittelfinger drückten sich in meine Wangen, zwangen mich, ihn anzusehen.
Karma schnaubte. »Vielleicht ist sie stumm? Oder blöd?«
Ich stöhnte erneut.
Virus’ Zähne blitzten auf, als er grinste. »Bullshit!« Sein Atem traf meine Lippen. Er roch nach Pfefferminze. Ich wollte das Gesicht abwenden. Aber er ließ mich nicht. Die Wärme seiner Haut brannte sich bis zu meinem Kieferknochen durch. »Die ist nicht dumm. Schau mal in ihre Augen. Da stimmt etwas nicht. Hat Peace sein Spielzeug kaputt gemacht? Oder fickt er dich einfach so hart, bis du keine Stimme mehr hast?«, höhnte er.
Ich biss die Zähne zusammen und spuckte ihm dann mit voller Wucht ins Gesicht. Genüsslich beobachtete ich, wie der Spuckeklecks seine Wange heruntertropfte. Er erstarrte, eine Braue in die Höhe gezogen.
Die Pornogöttin kreischte. »Du kleine Bitch!« Sie stürmte mit wogenden Brüsten auf mich zu und wollte mir vermutlich eine knallen. Vielleicht sogar mit den Brüsten?
Doch Virus schubste sie so heftig zurück, dass sie in den unmöglich hohen High Heels strauchelte und umknickte. Sie konnte sich gerade noch an Fawn festhalten, die ihrerseits die Göttin musterte, als wäre etwas Ekliges auf ihrer Schulter gelandet.
»Was soll die Scheiße, Vi? Sie hat dich angespuckt!«, zischte Karma.
»Das hat sie.« Virus klang … amüsiert? Tatsächlich! Seine Augen funkelten belustigt, als er aufstand und sich nachlässig mit seinem Jackenärmel die Wange abwischte. »Gut so. Ich mag es bissig.« Er grinste so pervers, dass ich ungewollt rot wurde. Dieser miese, kleine …
Leider reagierte mein Körper ganz anders als mein Kopf auf diesen Mistkäfer. Prompt begann meine Haut heller zu leuchten und die Flügel zu beben, während Virus ebenfalls zu schimmern anfing. So stark, dass ich den elektrischen Strom hören konnte, der surrend von seinem Körper absprang. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Der Atem pfiff mir gepresst durch die Lunge.
Was immer Virus mit mir vorhatte, ich glaubte nicht, dass es in einer Pyjamaparty enden würde, bei der wir uns gegenseitig die Haare flechten und über den heißesten Typen von One Direction philosophieren würden. Madox war immer Team Styles gewesen. Virus schätzte ich weniger als One-Direction-Fanboy ein. Oder im Allgemeinen als Fanboy von irgendwas. Na ja, vielleicht von Bondage.
Wo war Peace? Was passierte hier für ein abgedrehter Twilight-Zone-Stuss? Langsam bekam ich dezent Panik … und Gänsehaut … und eine nervöse Blase. Aber wenn wir weiterhin hier herumstanden und quatschten, würde Peace uns eventuell rechtzeitig finden.
»Wir müssen los, bevor Peace kommt!«
Wow, Porno-Karma schien also doch über ihre Nippel hinweg denken zu können.
Virus nickte, schnippte und hielt plötzlich ein paar lange eiserne Ketten samt Handschellen in den Händen. Fuck. Das Modell kannte ich doch. Ein fieses Déjà-vu überkam mich. Ich sags ja, Bondage!
Fawn starrte die Ketten an, als wären sie ein Schwerkaliber, mit dem Virus uns über den Haufen ballern wollte. »Wo bringst du sie hin?«, fragte sie quietschend.
Ja, wohin?, wollte ich am liebsten mitquietschen.
»Ein letztes Mal! Verpiss dich, Fawn, oder ich nehme dich mit«, knurrte Virus, packte mich grob und zog mich hoch. Meine Flügel zuckten schwach. Seine Berührung kribbelte, als würde er mir eine saftige Portion Volt durch die Adern jagen. Ich öffnete den Mund, um … keine Ahnung, ihn noch mal anzuspucken? Anzuröcheln? Ihm zu zeigen, wie toll ich einen Koi-Karpfen nachahmen konnte? Aber Virus war viel zu schnell. Bevor ich mich wehren konnte, lag schon eine der Handschellen auf meinem rechten Handgelenk. Ich spürte etwas einrasten. Ein harter Stoß Magie zuckte durch meinen Arm. Ein zweiter folgte und ließ meine Finger taub werden. Ich fluchte stumm. Es schmerzte, als wäre ich in einen Busch voller Brennnesseln gefallen.
»Aua!«, jammerte selbst Virus, was ihn mir sympathisch gemacht hätte, wenn er nicht … na ja, er eben nicht gerade dabei gewesen wäre, mich in Ketten zu legen. Giftig starrte ich ihn an und spürte meine Gesichtszüge entgleisen.
Was zum Teufel sollte das denn werden? Die zweite Handschelle lag um Virus’ linkes Handgelenk. Die von Magie blau schimmernde Kette verband uns wie eine Leine.
Fawn schien schneller zu kapieren, denn ihr scharfes Einatmen ließ in mir alle Alarmglocken gleichzeitig losschrillen. »Das kannst du doch nicht tun, Virus!«, fuhr sie ihn an.
»Habe ich aber«, meinte er trocken und schüttelte die brennende Hand aus.
Ich tat es ihm nach. Musste ja verdammt lustig aussehen, so blöd, wie Porno-Karma kicherte.
»Du … das geht nicht! Das ist verboten!«, stammelte Fawn wenig hilfreich.
Mein Puls raste. Was? Was war verboten? Mich in Ketten zu legen? Definitiv. Schien aber ein Sport hier unten zu sein.
Virus grinste. »Nur eine Absicherung, falls Peace auf die dumme Idee kommt, mir den Arsch aufzureißen.« Er zog an den Ketten wie ein Herrchen an der Leine seines Hundes. In diesem Fall war das leider ich.
Prompt stellte ich mich stur, blieb einfach sitzen.
Virus zerrte fester und ich machte mich schwerer.
Seine Augen verengten sich. »Du hast zwei Optionen, Mädchen! Entweder du gehst freiwillig mit oder ich schleife dich durch den Straßendreck.«
Als Antwort schlug ich ihm meine Flügel ins Gesicht. Ha! Friss Federn, du Geschlechtskrankheit!
Er spuckte tatsächlich und funkelte mich so Unheil verkündend an, dass mir eine Gänsehaut über die Arme lief. »Wie du willst.« Damit begann er zu laufen.
Ich grunzte, lehnte mich zurück und stemmte die Fersen in den Beton, doch der Gott war eindeutig stärker als ich. Brutal preschte er nach vorn und ich verlor nach einem kurzen Tauziehen den Halt. Die Ketten zwischen uns zogen sich straff und er schleifte mich tatsächlich hinter sich durch den Dreck.
Lautlos schrie ich, strampelte mit den Beinen und spürte meine Arme aus den Gelenken kugeln. Der Boden riss an meiner Haut, schnitt brennende Schürfwunden in die Knie, Ellenbogen und mein Gesicht, die augenblicklich heilten, nur um erneut aufgerissen zu werden. Flehend sah ich zu Fawn hinüber, die uns hilflos hinterherrannte. Warum tat sie nichts? Ich wollte ja nicht kleinlich sein, aber sie hätte ruhig einmal kurz ihre Göttin rausholen und Virus ordentlich verkloppen können, statt entsetzt zuzusehen. So schwach konnte sie doch gar nicht sein!
Als hätte sie diesen Gedanken ebenfalls gehabt, stellte sie sich vor Virus und stemmte drohend die Hände in die Hüfte. Kämpferisch hob sie das Kinn. »Mach sie los, Virus. Das ist Wahnsinn. Selbst für dich. Ich kann das nicht zulassen.«
Ja! Innerlich applaudierte ich. Äußerlich spuckte ich die Ecke meines Schneidezahns aus.
Virus hingegen lachte. Karma stimmte schrill mit ein. »Was willst du tun, Pummelchen?«, fragte er.
Fawns Finger zuckten nervös und ihre Knie zitterten.
»Ein Bäumchen wachsen lassen und uns mit einer Grapefruit bewerfen?«, säuselte Karma.
»Eine Mandarine würde bei deinem Hohlschädel schon reichen«, gab Fawn patzig zurück.
Ich applaudierte heftiger.
Virus schien meine Belustigung zu bemerken und fuhr Karma harsch an. »Kümmere dich um sie!«, befahl er knapp. »Ich habe dich gewarnt, Fawn.«
Besorgt musterte ich Karma, deren Lächeln so breit wurde, dass die Haut an ihren Wangen eigentlich hätte platzen müssen. Ihre messerscharfen Zähne glänzten hungrig im schummrigen Licht.
»Karma …« Fawn trat einen ängstlichen Schritt zurück, die Arme abwehrend erhoben. Der Geruch nach frisch gemähter Wiese und Sonnenschein erfüllte die Luft. Ein paar Funken sprangen von ihren Fingern, schwebten und erloschen am kalten Boden, wo sofort kleine Gänseblümchen sprossen.
»Wie niedlich«, schnurrte Karma. Sie verschränkte Mittel- und Zeigefinger und ließ lautstark das Gelenk knacksen.
Ich schauderte bei dem Geräusch. Virus zerrte mich indessen weiter über den Hof. Meine Knie schürften erneut auf.
Fawn sprang aus der Schusslinie, als Karma ausholte und ihr einen Schwall nach Chemikalien stinkenden Rauch entgegenblies. Diese zuckte zusammen, weil die ersten Ausläufer sie erwischten. Schnell hielt sie sich den Ärmel über Nase und Mund, während sie erstickt hustete. Immer mehr Rauch hüllte sie ein. Ihre Schreie gellten in meinen Ohren. Karmas Lachen würde mich wohl noch in meinen Albträumen verfolgen.
Aufhören!, brüllte ich innerlich. Ich riss den Mund auf, wollte die Worte gewaltsam hervorholen. Wollte meine Energie mobilisieren und ihnen so sehr den Arsch aufreißen, dass der Tag in den Geschichtsbüchern als der internationale Arschaufreißtag einging, doch alles, was ich zustande brachte, war ein kraftloses Zerren an den Ketten. Meine Haut blinkte hektisch, meine Flügel flatterten wie die eines ängstlichen Huhns. Als ich Fawn ein weiteres Mal schreien hörte, gefolgt von einem nassen Gurgeln, überkam mich eine Woge aus beißender Übelkeit und Hilflosigkeit. Etwas in mir riss. Ich spielte meine Trumpfkarte, die ich eigentlich für später hatte aufheben wollen, aus und spürte, wie der Basilisk auf meiner Haut erwartungsvoll kribbelte.
Wenn ich schon Madox nicht hatte retten können, würde ich zumindest Fawn beschützen. Der Basilisk brüllte, sprang von meiner Haut und baute sich zu seiner vollen Länge und Größe vor der Pornogöttin auf.
Virus erstarrte, ebenso wie Karma, die mit Kulleraugen auf das Monster hochblickte, welches zischend seine drei Mäuler bleckte.
Fass!, befahl ich in Gedanken und das Tier folgte meinem stummen Befehl. Wie ein gut dressierter Hund schnellte es nach vorn. Seine Zähne schnappten zu, packten Karma an den Haaren und rissen sie nach oben. Diese schrie. Nebel wirbelte um ihren Körper wie ein langsam auftauchender Hurrikan. Erschrocken fiepte der Basilisk und ließ sie los. Die Göttin knallte neben Fawn auf den Boden, die keuchend zurückrobbte.
»Virus, hilf mir!«, kreischte Karma, als der Basilisk erneut nach ihr schnappte und sie diesmal an den Beinen erwischte.
Virus zögerte, schien zu überlegen, während die Drähte in seiner Stirn hektisch blinkten. Er funkelte mich an. »Pfeif das Ding zurück! Sofort!«
Als Antwort zeigte ich ihm die Zunge. Kindisch, aber befriedigend.
»Virus!« Karmas neuerliches Kreischen ließ uns beide aufsehen. Die Göttin steckte bereits zur Hälfte im Maul des linken Basiliskenkopfes. Ihre Magie schlug wütende Wellen. Der Nebel quoll dem Monster seitlich aus der Schnauze. Verätzte zischend seine Mundwinkel, während die Göttin wie ein Fisch mit Busen zwischen den Zähnen zappelte. Der Basilisk hatte offenkundig Mühe, so viel Brustumfang auf einmal runterzuschlucken. Immer wieder würgte er sie nach oben. Entweder schmeckte Karma wirklich beschissen oder sie war genauso giftig wie der Nebel, den sie ausstieß.
Gerade als Virus einen zögerlichen Schritt auf seine Freundin zumachte, schlug Zentimeter neben uns ein gleißender Blitz ein. Alle Haare standen mir zu Berge. Die Luft füllte sich mit dem Geruch nach Ozon und Schnee.
Virus sprang blitzschnell zur Seite und riss mich mit sich. Ich ächzte und kullerte neben seine Füße. An der Stelle, an der wir zuvor gestanden hatten, schwelte ein rauchendes Loch.
»Ich glaube, du hast etwas, das mir gehört!«
Nie hatte ich etwas Schöneres vernommen. Mein Kopf schoss nach oben. Die Erleichterung, als ich Peace auf der Mauer des Innenhofes hockend entdeckte, ließ mich ganz schwindelig werden. Fast vergaß ich die stillen Vorwürfe, seine Schuld am Tod meines Bruders und die niemals wirklich verschwinden wollende Distanz zwischen uns. Alles, was im Augenblick zählte, war, dass er hier war und mich verdammt noch mal vor diesen Irren rettete.
Um Peace’ Finger zischten die Blitze. In seinen Augen lag eine so tiefgreifende Kälte, wie ich sie nie zuvor bei ihm gesehen hatte.
»Peace!« Beinahe erfreut fixierte Virus den Gott. Die Drähte an seiner Stirn blinkten.
»Virus«, erwiderte Peace frostig. »Wie ich sehe, hast du neben deiner schwerwiegenden Schizophrenie noch eine zwanghafte Kleptomanie entwickelt.« Ein freudloses Lächeln huschte über seine Lippen. »Das war ziemlich dumm von dir.«
Ich guckte wahrscheinlich belämmert aus der Wäsche, bis ich begriff, dass Peace mit der Kleptomanie auf mich anspielte. Yep, ich war in Stresssituationen nicht unbedingt Einstein. Aber Schizophrenie?
Virus’ Grinsen erinnerte an das Zähnefletschen eines Wolfs. Er war also plemplem im Oberstübchen? Ich meine, nicht dass mich das jetzt sonderlich aus den Socken gerissen hätte, aber …
Porno-Karmas Kreischen riss uns erneut aus dem Einander-böse-Angucken. Die Göttin klatschte als schleimiger Haufen vor Virus und mir auf den Boden. Ihr schwarzes Haar hing nass hinab und sie stöhnte gequält auf.
Der Basilisk brüllte ohrenbetäubend und wand sich wie ein Aal. Sein schuppiger, sehniger Körper verknotete sich und krampfte. Ich spürte es als leichte Kopfschmerzen: Er starb. Wahrscheinlich wegen einer schwerwiegenden Karma-Vergiftung.
Peace runzelte die hübsche Stirn. Ich konnte es förmlich dahinter rattern hören. Er schien die Situation abzuwägen, bis er den Blick von dem sterbenden Monster abwandte und sich geschmeidig auf dem Mauervorsprung aufrichtete. Der Geruch von Ozon begleitete den gleißend blauen Blitz, den er warnend in unsere Richtung schickte. Die geballte Ladung schlug im Boden ein und riss Brocken von Beton heraus, die uns um die Ohren flogen. Virus wich geschickt aus, warf uns beide zur Seite, was meine Schultergelenke schmerzhaft knacken ließ.
»Du hast eine einzige Chance, Virus«, sagte Peace ruhig. »Gib sie mir oder ich …«
»Oder gar nichts, Peace. Schieb dir den Rest in den Arsch.« Virus lachte. Mein Magen sackte vor Überraschung herunter, als er seine Arme um mich schlang und mich schwungvoll hochhob. Er presste mich an sich wie einen Teddybären. Meine Beine baumelten über seinen Armen. Die Ketten, die uns aneinander schweißten, klirrten vernehmlich, während ich hektisch die Arme um seinen Nacken legte. Meine Flügel schleiften im Dreck. Auf einmal war ich dem Gott so nahe, dass ich seinen intensiven Geruch nach Minze genau in der Nase hatte. Mein Blick tastete seine blasse Haut ab. Verfolgte den Schwung seines Kiefers, der sich kampfbereit anspannte. Die leicht schiefe Nase, den vollen Mund und die feinen Härchen, die sich an seinen Nacken schmiegten. Weich wie Katzenfell unter meinen Fingern.
Erneut reagierte mein Körper, ohne dass ich es hätte verhindern können. Ich leuchtete auf, als hätte mich ein Leuchtschluckauf überkommen. Virus reagierte ebenfalls, bis sich unser Geruch nach Minze und Rosen vermischte. Eine einzigartige Kreation, die berauschend und gleichzeitig so falsch roch, dass ich mich in seinen Armen wand. Hilfe suchend starrte ich zu Peace, dessen Gesichtszüge bei unserem Anblick entgleisten.
»Was …«, hörte ich ihn flüstern. Seine hellen Silberaugen zuckten ungläubig über jedes Stückchen Haut, das mich und den Gott verband.
Virus schnurrte zufrieden. »Sie reagiert auf mich.« In seinen Augen lagen Schatten. »Du hast sie offiziell nie als deine Frau akzeptiert. Also ist ihre Seele rein theoretisch ungebunden. Euer Band kann brechen und ich werde dafür sorgen, dass es nicht mehr heilen kann. Sie wird Muttergöttin. Meine.«
Was? Ich versteifte mich so ruckartig in Virus’ Griff, dass dieser mich beinahe fallen ließ.
Blitze umkreisten Peace in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit. Sie surrten wie ein Bienenschwarm um ihn herum und verschwammen zu einer wirren Masse aus Helligkeit und Dunkelheit. »Du. Fasst. Warrior. Nicht. An!«, grollte er, sodass der Boden bebte. Ein Blitz folgte dem Grollen durch den gesamten Tartaros.
Virus duckte sich, als Peace angriff. Tänzelnd wich er aus, als der nächste und übernächste Blitz einschlug. Ich atmete Staub ein. Spürte Bruchstücke des Bodens meine Haut aufreißen und klammerte mich reflexartig fester an Virus. Barg mein Gesicht an seiner Brust, die sich hektisch hob und senkte. Seine Hände krallten sich in meine Haut. Die nächsten Blitze folgten, doch egal, wie knapp sie neben uns einschlugen, Virus schien jeden Schritt des anderen Gottes voraussehen zu können. Die Drähte in seinem Kopf arbeiteten auf Hochtouren. Er registrierte jede von Peace’ Bewegungen, als würde er eine Kalkulation im Kopf erstellen und auf dessen Ergebnis reagieren.
Peace fletschte die Zähne. Der Geruch nach Ozon legte sich bitter auf meine Zunge, während er einen solch grellen Blitz schleuderte, dass die Venen an seinen Armen silbern aufleuchteten. Das Licht blendete. In meinen Ohren pfiff es. Virus’ Herzschlag unter meiner Wange setzte aus. Seine Muskeln spannten sich an und in der nächsten Sekunde sprang er hoch, so schnell, dass mir das Haar aus dem Gesicht gerissen wurde. Meine Flügel knisterten von Peace’ Elektrizität. Virus drehte sich in der Luft und landete schwankend auf einem Strommast. Der Holzkeil schwankte unter unserem Gewicht. Die abgehenden Leitungen schlingerten und Peace katapultierte sich ebenfalls nach oben. Geschmeidig wie eine Katze landete er auf den Masten uns gegenüber. Die Elektrizität in der Leitung kroch wie Schlangen über die Schläuche und sammelte sich um seinen Körper, bis er den halben Innenhof erleuchtete.
»Gib mir Warrior!«
»Sonst was?«, provozierte Virus. »Schmeißt du weiter deine Fünkchen auf uns, bis du endlich triffst? Du würdest uns beide grillen, ist dir das eigentlich klar?«
»Warrior ist meine Gefährtin!«, blaffte Peace. »Die Blitze kitzeln sie höchstens. Der Einzige, dessen Schädel gleich zum Steak verarbeitet wird, bist du!«
Ich warf Virus einen triumphierenden Blick zu, der so viel heißen sollte wie: Ha! Das hast du’s. Mein Peace würde mir niemals wehtun! Na ja, zumindest nicht oft und nicht immer mit Absicht. Ach herrje.
Virus grinste spöttisch, während er die Ketten samt mir hochhob. »Ich würde mir das gründlich überlegen, Peacilein!«, säuselte er. »Kennst du diese Ketten noch?«
Peace’ Kiefer mahlte.
Nicht anschauen! Er will dich doch nur ablenken!
Natürlich hörte Peace nicht auf mein innerliches Kreischen, sondern starrte auf die Handschellen samt den dazugehörigen Ketten, die Virus und mich verbanden.
Ich verkrampfte mich, in der Annahme, dass Virus sofort zum Gegenangriff ansetzen würde, doch dieser wartete geduldig, bis Erkenntnis in Peace’ Gesicht aufflackerte. Gefolgt von einem bodenlosen Entsetzen, das seine Augen erkalten ließ.
»Wo hast du die her?«, flüsterte Peace. Die Blitze um ihn erloschen. Erneut schlug Dunkelheit über uns zusammen, sodass der Gottvater nur noch als vager Schemen vor uns aufragte.
Virus klirrte mit den Ketten. »Nice, oder? Ich wurde selbst nostalgisch, als ich die Dinger ausgegraben habe. Also? Willst du weiterspielen?«
Lächelnd grub er seine Finger in mein Fleisch. Er entlockte mir damit ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen.
Peace’ Blitze zuckten abermals auf, erleuchtete sein Gesicht, in dem ich die blanke Panik erkannte.
Was sind das für komische Ketten?
Peace schluckte, seine Stimme klang rau wie Schmirgelpapier. »Die haben längst ihre Wirkung verloren. Ihr Zweck wurde erfüllt. Chain war der Letzte.«
Virus knurrte. »Wage es nicht, seinen Namen auszusprechen, Peace Tantalos!« Die Drähte in seinem Kopf blinkten so schnell, dass ich jeden Moment einen Kurzschluss vermutete. »Nicht er, sondern du bist der Letzte!« Virus’ Augen waren so weit aufgerissen, dass der Wahnsinn darin in all seiner Deutlichkeit zutage trat. Die Schatten, die zuvor geisterhaft in seinen Pupillen geflackert hatten, schienen aus dem Weiß zu rücken und quollen träge über. Flossen wie schwarze Tränen über die Wangen. Zäh wie Teer verklebten sie seine Mundwinkel. Seine Haut wirkte transparent, sodass ich eine Vielzahl von Schaltkreisen und weiteren Verkabelungen darunter erkennen konnte. »Solange du und ich leben, Tantalos, sind diese Ketten verflucht! Wenn du uns also zu nahe kommst, wirst du nicht nur mich, sondern auch sie töten müssen!«
Ich fühlte mich vollkommen überfordert. Meine Gedanken rasten, während ich verzweifelt versuchte, das Gesagte zu verstehen. Worum ging es hier? Was waren das für Ketten? Wer war Chain? Womit war er der Letzte? Was war …
»Peace! Virus! Bitte nicht!«
Unser Trio guckte überrascht hinab. Fawn starrte zu uns hoch. Sie sah fürchterlich aus. Ihr Gesicht schmutzig, das lockige Haar stand in alle Richtungen ab und sie schien Schmerzen zu haben, denn sie hielt sich ächzend den Bauch. Götterblut leuchtete auf ihren Lippen.
»Fawn«, murmelte Peace. »Was machst du hier?«
Sie lächelte zittrig. »Es ist auch schön, dich wiederzusehen … Cousin.«
Moment. Was?