Читать книгу Warrior & Peace - Stella A. Tack - Страница 15

Äh … warum befummelt der Boss Luft?

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Eigentlich sollte ich es inzwischen gewöhnt sein, dass meine Seele, wenn ich schlief, auf Wanderschaft ging und dabei besonders gerne einen bestimmten blauhaarigen Bastard suchte. Trotzdem überraschte es mich, als ich ohne jede Vorwarnung in einem großen Raum mit einem langen Tisch stand. Irritiert schaute ich mich um. Wo zum Teuf…

»Warrior!«

Ich wirbelte herum. Am Kopfende stand besagter Mistkerl und ließ mein Herz hüpfen. Bei den Göttern! Er sah zum Ablecken aus. Die helle Haut, das Haar, das sich um seine Ohren kringelte, die vollen Lippen und die stolzen Wangenknochen in Kombination mit diesen großen grauen Augen. Das Verletzte schien verheilt zu sein, denn es strahlte mich mit einer solch greifbaren Intensität an, dass mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Es wunderte mich nicht, dass ich ihm am liebsten mein Höschen ins Gesicht klatschen wollte.

»Warrior, konzentrier dich!« Sein scharfer Befehl riss mich aus meiner Anschmachterei und ließ nebenbei die wohlige Seifenblase platzen.

Yep. Mr. Höschenfänger war superheiß und supernervig, sobald er den Mund aufmachte. Ich vergaß das andauernd.

»Mit wem redest du, Peace?«

Jetzt registrierte ich erst die anderen Götter. Die Elite saß zusammengewürfelt im Konferenzraum, in dem eine Stimmung herrschte, als wäre jemand gestorben. Ich knurrte unwillig, als ich zu allem Überfluss bemerkte, wie die Sprecherin ihre Schlampenfinger über Peace’ Schulter wandern ließ.

Shame besaß die Frechheit, menschliche Gefühle vorzuheucheln. Genervt schüttelte Peace sie ab und durchquerte so schnell den Raum, dass es an Rennen grenzte. Die anderen hielten in ihrer Diskussion inne und starrten ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Peace ignorierte sie alle und riss mich noch im Laufen so stürmisch in seine Arme, dass mir die Luft aus der Lunge wich.

»Warrior, ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!«, raunte er mir ins Haar. Seine Arme schlossen sich so fest um mich, als wollte er mich in sich hineindrücken. Ich pfffte überrascht.

Peace’ Schultern bebten. Seine Nase hatte er an meiner Schulter vergraben. Seine Nähe in Kombination mit seinem Geruch war dermaßen intensiv, dass ich selbst nicht anders konnte, als meine durchscheinenden Hände in sein T-Shirt zu krallen und mich an ihm festzuklammern. »Ich bin in den letzten Stunden tausende Tode gestorben«, flüsterte er und zwang mich, ihm ins Gesicht zu sehen. Ich schauderte ob des blanken Horrors, den ich in seinem Ausdruck erkannte. So viel Emotion hatte ich noch nie aus ihm hervorbrechen sehen. Als würden die silbernen Spiegel in einem dunklen Sturm untergehen.

»Äh … warum befummelt der Boss Luft?« Charmings verwirrte Frage holte uns ruckartig aus der Versunkenheit. Ich zuckte zusammen, doch Peace presste mich fester an sich und wandte das Gesicht den perplex guckenden Göttern zu.

»Warrior ist hier!«, unterrichtete er sie knapp. Ich fühlte seinen hektischen Herzschlag an meiner Wange.

»Wo?«, fragte Bizarre ebenso verwirrt, der neben Charming auf einem Stuhl lümmelte und die Beine gegen die Tischkante stemmte.

»Ich nehme an, da, wo er die Luft gegrapscht hat«, mutmaßte Shame trocken, die skeptisch in meine Richtung starrte, als könnte sie mich sehen. Ich schauderte erneut.

Peace ignorierte sie, umfasste mein Gesicht mit den Händen und musterte mich eindringlich. »Wie geht es dir? Haben sie dir etwas angetan? Wo bist du? Was hat Virus zu dir gesagt? Kannst du wieder reden?«, schoss er seine Fragen auf mich ab.

Ich schnalzte warnend mit der Zunge und zwickte ihn am Unterarm, bis er endlich lockerließ. Schließlich schüttelte ich den Kopf.

»Was?«, fragte er, packte mich an den Schultern und schüttelte mich hektisch. »Was, nein, Frau? Sag was! Ich sterbe hier vor Angst um dich!«

»Jetzt werde mal nicht melodramatisch, vorhin ging es dir prächtig«, schnaubte Shame, während Bizarre und der Rest immer noch blöd aus der Wäsche guckte.

»Ich verstehe es nicht!«, wandte Bizarre ein.

O, die ganz in der Ecke stand und einen zitternden Pflanzen-Busch streichelte, seufzte tief. Ihre milchigen Augen sahen wirrer aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Tiefe Ringe zogen sich darunter entlang und sie hatte Falten um den Mund. »Was gibt es da nicht zu verstehen, Bizarre? Warriors und Peace’ Seelen sind miteinander verbunden. Ja, schnaub nicht, Shame. Ist so! Find dich damit ab. Es liegt in ihrer Natur, seine Nähe zu suchen. Egal, wo er oder sie sich körperlich befinden. Peace’ Seele würde das Gleiche tun, wenn er denn eine hätte.«

»Kannst du sprechen?«, hakte Peace erneut nach, ohne dem Rummel um uns herum Beachtung zu schenken.

»Geht es ihr gut?«, fragte Charming und sprang auf die Füße. Dabei rang er die Hände. »Wie sieht sie aus? Unterernährt? Bekommt sie genug Ambrosia? Peace, sag ihr, dass sie als Gott-Küken mindestens einmal pro Tag Ambrosia trinken muss!«

»Sie sieht nicht unterernährt aus!«

»Sicher? Zähl ihre Rippen.«

»Was haben denn die damit zu tun?«

»Wenn sie rausstechen, ist sie unterernährt. Sie muss essen, sag ihr das!«

»Sie kann dich hören.«

»Oh … und kann sie dann auch endlich was sagen?«

Ich schmunzelte und zuckte hilflos mit den Schultern.

Peace schürzte die Lippen und schien scharf nachzudenken. »Ich glaube, zumindest dafür hätten wir eine Lösung. Brave!« Das letzte Wort bellte er in solch einem harschen Befehlston, dass der halbe Raum in Habachtstellung ging. Inklusive mir.

Der Busch zu Os Füßen raschelte. Ein paar Blätter fielen zu Boden, als die Rinde knarrte und sich streckte. Die Ästchen wurden dicker, nahmen Konturen an, bis er im Konferenzraum stand. Grünzeug hing ihm in den Haaren und aus seinem linken Ohr lugte ein freches Ästchen. Wie auch bei O schlugen seine Augenringe jeden Farbspektrums-Rekord. Er schwankte, wurde jedoch von O gestützt.

»Bin hier, Peace«, murmelte der blonde Hüne. Dass er so fertig war, brach mir das Herz. Sein wirrer Blick huschte umher. Augenscheinlich sah er mich nicht. »Ich höre zu«, versprach er lallend, als hätte er zu viel Alkohol getrunken.

»Braves Gehör ist auf jede göttliche Frequenz eingestellt. Er hört alles!«, erklärte Peace mir eindringlich, während er mich nach vorn bugsierte. Dabei streifte ich Fade, Lost und Charming, die allesamt erschraken.

»Kalt!«, jammerte Fade, das Weichei.

Peace platzierte mich vor Brave. »Er wird dich hören können«, setzte er seine Erklärung fachmännisch fort und musterte seinen Halbbruder wie ein seltsames Instrument. »Denke, so laut du kannst. Konzentrier dich dabei auf ihn.«

Zweifelnd hob ich eine Braue.

Peace biss die Zähne zusammen und stupste mich an. »Probier es!«

Ich seufzte, legte den Kopf in den Nacken und dachte: Bananenbrot.

Nichts. Brave starrte immer noch blicklos an meinem linken Ohr vorbei. Seine Funktion als göttlicher Radioempfänger schien ihn also auch empfänglicher für Astralkörper, wie ich gerade einer war, zu machen. Interessant. Ich fragte mich, was Brave so alles hörte. Inklusive von Wesen, die wir nicht sehen konnten. Der Arme würde wahrscheinlich in ein paar Jahren genauso irre sein wie O. Gott sei Dank war ich kein Medium.

Peace zwickte mich. »Denke lauter!«, befahl er harsch.

Grrr, na schön, wie er wollte. Ich begann brav »Sweety Pie« zu singen. Nichts. Hinter uns tuschelten die Götter. Ich konnte Shame gemein kichern hören.

»Blöde Schlampe!« Braves Mund öffnete sich und sagte exakt jene Worte, die mir durch den Kopf ergangen waren. Alle verstummten und starrten ihn an.

»Ups, sorry«, dachte ich und klatschte mir die Hand gegen die Stirn.

»Ups, sorry!«, wiederholte Brave mich roboterhaft. Schweiß stand ihm auf der Stirn.

Die Götter lachten. Shame zischte und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. »Wie hat die Missgeburt mich genannt?«, fragte sie.

»Hat Shame mal wieder PMS?«, stichelte Brave an meiner statt und brachte abermals alle zum Lachen. Langsam begann auch ich zu schmunzeln.

Peace’ Augen leuchteten vor Aufregung. »Wie geht es dir?«, fragte er mich, bevor Shame weiterzetern konnte.

Ich räusperte mich gedanklich und gab meine Worte so klar und deutlich wie möglich an Brave weiter.

»Soweit gut. Virus hat mich in seine Liga der Schmollenden-Gerechtigkeit-Nerds verschleppt und dieser Typ, Age, hat meine Verletzung untersucht.«

Peace’ Nasenflügel blähten sich. »Age? Hast du Age gesagt?«, fragte er besorgt.

Ich nickte.

»Ja«, antwortete Brave für mich. »Groß. Emo. Akutes Haarschnittproblem, mit dem Mopp vor den Augen habe ich Angst, dass er eines Tages gegen die Wand rennt, und bei seiner Stimme hätte ich mir am liebsten eine Kugel gegeben.«

»Die hätte ich dir gerne gegeben!«, murrte Shame, wurde jedoch ignoriert. Alle lauschten unserem schrägen Dreiergespräch.

»Wo bist du?«, wollte Peace wissen.

»In einem Dia.«

»Wo?«

»In einem Diabild.«

Peace zischte. »Brave! Übersetze richtig. Wo bist du, Warrior? Wir werden dich dort herausholen!«

Ich stemmte die Hände in die Hüfte. »Nein! Wirklich! Ich stecke in einem Diabild.«

Während Peace immer verzweifelter die Stirn runzelte, kam es mir so vor, als würde Charming heftig zusammenzucken. Bizarre sah es ebenfalls und starrte ihn irritiert an.

»Aber, was … wo soll das sein?«

Ich seufzte hilflos. »Wir sind lange Zeit einfach herumgerannt«, ließ ich Brave erzählen. »Dort draußen steht im Nirgendwo ein Dia-Projektor mit den passenden Bildern. Wir sind dort drin.«

»Das klingt mir sehr verdächtig nach Spiegelmagie!«, warf Hack ein.

»Realitätsverschiebung!«, korrigierte Fade.

»Age ist der Gott der Zeit …«, murmelte Peace. »Könnte er das?« Er stellte die Frage niemand Bestimmtem, trotzdem entbrannte sofort eine wilde Diskussion.

Peace’ schnaubte. »Klappe!«, bellte er, was nur zögerlich befolgt wurde.

»Kannst du uns Punkte nennen, an denen wir uns orientieren können?«, fragte mich Honor, der rothaarige Kriegsgott.

Ich schüttelte bedauernd den Kopf. »Das Dia zeigte ein hässliches Wohnzimmer«, war alles, was ich beisteuern konnte.

»Details?«, verlangte Peace zu wissen.

»Ein sehr, sehr hässliches Wohnzimmer!«

»Warrior!«

»Was denn? Ich habe keine Ahnung. Die halbe Zeit war ich ohnmächtig, wir könnten sonst wo sein.«

»Na gut.« Peace holte tief Luft. »Hör zu. Wir werden es schon finden, aber bis dahin halte dich bedeckt. Virus und die anderen sind ausgesprochen gefährlich. Sie alle haben versucht, einen Platz in der Elite zu bekommen, und sind gescheitert. Sie sind der Abschaum des Tartaros. Vor allem Virus und Age musst du im Auge behalten. Virus ist schwer schizophren. Er hat den Sturz in den Tartaros nicht gut überstanden und Age ist sein Schoßhund. Die beiden sind wie Pest und Cholera!«

»Sie haben sich selbst als die Elite des Untergrunds bezeichnet! Virus sagte, sie würden den Job machen, den ihr vernachlässigt«, ließ ich Peace wissen.

Um mich herum ertönte schallendes Gelächter.

»Das ist, als würde sich die Mafia als Regierung bezeichnen!«, prustete Peace.

Mhm. Ich musterte ihn. Etwas passte mir hier nicht. Bei Virus genauso wenig. Aber ich würde das jetzt auf sich beruhen lassen. Vorerst. »Virus sagt, die Götter verhungern auf der Straße.«

Plötzlich lachte niemand mehr.

»Was für ein Bullshit!«, knurrte Bizarre. »Nur weil er alle in ihr Verderben zieht, die in sein Kielwasser geraten. Er verwechselt da die Realität mit seiner verkorksten Weltansicht. Hör nicht auf ihn, Barbie. Virus hat schon lange seinen gesunden Menschenverstand verloren.«

Er wirkt aber nicht verrückt, dachte ich beklommen, hielt die Worte jedoch wohlweislich zurück. Falls Brave das gehört hatte, so sagte er schlauerweise nichts.

Peace musterte mich. Seine Finger strichen zärtlich über meine Unterlippe, während er sich langsam vorlehnte und mich küsste. Mein Köper kribbelte. Brach in helles Leuchten aus, das die andern anscheinend bemerkten, denn sie blinzelten irritiert. Seine Lippen lagen warm und weich auf meinen. Bewegten sich vorsichtig. Liebkosten mich mit einer kaum unterdrückten Leidenschaft, die ich genüsslich schluckte. Ich schloss die Augen und seufzte, während eine Hitzewelle die nächste durch meine kalten Zellen jagte. Hier gehörte ich hin. In seine Arme. Ein Teil in mir wusste das, auch wenn der andere immer noch zögerte.

»Es tut mir so leid, dass du in diese alte Fehde hineingeraten bist.« Peace lehnte seine Stirn gegen meine. Eine blaue Haarsträhne kitzelte mich.

Ich schauderte.

»Ich werde dich finden!«, versprach er mir. »Virus hängt an Altlasten, die schon seit Jahrzehnten begraben sind. Hör nicht auf das, was er sagt, und wenn doch, schalte deinen Verstand ein und bedenke, dass alles, was er bisher getan hat, in Tod und Zerstörung geendet hat. Du kennst seine Vergangenheit nicht. Er wird auch mit dir versuchen, seine Pläne durchzusetzen, aber ich weiß, wie stark und mutig du bist, was für eine spitze Zunge du hast. Lass dich nicht von ihm brechen. Ich … Ich brauche dich. Bei mir.«

»Ich tue mein Bestes«, ließ ich ihn lächelnd durch Brave wissen. Mehr konnte und wollte ich nicht versprechen. Erst musste ich herausfinden, was hier vor sich ging.

Peace schloss die Augen, sog tief die Luft ein und küsste mich sanft auf die Stirn. »Da wäre noch was …«, flüsterte er, sodass nur ich ihn hören konnte. »Das mit deinem Bruder tut mir unendlich leid. Ich habe einen Fehler gemacht. Einen riesengroßen Fehler. Ich werde das wieder geradebiegen, selbst wenn ich …«

Ich wachte ruckartig auf – mit dem Geschmack von Blut im Mund. Meine Zunge pochte, als hätte ich mich selbst gebissen. Orientierungslos schaute ich mich um. Erfasste Möbel, die ich nicht kannte, hörte Geräusche, die mir unbekannt waren, und fühlte einen Körper, der mir absolut fremd war. Erstarrt tastete ich darüber. Meine Hand lag auf einem breiten, festen Brustkorb, der sich langsam hob und senkte. In böser Vorahnung zog ich die Schultern hoch, machte eine Schnute und schaute auf Mr. Brustkorb hinab. Die Lichter der Kabel in seiner Stirn blinkten. Das dunkelgrüne Haar fiel ihm in die hohe Stirn. Es war Virus.

O Fuck.

Ich lag mit meinem Kidnapper im Bett und kuschelte. Außerdem hatte ich ihm auf das T-Shirt gesabbert. Ich riss meine Hand zurück und verlor den Halt. Die Schwerkraft zog an meinem Hintern, gab mir einen Schubs und ich knallte mit dem Kopf auf den Boden auf, während meine Beine immer noch am Bett in die Höhe ragten. Aua! Schmerz zog durch mein Steißbein und an meinem Handgelenk rieb die Metallschnalle. Ich stöhnte.

Virus’ Schnarchen kam ins Stocken. »Wa…«, murmelte er. Es raschelte und jemand zog das Bettzeug unter meinen Füßen weg, bevor ein vom Schlaf verwuschelter Schopf zu mir hinablugte.

Mein großer Zeh wackelte genau neben seiner Nase. Ich hoffte, er stank. Virus’ müde gelbe Augen musterten mich und wurden von einer Sekunde auf die nächsten riesengroß. Er stieß einen so unerwarteten Schrei aus, dass ich erschrocken zurückkreischte. Nur stumm halt.

Fluchend hob er ein Kissen und knallte es mir heftig ins Gesicht.

Ich spuckte Federn. Rollte mich zur Seite, verhedderte mich mit den Beinen im Laken und zappelte hilflos, während er bekloppt brüllend ein zweites Kissen auf mich schleuderte. Dieses hielt er jedoch fest. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, als er nach mir schlug, als wäre ich eine eklige Spinne. Strampelnd versuchte ich, mich aus dem Deckenburrito zu befreien.

»Sailor! Ash!«, brüllte Virus.

Poff. Das Kissen schlug mir hart auf die Nase.

Ich nieste.

»Eindringling!«

Poff.

Meine Wange bekam eine gekloppt.

Poff.

Ich schmeckte Stoff zwischen den Zähnen.

Poff.

Aua! Der ging gegens Kinn.

Poff.

Eine Tür, die ich zuvor gar nicht bemerkt hatte, wurde lautstark aufgerissen. Ich konnte sie gegen die Wand knallen hören, gefolgt von dem lauten Gebrüll zweier Stimmen. Ich fuhr hoch, während Sailor und Ash ins Zimmer stürmten, beide so zerknautscht, als wären sie ebenfalls gerade aus dem Bett gefallen. Die langen Haare fielen ihnen wirr bis zur Taille hinab. Sailor trug lediglich eine Schlafanzughose, sodass ich ein paar silberne Nippelpiercings aufblitzen sah. Uh. Ash versuchte, hinter einer halb verrutschten Schlafmaske hervorzublinzeln, und band sich einen pink geblümten Kimono zu, leider nicht schnell genug. Er war offensichtlich ein Freund von Männertangas. Ach du meine Fresse. Keine Ahnung, was irritierender war: Sailors Nippel oder Ashs notdürftige Betuchung. Beide Götter hielten trotz schlafdesolaten Zustands extrem gefährlich aussehende Knarren in der Hand, deren Abzüge sie klickend entsicherten.

»Helft mir!«

Poff. Der nächste Schlag.

Ich grunzte und trat nach Virus. Dabei klirrten die langen Ketten zwischen uns.

»Was? Bei den Göttern, was ist los?«, verlangte Sailor, dessen Pistolenlauf ziellos durch den Raum irrte, keuchend zu wissen.

»Ich … Sie versucht, mich zu kidnappen!«, jammerte Virus vollkommen aufgelöst und sprang kampfbereit im Bett auf, dessen durchgelegene Federung ihn auf und ab hopsen ließ. Das Kissen hielt er dabei drohend über den Kopf.

Mir klappte der Mund auf. Was?

»Hä?«, stieß auch Ash aus, der es endlich schaffte, die Schlafmaske ganz nach oben zu schieben. Sein Blick huschte durch den Raum, bis er die volle Situation erfasst hatte. Ich als Deckenburrito und durchgepolstert am Boden. Virus sichtlich geistesgestört über mir.

»Hmpft!«, flehte ich die beiden atemlos an und hob schützend die Hände. Virus keuchte. Poff.

Aua.

»Macht doch was!«, rief er ungläubig.

Die Brüder glotzten nur. Zumindest bis Sailor zu kichern begann. Ash fiel mit ein. Ich war nicht die Einzige, die die beiden mit wütenden Blicken durchbohrte. Wobei Virus zusätzlich verwirrt aussah.

»Chill mal, Chain.« Sailor lachte. »Alles gut. Das ist Warrior. Wir haben dir doch erzählt, dass wir sie holen würden, oder?«

Virus und ich hatten ein dickes, fettes im Gesicht.

Wir starrten einander misstrauisch an.

»Warrior?«, fragte der grünhaarige Gott, während er meinen Namen aussprach, als hinterließe er einen seltsamen Geschmack auf seiner Zunge.

Chain?, echote ich in Gedanken.

Die göttlichen Brüder sicherten ihre Waffen. »Wir erklären das! Sorry, Chain, wir dachten, du wachst erst später auf«, schmunzelte Ash und rauschte auf mich zu. Mit flinken Fingern entwirrte er meine Beine aus den Laken und stellte mich auf die Füße.

Ich schwankte und hielt mich schnell an ihm fest, bevor meine Beine nachgeben konnten. Aber immerhin stand ich. Fortschritt! Virus – Chain? – zog die Brauen zusammen und knüllte das Kissen in seinen Armen zusammen. Er lehnte das Kinn darauf und betrachtete mich ausgiebig.

»Was? Warum lag sie in unserem Bett? Und was ist das?«, fragte er und zerrte an den Kettengliedern.

Sailor gähnte schmatzend und winkte zur offenstehenden Tür hinaus. »Kommt ins Wohnzimmer. Wir erklären es euch dort.«

Virus, oder wie auch immer er nun hieß, warf mir einen weiteren misstrauischen Blick zu, ehe er geschmeidig vom Bett sprang und aus dem Raum verschwand. Das Kissen immer noch vor sich gepresst wie einen fluffigen Schutzschild.

Ich blieb so lange stehen, bis sich die Kettenglieder spannten und ich folgen musste, um nicht hinterhergeschleift zu werden. Ash stützte mich, als ich wie besoffen wankte. Dabei lächelte er mich für einen Kidnapperkomplizen viel zu freundlich an. Der Tanga blitzte vor meinen Augen auf. Ich seufzte schwer und folgte den ungeduldig ziehenden Ketten. Kalte Luft traf mich, als wir in den Flur hinaustraten. Die Umgebung wirkte wenig beeindruckend. Der nackte runde Betongang vermittelte mir das Gefühl, in einer Röhre spazieren zu gehen. Teilweise stachen bunte Graffitimotive aus dem Grau hervor. Es roch feucht und muffig, wobei mir die Kälte durch die Socken zog. Wo verflucht noch mal waren meine Schuhe? Die Antwort erübrigte sich. Ich stolperte darüber, sobald wir den Röhrentunnel in eine Abzweigung verließen, der in das grauenhafte Wohnzimmer aus meinen Erinnerungen führte. Lautlos fluchend kickte ich die Schuhe fort, dankbar für Ashs schnelle Reaktion, als dieser mich packte.

»Setz dich, Liebes, du siehst desorientiert aus«, sagte er leise und bugsierte mich auf das grässliche Sofa. Der bekloppte Virus seufzte und setzte sich demonstrativ ans andere Ende. So weit von mir entfernt wie möglich. Peinliches Schweigen setzte ein, während wir uns alle ziemlich misstrauisch anstarrten. Ich pflückte mir missmutig eine Feder aus den Haaren. Virus musterte mich stirnrunzelnd, wobei die Lichter an seiner Stirn ausblieben. Hatte er vergessen, sich über Nacht aufzuladen? Wo war überhaupt die Steckdose für die inneren Batterien? Ich grinste, als mein Blick zu seinem Hintern wanderte.

Virus presste schnell die Beine zusammen und guckte finster.

»Hier, trink das!« Ashs Hand tauchte vor meiner Nase auf und hielt mir einen randvoll gefüllten Kaffeebecher entgegen, auf dem ICH BIN EIN G-Y-L-F (God you like to fuck) stand. Kaum hielt ich ihn in der Hand, knurrte mein Magen so laut, dass es alle hören konnten.

Sailor grinste breit.

Ich äugelte misstrauisch hinein und schnupperte. Ambrosia! Aber vielleicht war das Zeug vergiftet. Oder mit Drogen vollgepumpt! Oder das Ablaufdatum überschritten. Ich verzog das Gesicht, hielt den Becher von mir weg und schüttelte den Kopf.

»Du kannst es ruhig trinken. Wir haben keine K.O.-Tropfen reingemischt. Wahre Männer vergewaltigen Frauen bei Bewusstsein«, feixte Sailor.

Ash knallte seinem Bruder die flache Hand gegen die Stirn. »Baka!« Dummkopf.

Sailor grinste lediglich lüstern.

Ich verdrehte die Augen. Immer gut, die Vergewaltigungsvorlieben seiner Kidnapper zu wissen. Falls es dazu kam, musste ich mich also nur tot stellen und war safe.

»Trink.« Ash seufzte. »Es ist alles okay damit, du siehst hungrig aus.«

Das war ich auch. Hölle! Aber mein Misstrauen blieb. Ich unkte so lange gedanklich herum, bis Sailor genervt schnaubte, sich meine Tasse schnappte und einen tiefen Schluck nahm. Ich beobachtete mit Argusaugen, wie sein Adamsapfel hüpfte, während ihm ein roter Tropfen aus dem Mundwinkel rann. Er setzte erneut an, machte den Mund auf und zeigte mir demonstrativ den Rest des roten Getränks, das er langsam runterschluckte.

»Los jetzt!«, befahl er mir und drückte das Behältnis zurück in meine klamme Hand. Mein Magen knurrte prompt und ich funkelte ihn strafend an. Verräter. Trotzdem verkrampften sich meine Finger um die Tasse, während ich nachdachte. Hielten die mich für blöd? Ich hatte Game of Thrones gesehen! Vielleicht hatte Sailor vorher ein Gegengift genommen, um nicht an dem Gesöff zu krepieren! Vielleicht –

»Trink oder Chain vermöbelt dich wieder mit dem Kissen!«, drohte Ash streng und ich … ach Gott.

Der Hunger und die bösen Blicke, die mich ein bisschen an Diamond erinnerten, obsiegten über meine Skrupel. Ich senkte den Kopf und tunkte blitzschnell die Zungenspitze ein.

Sailor klatschte sich die Hand gegen die Stirn. »Können wir die nicht zurückgeben?«, nörgelte er.

Ich funkelte ihn an, unterdessen ich den Tropfen in meinem Mund zergehen ließ. So. Wenn ich in den nächsten Sekunden nicht die Augen verdrehte und den Löffel abgab, würde ich es noch mal versuchen. Alle warteten, während ich in Gedanken auf den Joffreytod wartete, der jedoch erfreulicherweise ausblieb.

»Siehst du?«, sagte Ash und lächelte. »Du musst dir keine Sorgen machen. Wirklich! Sieh uns nicht so an, wir erklären dir alles.«

Ich schnaubte und machte einen letzten Sicherheitsschnupperer, bevor ich das Getränk als ungefährlich einstufte. Ich setzte die Tasse an und stürzte das Zeug in drei Zügen herunter. Himmel, war das gut! Stöhnend schloss ich die Augen und genoss das Brennen, als mir die warme Ambrosia die Kehle in den Bauch rann. Danach rülpste ich. Laut und feucht. Auf Etikette musste ich bei meinen Kidnappern ja wohl nicht achten.

Einen hoffnungsvollen Ausdruck konnte ich nicht unterdrücken.

»Mehr?«, fragte Ash, ganz der Gastgeber.

Ich nickte hektisch und hielt ihm den Kaffeebecher unter die Nase.

Es klickte, als er den Verschluss einer Thermoskanne runterdrückte und mir erneut eingoss. Genüsslich schlabberte ich auch diese in Rekordzeit herunter. Mein Magenknurren wurde leiser. Zum ersten Mal entspannte ich mich ein wenig. Ich lehnte mich sogar zurück und zog die Füße zu einem Schneidersitz zusammen.

»Musst du noch normal essen, Warrior?« Ash stellte die Kanne neben mir ab, damit ich mich bedienen konnte, wenn ich wollte. Ich bemühte mich, die Geste nicht nett zu finden, und scheiterte. Dann legte ich den Kopf schief, leckte mir den Ambrosiabart von der Oberlippe und nickte zögerlich. Mit Daumen und Zeigefinger deutete ich ein bisschen noch an.

»Sailor, bringst du das Zeug?«, rief Ash seinem Bruder zu. Als Antwort flog mir eine Schachtel in den Schoß. Keuchend fing ich sie auf. Das waren Twinkies! Ich presste die Kuchen mit Marshmallowfüllung so innig an mich wie Sméagol seinen Ring.

Ash lachte. »Iss nur. Sie gehören alle dir!«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Glücklich riss ich die Schachtel auf, holte eines der langen Küchlein aus der Verpackung und stopfte es mir in den Mund. Meine Backen füllten sich mit herrlichem, klebrigen Teig. Die Creme explodierte in meinem Mund und ich stöhnte in meinen Kuchenorgasmus hinein, wobei ich vermutlich wie der glücklichste Hamster aller Zeiten aussah. Alle starrten mich mit der Faszination eines Autounfalls an, während ich einen Kuchen nach dem anderen inhalierte.

»Scheiße! Kaust du überhaupt?«, fragte Sailor nach dem fünften Stück.

Ich schob Nummer sechs hinterher.

»Wie eine Anakonda!«, gluckste Ash.

»Das gibt Deep Throat eine ganz neue Bedeutung«, säuselte Sailor anzüglich.

Ich zeigte ihm den Mittelfinger, während mir etwas Creme aus dem Mundwinkel rann. Virus – oder auch Chain – blieb stumm und sah mir mit wachsender Verwirrung zu, wie ich Twinkie acht in meinem Mund verkuchisierte. Zum ersten Mal seit gefühlten fünf Minuten schnappte ich nach Luft.

»Du solltest mehr kauen, sonst bekommst du Bauchschmerzen«, stellte Ash streng fest.

»Oder in einem Foodporno auftreten«, meinte Sailor.

Ich warf die leere Verpackung nach ihm.

»Ich versteh nicht …«, unterbrach Virus-Chain unser Geplänkel. Eine grüne Strähne fiel ihm in die Stirn. »Das ist … du bist Warrior? Peace’ Gefährtin?«

Widerstrebend nickte ich. Entführte er so oft Frauen, dass er sie nicht mehr auseinanderhalten konnte?

»Ja, das ist Warrior«, bestätigte Ash freundlich. »Virus hat sie gestern zu uns gebracht.«

Ich hielt im Kauen inne und legte den Kopf zur Seite. Hä?

Virus-Chain presste die Lippen zusammen. Er musterte mich. »Dann hat er es also wirklich getan?«

Ash nickte schwach. »Sieht so aus.«

»Und diese Ketten sind …«, murmelte Chain stockend und sah schaudernd auf seine Hand hinab. »Das sind die Tantalos’ Ketten? Ich habe sie nicht mehr … Ich kann mich nicht mehr so genau an sie erinnern.«

»Es tut mir leid, Chain«, setzte Ash die Konversation fort, während ich die Bahnhöfe in meinen Ohren rauschen hören konnte.

Auszeit! Ich verstand kein Wort.

»Es war notwendig«, redete der blonde Gott weiter auf den grünhaarigen ein. »Wir hätten es nicht getan, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte. Das weißt du.«

Virus-Chain oder auf einmal Doch-nur-Chain biss so fest die Zähne zusammen, dass die Muskeln an seinem Kinn hervortraten. Er wandte angewidert den Blick ab. »Mir wird schlecht, wenn ich sie ansehen muss.«

Erst dachte ich, er meinte mich, doch seine Hände zerrten dabei an den Ketten.

Seine Hände waren schön, registrierte ich irritiert. Lang und feingliedrig wie die eines Klavierspielers … eines irren Psychopathenklavierspielers. Oder einfach nur die eines Psychopathen mit einem Hang zur Handpflege.

»Warum hat er das getan?«, stieß Chain aus. »Er hätte es vergessen sollen. Das Ganze ist viele Jahre her und das Mädchen hat es nicht verdient, hier zu sein.«

Mit dem Mädchen war wohl ich gemeint, denn er linste unter seinen dunklen Wimpern zu mir. Es lag ein solch verletzlicher Ausdruck darin, dass sich mein mit Twinkies vollgestopfter Magen zusammenknautschte. Was sollte das?

»Es tut mir leid, Warrior«, flüsterte er.

»Hör auf damit, Chain«, schalt Ash ihn sanft. »Hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Wir sorgen bestens für Warrior und alles wird am Ende gut werden. Virus’ Plan ist genial. Er wird funktionieren. Hat er ja schon.« Er deutete auf mich.

»Nein, das wird er nicht. Das ist vollkommen sinnlos!«, stöhnte Chain und vergrub das Gesicht im Kissen. Plötzlich verspürte ich den unwiderstehlichen Drang, zu meinem Kidnapper zu robben und ihn in die Arme zu nehmen. Er wirkte so schrecklich verloren. Wow. Ein Tag in Gefangenschaft und ich entwickelte bereits das Stockholm-Syndrom. Ich applaudierte mir gedanklich und mein innerer Psychologe wies mich freundlich in die Klapse ein. Eine weiße Weste für die Göttin, bitte.

Ash bemerkte meine zehntausend Fragezeichen und lächelte traurig. »Verwirrt?«

Ich nickte heftig.

Ash seufzte und verzog gequält das Gesicht. »Das ist eine komplizierte Geschichte und ich weiß nicht, wie viel Virus möchte, dass wir dir erzählen, aber …«

»Oh, bei den Göttern, Ash! Fass es einfach zusammen!«, schnarrte Sailor. Er fixierte mich und mich beschlich die Ahnung, dass ich gleich etwas Schlimmes hören würde. »Dann tu ich es eben. Du bist bei uns, weil dein süßer Peace verflucht in den Tartaros geworfen worden ist.«

Okay. Das wusste ich schon.

Sailor grinste dunkel und ich spürte die Gänsehaut auf meinem Nacken tanzen.

»Nicht nur, dass Old Zeusi ihm die Seele genommen hat«, fuhr er fort. »Für den gewissen Kick hat er gleich dafür gesorgt, dass seine Stammlinie hier unten nicht zu mächtig wird, und schickte Peace deshalb samt Ketten runter. Die Dinger sind mit einem familiären Todesfluch besetzt, der selbst Unsterbliche töten kann. Dein süßer Schnuckiputz hat jeden, der den Namen Tantalos trägt, abgeschlachtet. Teils, weil der Fluch ihn dazu zwang. Teils, weil er verflucht, wie er war, nicht an die Spitze der Elite gelangen konnte. Chain, Virus’ Halbbruder, war der letzte direkte Verwandte mit dem Namen Tantalos. Peace köpfte ihn vor unseren Augen. Der Fluch brach damit allerdings nicht, weil Peace selbst noch am Leben war, ist … wie auch immer. Die Ketten verloren trotzdem einen Teil ihrer Wirksamkeit, sodass der Bastard sie ablegen und zum Gottvater aufsteigen konnte.«

Mir knallten die Kinnladen herunter. Schlimmer! Mir entgleiste alles, was einem entgleisen konnte. Ich blinzelte, hob die Hände und deutete hektisch Time Out an.

Doch Sailor redete weiter. Schonungslos und mit einem Schnurren in der Stimme, als genösse er es, mein Herz samt meinem Glauben an Peace in den Staub zu treten.

»Jedenfalls besitzt Virus die Macht der Janus-Gesichter. Er nahm Chains sterbenden Geist in sich auf, sodass dieser in seinem Körper weiterleben konnte. Sie wechseln in regelmäßigen Abständen ihre Persönlichkeit. Sie können es nicht kontrollieren. Während der eine den Körper nutzt, schläft der andere und umgekehrt. Seitdem besteht eine Vendetta zwischen Peace und Virus und wir werden dieses kranke Arschloch von seinem Thron prügeln. Mit deiner Hilfe. Ende.«

Stille.

What the fuck. Extreme Stille.

Ich starrte die Brüder an. Danach Chain, der mich unschuldig ansah, und noch während meine Gedanken Karussell fuhren, schlug mir zum ersten Mal sein Geruch in die Nase. Zimt. Er roch nach würzigem, warmen Zimt. Wie ein Plätzchen zu Weihnachten. Nicht nach Pfefferminze wie Virus. Dieser fremde Geruch eines anderen Gottes traf mich wie ein Faustschlag. Ich ächzte. Sprang auf. Die Ketten klirrten und ich starrte sie im blanken Horror an. Mit diesen Tantalosketten war Peace verflucht gewesen? Ihretwegen hatte er seine Familie ermordet. Alle? Peace hatte sie allen Ernstes getötet? Warum hatte ich davon nichts gewusst? Nicht er oder ein Einziger aus der Elite hatte mir je etwas davon erzählt oder wenigstens angedeutet. In meinen Ohren pfiff es. Hektisch begann ich, wie eine Irre im Raum rumzulaufen. Dabei torkelte ich über meine eigenen Füße.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Peace etwas so Grausiges getan haben sollte. Sicher, er war ein arroganter Idiot. Ein Arschloch. Manchmal auch ein Snob, aber doch kein Monster. Verdammt noch mal, ich liebte diesen Mistkerl! Er konnte doch nicht …

Schwindel packte mich und ich stolperte. Krallte mich an etwas fest, das sich als Virus’ … nein, als Chains Brust herausstellte. Er stützte mich.

»Hey, Warrior. Tief durchatmen«, beschwor er mich.

Ich schüttelte den Kopf, durchforstete sein Gesicht, suchte nach Anzeichen, dass er wirklich der war, für den er sich ausgab. Chain. Eine andere Persönlichkeit. Die Brüder konnten mir immerhin Blödsinn erzählen. Sicher würden sie lügen. Ich selbst täte es an ihrer Stelle und diese Gewissheit lag mir schwer im Magen. Sie könnten das Blaue vom Himmel lügen, damit ich anfing, ihnen zu vertrauen. An Peace zu zweifeln. Ihre verrückten Pläne unterstützte, obwohl wir wichtigere Dinge zu tun hatten wie … na ja … unsere Eltern zu töten. Himmelherrgott! Wütend schüttelte ich den Kopf, riss mich los und taumelte gegen die hässliche Clownslampe.

»Warum sagt sie nichts?« Besorgt verfolgte Chain meine Bewegungen. »Warum sagst du nichts?«, fragte er mich nun direkt.

Zornig öffnete ich den Mund und brüllte. Ein Pfft entkam, aber sonst blieb alles still. Tränen schossen mir in die Augen. Das alles war so unglaublich beschissen! Alles hier! Peace. Virus. Chain. Der Tartaros. Unsere Eltern. Madox. Ich schluchzte. Bemühte mich, keinen Zusammenbruch zu bekommen, der sich jedoch wie Galle nach oben drängte. Letztlich knickte ich ein, fing mich mit den Händen auf und krallte meine Finger in den fleckigen Teppich.

»Wir wissen es nicht«, erklärte Ash für mich. »Sie kam schon so an. Sie kann nicht sprechen, war blass und beinahe bewegungsunfähig. Es muss etwas passiert sein, kurz bevor sie zu uns kam. Age meinte, ihre Magie sei blockiert. Wir dachten, dass du ihr vielleicht helfen kannst.« Ashs Satz hing in der Luft.

Ich sah Chains Reaktion nicht. Allerdings dauerte es lediglich wenige Sekunden, in denen ich meinen panischen Gedanken hinterherjagte, bis seine Füße in meinem Blickfeld auftauchten. Steifbeinig ließ er sich neben mich fallen. Sanft, beinahe schüchtern nahm er mein Gesicht in die Hände und drehte es zu sich. Ich wehrte mich, aber er hielt mich fest, bis mein Kiefer knirschte. Wie gern hätte ich ihm jetzt eine Beleidigung ins Gesicht geschrien.

»Schhht«, tröstete er mich leise. »Beruhig dich, Warrior. Ich glaube, vieles kam in Sailors Kurzfassung nicht ganz korrekt an. Schnauf einmal tief durch. Wir erklären dir das noch mal in Ruhe, okay?«

Hektisch nickte ich, auch wenn ich dabei würgen musste.

»Zeigt ihr das Buch«, wies er an.

Ich drehte den Kopf weg, wollte Chains Berührung nicht länger auf mir pulsieren fühlen, und er ließ es zu.

Ash brachte ein dickes Buch und legte es aufgeschlagen neben uns.

»Kennst du es?«, fragte Chain.

Nachdenklich beäugte ich es. Das Atmen fiel mir so verdammt schwer. In meinem Hirn ratterte es. Das Papier des fetten Schmökers wirkte trotz seines offensichtlichen Alters neuwertig. Die Schrift war so eng gedruckt, dass ich ihn am liebsten unter ein Mikroskop gelegt hätte. Ich nahm den Buchdeckel zwischen Zeigefinger und Daumen, warf einen schnellen Blick auf den Einband.

τους θεούς

Tous Theous, übersetzte ich im Kopf. Mit meinem Griechisch stand es mehr schlecht als recht. Okay, eigentlich hatte ich mir nur die Schimpfwörter gemerkt, aber diesen Schinken kannte jedes Gottkind. Er stand auf dem Pflichtprogramm wie bei den Menschen die Bibel und wurde selbst den Kleinsten als Gutenachtlektüre vorgelesen. Zeus selbst hatte es geschrieben.

»Das sind Überlieferungen der Götter bis hin zu den letzten achtzig Jahren.«

Worauf wollte er hinaus? Ich ließ den Buchdeckel fallen. Die beschrifteten Seiten klafften viel zu weiß und grell vor uns auf.

Chain sah mir ernst ins Gesicht. »Lies Abschnitt achtundfünfzig, c eins. Dann weißt du, dass wir dich nicht belügen.«

Ich wollte aber lieber belogen werden. Besser als solch eine Wahrheit. Meine Mundwinkel zuckten. Kalter Schweiß brach mir unter den Achseln aus. Ich schauderte, meine Augen huschten auf die Seiten hinab und ich begann zu lesen.

Zuletzt verfluchte Zeus seine eigene verräterische Sippe. Die Tantaliden. Solange es noch Nachfahren gäbe, besaß dieser Fluch Gültigkeit. Der Fluch bestand darin, dass jeder seiner Nachfahren ein Familienmitglied töten und damit eine Kette der Gewalt und Erbschuld auf sich laden musste, die erst sein Ende fände, wenn der letzte Schicksalsfaden der Tantaliden erlosch.

Dort stand es zwar nicht explizit, aber ich wusste, wer gemeint war.

Einmal von Peace abgesehen musste das Chain sein. Ich starrte den grünhaarigen Gott an.

Die Stelle kannte ich. Natürlich tat ich das. Diamond hatte mich ganze Seiten auswendig lernen lassen. Das hier war echt. Sie logen mich nicht an.

»Warrior, Warrior, nicht ohnmächtig werden!«

Ich blinzelte. Schwarze Flecken tanzten vor mir.

Chain gab mir einen Klaps auf die Wange, den ich kaum spürte.

»Du solltest sie dringend untersuchen, Chain«, sagte Ash besorgt.

Chain nickte. Die kleine Ohrfeige wurde zu einem festen Griff, der meinen steifen Nacken in seine Richtung zwang. Das Gold in Chains Augen leuchtete wie flüssige Lava.

»Tief durchatmen, Warrior. Wir erklären dir alles ganz in Ruhe. Aber ich würde mir gerne ansehen, was mit dir los ist. Darf ich das? Versprochen, ich werde dich nicht manipulieren oder … ich …« Er stockte. »Es tut mir so leid für dich. Was Virus getan hat, ist nicht entschuldbar. Hiermit entschuldige ich mich dennoch für ihn. Wenn ich es gewusst hätte, dass er seinen Plan durchzieht, dann …« Er ließ den Satz unbeendet, schaute mich genauso verzweifelt und ratlos an, wie ich mich fühlte.

Ihr wollt mir helfen? Dann lasst mich frei!, wollte ich ihm ins Gesicht schreien. Alles in mich lechzte danach zu laufen, zu fliegen. Weit weg von Chain, Virus und Textstelle achtundfünfzig, c eins. Ich musste zu Peace zurück, mich in seine Arme werfen, den Geruch nach Schnee und Ozon einatmen. Mich versichern, dass er kein Monster war.

Aber er hat Madox getötet, flüsterte eine verräterische Stimme in meinem Inneren. Du kennst Peace gar nicht.

Du hast dich in einen Fremden verliebt.

Er ist ein Monster. Ein seelenloses Monster. Und was machst du? Was hast du getan, außer auf deinem Arsch zu sitzen und darauf zu warten, dass es besser wird?

Du bist so dumm, Warrior.

Und dezent hormongesteuert.

Ich wimmerte.

Chains Daumen streichelten mich weiter. Als ich den Kopf wegzog, hörte er auf.

»Tief durchatmen. Wir kriegen das hin«, sagte er und klang wie eine Hebamme, die eine werdende Mutter zum Atmen zwingen wollte.

Zum Teufel! Ich wollte mich nicht beruhigen.

Heftig schüttelte ich den Kopf.

»Hör zu!«, redete Chain weiter, doch ich sprang auf, trat das Buch aus dem Weg. Es flatterte durch den Raum und klatschte gegen die Wand.

Bebend stürmte ich hinaus. Ließ die Twinkies, die Ambrosia und die anderen zurück. Blind rannte ich in den kalten Tunnel – und die Ketten spannten sich ruckartig. Die Glieder klirrten und die Handschellen schnitten mir in die Haut. Ich schwankte, zu schwach, um daran zu reißen und Chain einfach mitzuschleifen, wie es Virus bereits mit mir getan hatte. Dennoch zerrte ich daran, bis meine Fingerspitzen pochten und blutleer waren. Ohne jede Vorwarnung lockerte sich die Spannung und ich stolperte nach vorn. Mein Kopf schoss zurück und ich entdeckte Chains besorgtes Gesicht, das zu mir in den Tunnel lugte. Sailor und Ash standen wenig auffällig hinter ihm.

Alle drei schienen, als stünden sie einem hungrigen Löwen gegenüber. Stumm knurrte ich sie an und stürmte in das Zimmer, in dem ich vorhin mit Chain aufgewacht war.

Der Griff glitt kalt an meiner Hand entlang, als ich die Tür hinter mir zuschlug. Das Holz knarrte und sprang natürlich sofort wieder wegen dieser bescheuerten Kette auf! Emotional geladen verpasste ich der Tür einen weiteren Tritt und warf mich mit dem Rücken dagegen. Drückte so fest zu, dass mein Rücken ächzte, und schloss sie mit Gewalt, obwohl dabei der hölzerne Rahmen rund um die Ketten splitterte. Zitternd rutschte ich hinab, blieb am Boden sitzen und schlang die Arme um die Knie. Mein Atem ging viel zu schnell. Viel zu hektisch. Die Worte drehten sich in meinem Kopf, den ich nun kräftig gegen das Holz schlug.

Warum?

Noch mal.

Der Knall und der darauffolgende Schmerz taten erstaunlich gut. Ein emotionaler Selbstverstümmler war ich eigentlich nicht. Himmel! Ich heulte ja schon, wenn ich mich beim Rasieren schnitt, aber das hier war aktuell das Einzige, das mich davon abhielt, ins Gaga-Land abzudriften. Ich wollte nicht mehr! Ich kündigte! Die Welt konnte mich mal am Allerwertesten lecken.

»Warrior?«

Es klopfte zaghaft und ich konnte drei Götter durch den Türschlitz atmen hören. Als Erwiderung knallte ich den Ellenbogen dagegen. Es rumste. Sailor quietschte, während Chain sich räusperte. »Komm raus, Liebes. Wir … also, das ist jetzt alles viel dramatischer, als es in Wirklichkeit ist. Komm raus und wir reden über alles.«

Ach? Und über was wollten sie reden? Darüber, warum sie mir einen Gefallen getan hatten, als sie mich gekidnappt hatten? Oder warum sie mich überhaupt mitgenommen hatten wie ein Last-Minute-Angebot, womit sie unseren Plan, die Götter zu stürzen, noch schwieriger gemacht hatten? Oder darüber, warum die Welt mir offensichtlich gerne auf den Kopf schiss und sich dabei köstlich amüsierte?

Meine Gedanken drehten sich. Das Licht im Raum ging hektisch an und aus. Tauchte den Raum mal in grelles Licht, mal in dunkle Schatten. Ich sah rot. Sprichwörtlich. Irgendetwas in mir machte ping. Etwas veränderte mich. Nicht körperlich, aber in mir war ein ohnehin brüchiger Bogen überspannt worden und riss. Die Göttin in mir wurde wach. Wühlte sich durch Dunkelheit, Schmerz und Wut. Ballte sich in mir zusammen und platzte wie eine überreife Frucht aus meiner Haut heraus. Die Flügel schossen aus meinem Rücken und rauschten um meinen Körper, als ich auf die Füße sprang und meiner Wut freien Lauf ließ.

Der Boden grollte. Die Glühbirne über mir brannte durch und zersprang in klirrende Einzelteile, die auf meinen Kopf hinabregneten. Meine Füße pulsierten im Takt meines Herzschlages, der Wellen aus Energie freiließ. Ich konnte die anderen hinter mir erschrocken aufschreien hören. Chains Klopfen wurde hektischer und ging in einem lauten Splittern unter, als sich meine Magie wie ein tollwütiger Hund von der Leine riss. Die geballte Entladung traf die Tür und zersprengte sie. Grimmig schaute ich auf einen verdutzten Chain hinab, der den losen Knauf in der Hand hielt. Die anderen schielten ängstlich zu mir hoch. Das O Scheiße stand ihnen praktisch ins Gesicht geschrieben.

Ich breitete meine Flügel aus. Die Muskeln an meinen Schultern schmerzten dabei vor Anspannung. Sie raschelten und erfüllten den Raum mit grellem Weiß, während der Boden immer heftiger unter meinem Nervenzusammenbruch bebte.

Jetzt hatten sie einen Grund zu schreien.

Ein Schauder schüttelte mich, als meine Magie in einer aggressiven Welle durch den Raum schnellte. Ich traf das Bett, das in einer Kaskade aus Federn und Stoff explodierte. Der nächste Ruck zertrümmerte das elektronische Equipment, das im Raum herumstand.

»Nein!«, hörte ich Chain kreischen, doch da sprühte der Schrott bereits Funken und stank nach verbranntem Plastik. Kabel ragten heraus und spiegelten meine aktuelle Gefühlswelt treffend wider. Langsam drehte ich mich um und fixierte die Götter mit einem Raubtierblick.

Alle starrten mich an. Ich trat einen Schritt vor. Sprünge zogen sich erst durch das Holz des Bodens, dann durch das Graffiti im Flur.

Ich würde jetzt gehen und diesem ganzen Theater ein Ende bereiten. Selbst wenn ich Chain dabei die ganze Zeit hinter mir her schleifen musste … oder … Ich schaute zu dem Bruchstück, das aus dem Haufen Elektroschrott herausragte. Scharf und dünn wie das Blatt einer Guillotine. Ein Plan formte sich in meinem Kopf und obwohl ein Teil von mir panisch zu kreischen begann, grinste die Göttin in mir zufrieden. Meine Hand war zart, die Finger lang und dünn. Trotzdem saßen die Handschellen eine Spur zu fest, um mich herauswinden zu können. Aber ohne Daumen …

Ich preschte nach vorn und zog das Metallteil aus dem Elektrohaufen. Das scharfe Eisen drang wie ein heißes Messer durch Butter in meine weichen Fingerkuppen ein. Perfekt. Entschlossen hob ich die gefesselte Hand.

Chain und die anderen schienen unterdessen zu begreifen, was ich vorhatte. Sie schrien. Chain stürzte in meine Richtung, doch ich wich zurück, schlug ihm meine Flügel ins Gesicht und holte mit dem scharfen Ende aus. Ohne zu zögern, ließ ich es auf mein Handgelenk hinunterfahren.

»Nicht! Hör auf!«

Ein Körper traf mich und riss mich hart zu Boden. Ich knallte mit den Rücken auf und rutschte auf das Eisenblatt. Anstatt meinen Daumen zu treffen, erwischte ich meinen Unterarm. Es ging erstaunlich schnell. Ich spürte eine sirrende Kälte. Im nächsten Moment hörte ich die Ketten, als diese samt meiner Hand abfielen. Silbernes Blut sprudelte aus dem Stumpf. Das Fleisch war so glatt zerteilt, dass ich die Knochen von Elle und Speiche sehen konnte.

»O Himmel, wie eklig!«, stöhnte jemand über mir.

Alle hatten innegehalten. Wie paralysiert guckten sie auf meine Extremität.

Sie zuckte auf makabre Art, erinnerte an den Schwanz einer Eidechse. Das war meine Chance. Ich zog die Beine an und trat Age, der mir am nächsten stand, in den Bauch. Er ächzte, krümmte sich und fiel nach hinten. Blitzschnell war ich auf den Füßen und rannte zu Tür.

Frei! Keine Ketten. Nichts, was mich festhielt.

Diese Gewissheit, so ekelhaft sie auch erkauft worden war, ließ mich schneller laufen. Meine Füße klatschten auf den kalten Beton. Schneller als jemals zuvor. Meine Flügel schlugen aus. Ich hetzte durch den Gang, immer geradeaus. Dabei hinterließ ich einen steten Strom aus silbernem Blut, das mein pumpendes Herz aus dem Stumpf presste. Die innere Warrior war soeben in Ohnmacht gefallen und würgte. Die Göttin jedoch schüttelte genervt den Stumpf aus und bespritzte dabei die Wände. Die Hand würde ohnehin nachwachsen. Hoffentlich.

Als die Röhre sich verzweigte, stürzte ich auf gut Glück in den linken Gang, während hinter mir die Schritte lauter wurden. Wäre ja zu schön gewesen, wenn sie stattdessen länger auf meine Hand gestarrt hätten.

Schlitternd bog ich nach rechts ab, wo ein Rinnsal Wasser auftauchte. Wahrscheinlich riss ich mir bei dieser Hetzjagd sämtliches Fleisch von den Fersen, doch es gab kein Halten mehr. Wenn ich stehen blieb, würden sie mich einfangen. Etwas, das ich nicht zulassen konnte. Nie mehr. Der Wasserpegel stieg. Inzwischen reichte es mir bis zu den Knien und war so kalt, dass meine Waden krampften, während ich in ungebrochener Geschwindigkeit hindurchpflügte. Meine Flügel hoben sich, zogen sich in den Rücken zurück, weil sie mir durch die Nässe zu schwer wurden.

Mein eigener Atem hallte rasselnd an den runden Wänden vorbei. Mein Blick huschte durch die Dunkelheit. Nahm jeden Schatten wahr. Die Silhouetten der Götter in meinem Rücken. Es kam mir vor, als würden sie in eine falsche Röhre abbiegen. Kurz atmete ich auf. Stürmte ein wenig langsamer in den nächsten Gang hinein und hörte Wasser aufspritzen. Mein Kopf schoss nach links.

Chain. Sie holten mich ein. Lautlos fluchend schlug ich einen Haken. Rutschte am schmierigen Untergrund aus und stützte mich mit dem blutigen Stumpf an der körnigen Wand ab. Mein Haar fiel mir triefend ins Gesicht. Ich schüttelte es zur Seite, rannte nach rechts und knallte unvermittelt gegen ein Gitter, das den Durchgang versperrte.

Verdammt! Verdammt! Verdammt! Ich biss die Zähne zusammen. Die anderen waren so knapp hinter mir.

»Warrior! Bitte bleib stehen. Wir können dich nicht gehen lassen. Wir brauchen dich«, rief Ash verzweifelt. Er klang genauso aus der Puste, wie ich mich fühlte.

Meine Lunge ächzte nach Luft, die meine schnappende Atmung nicht mehr liefern konnte. Ich stolperte und fühlte das kalte Gitter an meinem Rücken. Prüfend schätzte ich ein, ob es sich noch lohnte umzukehren, doch da hatten sie mich bereits eingeholt.

Die Götter verschmolzen fast mit ihren Schatten. Besonders Sailor, der wie aus dem Nichts vor mir auftauchte, meine Haare packte und mich zu sich riss.

Weg von dem Gitter. Weg von der Freiheit.

Metall drückte gegen meine pochende Schläfe.

»Ganz ruhig, sonst werde ich …«

Wahrscheinlich wollte er schießen sagen, ich beschloss jedoch, ihn zu überrumpeln, bevor er mir weiter drohen konnte. Schroff schlug ich ihm den Ellenbogen in den Bauch. Er krümmte sich. Sailors Finger drückte den Abzug. Ich hörte das Klicken der Waffe, als sich die Kugel in der Trommel drehte und abgeschossen wurde. Geistesgegenwärtig zog ich den Kopf nach vorn. Dabei spürte ich meine Haare aus der Kopfhaut reißen. Der Knall zerriss die Betonröhre. Etwas gab an meinem Hinterkopf nach.

Es brannte höllisch und Sailors Griff lockerte sich. Ich stolperte, drehte mich um und sah meine langen Haare in seinem Griff baumeln. Schmutzig trieben sie im Wasser wie Seegras.

Er hatte sie abgeschossen. Ich dehnte meine knackenden Nackenwirbel. In meinen Ohren pfiff es noch von der Lautstärke des Schusses.

»Warrior, bitte lass uns …« Chain kam mir hinterher. Seine Hand nach wie vor in den Handschellen. Schnaubend spannte ich meine Flügel an und ließ eine weitere Welle Magie aus mir hervorschnellen. Dabei fixierte ich das Gitter. Sie traf die Metallstreben, welche mit einem befriedigenden Knirschen aus der Verankerung sprengten. Das Gitter flog nach vorn und krachte klirrend gegen eine Wand.

Die Götter taumelten zurück und ich nahm mir einen tiefen Atemzug Zeit, bevor ich meinen Arsch hochbekam und durch die neue Öffnung rannte. Weiter vorn erspähte ich tatsächlich Licht. Dort ging es nach draußen! Ich hatte zwar keine Ahnung, wo dieses Draußen war, aber ich kam meiner Freiheit ein Stückchen näher. Die anderen nahmen die Verfolgung abermals auf. Ihre Präsenz kitzelte in meinem Nacken und ich schlitterte aus dem Tunnel. Meine Zehen traten ins Freie. Die Röhre war wohl ein Abwasserkanal gewesen, welcher in einigen Meter Höhe angebracht war und aus einem klaffenden Felsen ragte. Aber das nahm ich nur am Rande wahr. Mein Körper taumelte, die Schwerkraft zog an mir und ich fiel mitten in den hell erleuchteten Tartaros hinab. Der Wind peitschte durch meine nunmehr kurzen Haare. Ich breitete die Flügel aus, schlug mit ihnen und fühlte die Muskeln in meinem Rücken arbeiten, um mein eigenes Gewicht nach oben zu tragen. Die Luft wirbelte die Federn auf, zog daran vorbei, bis ich endlich Auftrieb bekam und an Geschwindigkeit gewann. Innerlich bereits meine Freiheit bejubelnd, hallte plötzlich ein Pistolenknall durch die Luft. Sekunden später spürte ich den Einschlag in meinem linken Flügel. Die Kugel zerschlug die Membran. Federn zerbarsten und trudelten zu Boden. Der brennende Schmerz ließ mich stumm aufschreien. Ein weiterer Schuss traf diesmal meinen rechten.

Peng.

Peng.

Peng.

Einer nach dem anderen zerfetzte mehr von meinen Schwingen. Sie knickten ächzend in sich zusammen. Mir entglitt die Kontrolle und ich kam ins Trudeln. Bei der Landung geriet ich ins Stolpern, fuhr jedoch sofort herum und sah Sailor und Ash auf mich zukommen. Beide leuchteten grell. Ash gelb und rot wie die Sonne. Sailor blau und weiß wie der Mond. In ihren Händen hielten sie glänzende Pistolen, die mich vom Himmel geholt hatten. Keuchend robbte ich nach hinten. Mein verbliebenes Handgelenk genügte nicht, ich war zu langsam.

Sailor und Ash standen bereits vor mir. Sie hoben die Waffen, sodass ich in die rauchenden schwarzen Mündungen blicken konnte. Ich spuckte ihnen Blut vor die Füße und zog sämtliche Register.

Knurrend sprangen Bloodclaw und der Basilisk von meiner Haut. Beide verkeilten sich mit den Göttern und zogen sie von den Füßen. Diese zielten dennoch mit den Pistolen und schossen. Der Höllenhund jaulte auf. Ich wollte mich hochstemmen, doch der Boden knirschte und Chain stand keuchend vor mir. Das grüne Haar fiel ihm wirr in die Stirn. Seine leuchtend gelben Augen fixierten mich.

»Bitte!«, schnaufte er. »Ich bin auf deiner Seite. Ich werde dir helfen, aber nicht so …«

Ein heiseres Stöhnen entwich mir. Meine Finger fuhren zu der Maske in meinem Gesicht, doch sie rührte sich nicht. Keinen Millimeter. Ich grub die Nägel in die Haut. Riss blutige Kratzer hinein, doch sie saß wie festgeklebt. Virus hatte sie also tatsächlich mit Magie fixiert.

Die Verzweiflung schnürte mir die Luft ab. Ich schlug mit meiner Magie aus, doch Chain wich aus.

»Bitte!«, flehte er. »Ich helfe dir. Du musst nur aufhören, dich zu wehren!«

Ich schüttelte den Kopf. Die nächste Welle fegte ihn von den Füßen.

Tänzelnd richtete Chain sich auf. Etwas blitzte in seinen Händen. »Das tue ich nur, weil du mir keine andere Wahl lässt«, sagte er und zwei Klingen durchstießen meine Schultern. Es schmatzte. Ein lautloser Schrei entrang sich meinem Mund, als sie mich am Boden festnagelten. Verzweifelt bäumte ich mich auf, doch die Griffe bohrten sich tiefer in mein Fleisch. Hinter uns tobten Sailor und Ash gegen den Basilisken und Bloodclaw.

Mir kamen die Tränen, als sich Chain mit gespreizten Beinen auf mich setzte und runterdrückte. »Du musst aufhören«, schrie er.

Ich trat. Er kam näher und bevor ich reagieren konnte, hatte er seine Lippen auf meine gepresst.

War der jetzt vollkommen übergeschnappt? Das war so was von der falsche Zeitpunkt für Zungenakrobatik! Ächzend wand ich mich. Chain hingegen grub seine Hände in mein kurzes Haar und vertiefte den Kuss, wobei es sich mehr anfühlte, als wollte er etwas aus mir heraussaugen. Seine Magie brandete auf, schlug gegen meine, die sich wie ein wildes Tier sträubte.

Er drückte mich in eine Umarmung, während mir sein Geruch nach Zimt übermächtig in die Nase stieg. Zitternd kratzten meine Nägel seine Haut auf. Seine Magie drang gewaltvoll in mich ein. Hell und brodelnd füllte sie mich wie ein Ball aus Energie und Licht aus, tastete mich ab. Rauschte durch meine Adern, bis selbst meine Sicht von strahlendem Gold versperrt war.

Mein Mund klaffte auf, während Chains energetisches Abtasten an meiner Kehle innehielt. Jene Stelle, an der mein Hals zerschnitten worden war. Er riss die Augen auf, starrte mich an.

Ich sah, ohne zu blinzeln, zurück.

Wusste er, dass es sich anfühlte, als würde er mich gerade vergewaltigen?

»Es tut mir so leid!«, stieß er wirr hervor und ehe ich registrieren konnte, was er vorhatte, presste er Daumen und Zeigefinger gegen meine Lippen. Er zwang meinen Kiefer auf, griff mit der gesamten Hand in meinen Mund. Ich strampelte. Mein Kopf dröhnte. Pochte und pulsierte. Eine heftige Übelkeit überkam mich. Ich gurgelte und spürte den Teil einer alten Seele in mir. Sie steckte in mir fest. Aber woher? Wie konnte es sein, dass ich noch ein Seelenstück in mir hatte? Die meisten hatte ich in der Wüste verloren und nachdem ich Herakles restlos ausgespuckt hatte, war ich davon ausgegangen, dass alles aus mir verschwunden war. Aber offenkundig hatte sich ein abgebrochenes Stück wie eine Fischgräte in meinem Hals verkeilt. Hatte ich deswegen nicht reden können? Chains Finger glitten immer tiefer meine Zunge hinab, am Zäpfchen vorbei und in den Rachen, bis ich haltlos würgte. Mein Magen ballte sich zusammen. Die Twinkies schossen postwendend hoch und Luft bekam ich schon länger nicht mehr.

»Hab es!« Chains Triumph kam verzerrt bei mir an. Alles rauschte, schmeckte nach Erbrochenem, als er das Seelenstück packte, sodass mein Rachen noch mehr gequetscht wurde, und es herausriss. Es saß so tief in mir, dass ich es im Magen kitzeln fühlte, als Chain mir den schwarzen Schleimklumpen entfernte.

Luft! Endlich Luft. Ich schnappte gierig danach. Hustete Twinkie­schleim und drehte mich zur Seite.

Chain ließ zum Glück sofort von mir ab. Meine Augen tränten, während er den Auswurf neben uns warf und sich keuchend den Schweiß von der Stirn wischte. Wie ein Gummiband schnalzte seine Magie aus meinen Adern und brachte mich zum Frösteln.

Schnaufend legte ich die Stirn ab, spuckte mehr Schleim. Ich fühlte mich leer und ausgetrocknet.

»So, und jetzt können wir uns endlich richtig unterhalten«, meinte Chain.

»Ich …« Der rasselnde Husten unterbrach mich. Ich. Das erste Wort, welches ich seit gefühlten zehntausend Jahren hervorbrachte! Ein jähes, ohrenbetäubendes Kreischen mischte sich unter mein Keuchen. Meine Pupillen weiteten sich, als der Schrei meines sterbenden Basilisken sich mit dem Knallen der letzten Kugeln, die die Zwillinge in das Monster schlugen, vermischte. Der Körper der Schlange schlug so knapp neben mir und Chain auf, dass ich das verblassende Leben sehen konnte.

Mein Herz zog sich zusammen, als der Körper explodierte und auf meine Haut zurückkehrte.

»Warrior, bitte glaub mir, wir wollen dir nicht wehtun!«, flehte Chain abermals. Sein Gesicht verzerrte sich, als hätte er Schmerzen. »Ich werde dir helfen. Ich weiß, es sieht gerade nicht danach aus, aber …« Chain erschauderte. Kurz schien es, als würde ich in zwei Gesichter gleichzeitig schauen. Er wirkte fast betrunken. Als Nächstes schlug der Geruch von Zimt nach Minze um. Sekunden später starrte ich einem komplett anderen Gott in die Augen. Obwohl er das gleiche Gesicht besaß, war doch alles an seinem Ausdruck anders. Virus fokussierte mich. Kurz sah er verwirrt aus, bis er offenkundig registrierte, was hier vor sich ging. Und dass meine Hand nicht mehr da war, wo sie eigentlich sein sollte.

»Du …«, stieß er hervor, als wäre er eben erst aufgewacht.

»Ich«, antwortete ich ebenso krächzend.

Seine Lippen öffneten sich, doch was auch immer er hatte sagen wollen, ging in dem Lärm unter, als die Hölle über uns zusammenbrach.

Warrior & Peace

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