Читать книгу Warrior & Peace - Stella A. Tack - Страница 13

Und hier, holde Dame, sehen Sie zu unserer Rechten ein Klo

Оглавление

Ich konnte nicht lange weggedämmert sein. Es fühlte sich nach ein paar Minuten an, in denen mein Körper auf Notmaßnahmen geschaltet und kurzzeitig das Licht ausgeknipst hatte. Als ich mich zwang, die brennenden Augenlider aufzuschlagen, stellte ich fest, dass sich unsere Umgebung komplett verändert hatte. Wir schienen die Stadt endgültig verlassen zu haben. Vor uns breitete sich eine gähnende Einöde aus. Der Boden war trocken, aber nicht sandig wie in der roten Wüste. Er bestand aus eingerissenem grauen Lehm.

Virus’ Schritte knirschten leise auf dem fahlen Untergrund. Er wusste offenkundig, wohin er wollte, obwohl es für mich eher den Anschein hatte, als würde er im Nirgendwo herumirren. Manchmal glaubte ich, Schatten im Augenwinkel zu sehen, und jedes Mal erschrak ich. Erwartete Monster oder Götter, die sich auf uns stürzten, um mich entweder zu retten oder zu fressen. Doch jedes Mal entpuppten sich die Schemen als lebloser Müll, der wie bestellt und nicht abgeholt im grauen Lehm stand und vergammelte.

Ich entdeckte das Wrack eines Autos. Die Scherben der eingeschlagenen Fenster stachen wie Zähne heraus und als Virus stumm dran vorbeimarschierte, bemerkte ich die goldenen Plüschwürfel hinter dem Rückspiegel. Ein paar Meter weiter stand eine quietschende Holly­woodschaukel. Sie schwankte leicht hin und her, als würde ein Wind wehen. Nur tat er das nicht.

Des Öfteren trat Virus auch auf kaputtes Spielzeug. Eine Puppe ohne Haare. Einen Gameboy, der grünlich aufblinkte. Eine gelbe Babyrassel. Am schlimmsten war jedoch die Stille um uns herum. Sie drückte so schwer auf meine Ohren, dass es sich anfühlte, als würde sie in Kombination mit dem gähnenden Nichts einen Weg in mein Innerstes suchen. Es flüsterte Dinge in mein Ohr, die ich nicht verstand und vor denen ich mich trotzdem fürchtete. Mein Herz raste, als würde ich einen Marathon laufen. Der kalte Schweiß rann mir immer noch in kitzelnden Spuren über die Haut und tropfte von meinem Körper wie eine bizarre Brotkrumenspur, die ich für Peace hinterließ.

Virus bemerkte, dass ich wach war. Ich spürte seinen Blick auf mir und zwang mich, ihn zu erwidern. Keine Ahnung, welche Emotionen er in meinem Gesicht las, aber sein Kiefermuskel mahlte. Er schwieg trotzdem und ich tat es ihm gleich. Ich hätte ihn zwar beißen oder anspucken wollen, doch nicht mal dafür reichte meine Energie. Nichtsdestoweniger erheiterte mich der Gedanke, ihm die Nase abzubeißen. Zumindest ein bisschen. Danach hörte ich mich bereits mit meinem Psychologen über spontanen Kannibalismus reden.

Niemand verfolgte uns. Weder Peace noch einer der anderen Götter. Hatten sie mich aufgegeben? Kampflos? Der Gedanke war so deprimierend, dass mein innerer Psychologe die Taschentücher zückte.

Wir passierten ein Flugzeug. Es war zur Hälfte aufgerissen, als wäre es abgestürzt und vom Aufprall wie eine Dose geknackt worden. Die Flügel erinnerten an abgebrochene Stümpfe. Ich zählte die verstaubten Sitze, an denen wir vorbeigingen. Bei zwanzig drehte Virus scharf um und stapfte in eine vollkommen andere Richtung weiter. Leider erklärte er mir dabei weder, wo wir uns befanden, noch, wo wir hinwollten, doch ich nahm an, dass es sich nicht um ein Fünf-Sterne-Hotel mit Fußmassagegerät im Eingangsbereich handelte. Trotzdem hätte er zumindest ein bisschen den Fremdenführer geben können. Nicht viel, nur Touristengequatsche wie:

Und hier, holde Dame, sehen Sie zu unserer Rechten ein Klo! Keine Ahnung, warum es da steht, aber ich bin sicher, kleine Götter in Not werden für diesen Zufall sehr dankbar sein und hoffentlich den beschädigten Abfluss entschuldigen. Zu unseren Linken sehen Sie einen Gartenzwerg, dem alle Finger bis auf den mittleren fehlen. Sehr poetisch, nicht? So tiefgründig und zornig. Wem wir dieses Meisterwerk zu verdanken haben, ist leider unklar, aber wir vermuten den gleichen Irren dahinter, der auch den Puppen zu Ihrer Rechten die Haare abschneidet. Oh, schauen Sie mal dort drüben! Ein schönes Exemplar von Teekanne, ohne Deckel. Nicht zu vergessen der abgerissene Barbiekopf, der sich so dekorativ herausschiebt. Très chic, oder nicht?

Toll! Jetzt kommentierte neben meinem inneren Psychologen auch noch mein imaginärer Fremdenführer die Umgebung. Je länger Virus’ Schweigen andauerte, desto tiefer verschwanden wir im Nichts des Tartaros. Tiefer, als ich mich je getraut hätte. Ich war bereits dabei, während des Gequatsches des imaginären Tourguides über die faszinierende marmorierte Beschaffenheit des Lehmbodens wegzudämmern, als Virus unvermittelt stehen blieb.

Mein Kopf kippte zur Seite. Hatte ich geschnarcht? Hoffentlich nicht. Allerdings konnte ich Virus schnaufen hören. Sein Brustkorb hob und senkte sich vor Anstrengung. Seine Wunde hatte sich immer noch nicht geschlossen. Nicht mal wirklich zu bluten hatte sie aufgehört. Wir waren immer noch in der Einöde. Nichts schien sich in der Zeit, als ich auf Virus’ Schulter geschnarch-sabbert hatte, großartig verändert zu haben. Was aber unverkennbar in der Luft lag, war der schwere Geruch von Magie. Mächtiger Magie. Oho. Alarmiert klappte ich den Mund zu und sah mich um.

»Versuch wegzulaufen und ich schlag dir den Schädel ein. Außerdem kommst du mit den Ketten eh nicht weit.«

Wow. Virus’ erster Satz seit gefühlten Stunden und wie charmant er ihn ausgestoßen hatte. Da wurde man als emanzipierte Frau ja ganz schwach. Ich funkelte ihn genervt an und ließ mich in bester unbeweglicher Kartoffelmanier in etwas setzen, dass quietschend nachgab. Eine Federpolsterung drückte mir plötzlich in den Hintern. Ich schielte hinab auf den alten, samtbezogenen Stuhl, in dem vermutlich zum letzten Mal in den Zwanzigern jemand dringesessen hatte. Die dunkelrote Lehne war abgewetzt. Das gelbe Futter lugte zwischen meinen Beinen durch und roch unangenehm muffig. Ein bisschen nach Katzenpipi. Angespannt beobachtete ich Virus, der mit gestrafften Schultern an mir vorbeimarschierte und murrend einen hölzernen Tisch aufhob, der umgekippt am Boden lag. Von den drei wackeligen Beinchen existierten nur mehr zweieinhalb, weshalb er eine Schuhspitze darunterstellte, um ihn fixieren zu können. Dann platzierte er einen schwarzen Kasten darauf, der sich als Diaprojektor herausstellte. Wo hatte er denn den auf einmal her? Das Teil wog locker eine halbe Tonne und hätte niemals in seine Hosentasche gepasst. Ich kannte die Dinger, weil Hades einige davon besessen hatte. Es hatte ewig und dreihundert Diashows gedauert, um ihn zu überzeugen, auf Digitalkamera umzusteigen. Neugierig geworden beobachtete ich, wie Virus in seine Manteltasche griff und ein paar der viereckigen Filmplättchen herausholte, diese kurz musterte und stirnrunzelnd in den Projektor setzte. Er schnippte und ein helles Licht ging an. Überrascht kniff ich die Augen zusammen. Langsam zeichnete sich ein Schemen ab. Ich legte den Kopf schief und betrachtete das Standbild. Es zeigte ein uraltes, rot-grünes Sofa. Wie nannte man so eine Farbkombination? Periodenschimmel? Der Stoff war bereits so abgesessen, dass die Federn hindurchdrückten. Das Ding war klobig, versifft und musste mit Sicherheit so übel stinken, wie es aussah. Ich linste zu Virus, unsicher, was er mit der ganzen Aktion bezwecken wollte. Sollte ich jetzt Beifall klatschen? Tolles Bild von ekligem Sofa? Doch da klickte es und ich durfte das nächste bestaunen. Es zeigte den Teppich, auf dem das Sofa stand. Nicht minder abgenutzt und in einem schrecklichen Orange. Mir stellten sich sämtliche Nackenhaare auf. Nach dem nächsten Klicken erschien ein Wohnzimmertisch. Das speckige Holz war mit unzähligen Graffiti vollgekritzelt.

Klick.

Eine Clownslampe, dessen rote Nase ein schummriges Licht auf das hässliche Sofa warf. Himmelherrgott! Der Innenarchitekt dieses Raums gehörte dringend gefoltert und gevierteilt. Das war schlimmer als das Setting aller Horrorfilme, die ich jemals gesehen hatte. Immer schneller klickte Virus durch die Bilder. Jedes zeigte einen anderen Aspekt des Zimmers, bis die Dias so schnell abliefen, dass sie ineinander verschwammen. Das Krrrrrrrllll rauschte in meinen Ohren. Der Projektor summte. Das Licht wärmte mir den Nacken, als Virus auf einmal neben mir stand. Seine goldenen Katzenaugen leuchteten in dem schummrigen Licht des Projektors.

»Los gehts«, flüsterte er. Sein Atem streifte mein Ohr und jagte mir damit einen Schauder über den Rücken, von dem ich nicht wusste, ob er angenehm war. Eher nicht. Virus hob mich erneut in seine Arme und trabte auf die ablaufenden Diabilder zu. Die Leinwand direkt vor uns flatterte von einem kaum wahrnehmbaren Lüftchen. Was, wie, wo? Da hing also so ein Ding in der Pampa herum und er wollte was? Hineinspringen? Das unscharfe Wohnzimmer wurde mit jedem Schritt größer und detailreicher. Ich legte den Kopf in den Nacken, krallte meine Finger in Virus’ Hemd, als dieser, ohne zu zögern, in die Projektion hineinstapfte. Das Ganze fühlte sich an, als versuchten wir, durch eine Schaumstoffwand zu gehen. Es drückte gegen mein Gesicht, raubte mir den Atem. Meine Nase knackte von dem Widerstand und gerade als das Gefühl von unangenehm zu schmerzhaft wechselte, ließ der Druck nach. Haltlos polterten wir in den zuvor abgelichteten Raum hinein.

Heilige krasse Scheiße! Mein Blick zuckte über die Augenkrebs erregende Inneneinrichtung, während ein Teil von mir zu verdauen versuchte, dass wir eben in eine Leinwand gehüpft waren. In ein Zimmer, das in echt sogar noch schlimmer aussah als auf den Bildern.

»Wir haben es geschafft! Ich habe sie«, brüllte der Gott mir plötzlich und ohne jede Vorwarnung ins Ohr und schüttelte mich wie einen beschissenen Fußballpokal.

Hektisches Getrampel ertönte als Antwort und wenige Sekunden später schlitterten zwei Männer ins Zimmer. Ein weiterer fläzte sich bereits auf dem ekligen Sofa herum und sah gelangweilt von einem Buch auf.

»Vi-Mann! Du hast es geschafft … das … das ist sie, oder?«, stieß einer der Männer ungläubig aus. Seine Ausstrahlung und das Prickeln auf meiner Haut wiesen ihn ganz klar als Gott aus. Genau wie die anderen Typen, die uns interessiert anstarrten. Okay, der Typ am Sofa wirkte eher, als hätte er eine eklige Nacktschnecke unter die Nase gesetzt bekommen. Seine beiden gepiercten Mundwinkel verzogen sich nach unten, während ihm schwarzes Haar in bester Emo-Manier über die Augen fiel. Von ihm ging eine dermaßen tiefschwarze Wolke der Depression aus, dass ich mich prompt schlechter fühlte. Die anderen zwei musterten mich hingegen, als wäre ich der Osterhase. Oder der Weihnachtsmann. Ein heißer blonder Weihnachtsmann mit dicken Titten.

Empört registrierte ich, dass die beiden interessiert meinen Hintern abcheckten, der dank Virus immer noch in der Luft schwebte wie eine Rettungsboje. Ich zeigte ihnen nicht nur gedanklich den Mittelfinger und ergötzte mich an den verblüfften Gesichtsausdrücken, die ich dafür erntete. Lediglich Emo-Gott sah noch angepisster aus und zeigte mir prompt den Finger zurück. Nett.

»Endlich«, knurrte Virus.

Ich schluckte.

»Bist du verletzt?«, fragte ihn einer der beiden, die vor uns standen. Sie mussten Brüder, wenn nicht Zwillinge sein, denn ihr langes Haar war vom gleichen Weißblond. Die Gesichtszüge ähnlich hübsch. Das Kinn spitz, die Nase gerade. Hohe Wangenknochen und geschwungene Brauen. Ihre Augen leuchteten in verschiedenen Farben. Während die des Rechten in einem intensiven Rot strahlten, war die Irisfarbgebung des anderen in einem hellen Pink angeordnet. Ja. Pink! Babypink. Die Farbe hatte etwas Verstörendes an sich und ich erinnerte mich, nur ein einziges Mal etwas Ähnliches gesehen zu haben. Bei einem Halbvampir. Von denen gab es nicht viele, da Vampire nicht oft Kinder mit einem Nichtvampir bekamen. Auch untereinander war Nachwuchs eher selten. Sie verwandelten lieber. Das ging schneller und ersparte Dehnungsstreifen.

»Nichts Schlimmes«, wischte Virus die Sorge seiner Freunde weg und grinste abfällig. »Hat mich ein bisschen an der Schulter erwischt.« Er schleppte uns beide zum Sofa, pfefferte die langen Beine des Emo-Gottes weg und warf sich seufzend auf das gammlige Monstrum. Mich selbst ließ er einfach fallen. Zack. Arme auf und ich knallte runter. Dabei landete ich hart zu seinen Füßen mitten auf dem versifften Teppich. Ich ächzte, als meine eigene Wunde erneut aufriss. Silberne Tropfen sprenkelten den Teppich. Ich spuckte Haare und funkelte Virus giftig von unten an. Er grinste ungeniert. »An den Anblick von dir unter mir könnte ich mich gewöhnen …« Die Zweideutigkeit in seiner schnurrenden Stimme war so eindeutig, dass ich ihn am liebsten gebissen hätte. In den Schwanz. So! Ausgesprochen!

Mein innerer Psychologe begann, mich ein weiteres Mal über die Gefahren des spontanen Kannibalismus aufzuklären. Ich ignorierte ihn.

»Ist sie auch verletzt? Ich rieche Blut.« Die Füße eines Vampirs tauchten vor meiner Nase auf und ich blickte zögerlich hoch. Es war der mit den babyrosa Augen. Viel zu treuherzig für einen gemeinen Entführer lächelte er mich an, ging in die Hocke und berührte mich sanft am Oberarm. Ich sog erschrocken die Luft ein.

»Es hat sie zusammen mit mir erwischt. Sie wird es überleben«, gab Virus knapp zurück.

»Bist du sicher, dass sie die Richtige ist? Ich habe mir die Gefährtin von Peace irgendwie nicht so … handzahm vorgestellt«, sagte der andere Bruder. In seinen roten Augen glitzerte ein boshafter Hunger, der mich an meinen eigenen Vampirbruder Spade erinnerte, der … meine Kehle wurde trocken … tot war.

»Sie ist es ohne Zweifel. Seht euch das an.« Er griff nach unten und berührte mich. Überrumpelt fühlte ich, wie sich seine Hand um meinen Nacken legte. Sein Daumen streichelte über meinen polternden Puls. Ich konnte das Leuchten nicht aufhalten, das mir wie ein Schauer über die Haut rieselte. Die anderen beobachteten fasziniert, wie auch Virus unweigerlich auf unseren Hautkontakt reagierte. Beide glitzerten wir vor uns hin wie zwei tuntige Glühwürmchen, bis Virus endlich seinen Griffel von mir löste. Erschöpft sackte ich zusammen. Mein Kopf war Matsch. Alles drehte sich, trotzdem schaffte ich etwas aus meiner Kehle hervorzubringen, das man als protestierendes Stöhnen interpretieren konnte.

»Krass!« Der rotäugige Vampir begutachtete mich mit der Faszination eines durchgeknallten Wissenschaftlers. »Also ist das Warrior? Und Peace hat sie nicht anerkannt? Leidet er neben Größenwahnsinn an erektiler Dysfunktion?« Sein Blick wanderte über meinen Körper und in einem anderen Leben, in einer anderen Zeit und in einer anderen Situation hätte ich das fast schon als Kompliment betrachtet.

»Kannst du ihr diese komische Maske mal abnehmen?«, schob er hinterher. Prompt versteifte ich mich. Obwohl. Eine Idee keimte in mir auf. Wenn sie mir die Maske abnahmen und verrückt wurden, konnte ich die Beine in die Hand nehmen und davonlaufen. Also theoretisch … falls meine Beine ihren Dienst aufnahmen. Zur Not könnte ich auch davonkriechen. Oder rollen. Nein, das ging wegen der Ketten nicht. Dann müsste ich ihn den ganzen Rückweg hinter mir her schleifen. Verdammt!

»Nein«, durchkreuzte Virus meine Pläne. »Die Maske bleibt, außer du willst wahnsinnig werden, Sailor. Ich werde sie später mit einem Zauber fixieren, damit sie das Ding nicht runternehmen kann.« Er funkelte mich triumphierend an und verschränkte die Arme am Hinterkopf. Die Schnalle um sein Handgelenk blitzte auf. Tat ihm das Ding genauso weh wie mir? Zumindest waren die Ketten sehr lang. Ließen demnach genug Spielspielraum, dass wir uns nicht bei der kleinsten Bewegung sofort den Arm ausrissen. Ein paar Schritte müssten wir uns voneinander entfernen können, bevor sie spannten. Trotzdem machten sie schwerfällig und jede Bewegung klirrte irritierend laut.

Ich schnaufte frustriert. Fuck.

»Und nur weil Peace sie nicht anerkannt hat, heißt das noch lange nicht, dass er sie nicht gefickt hat«, schob Virus hinterher und guckte provozierend auf mich runter. »Dann wäre er wirklich bekloppt.«

Jetzt reichte es. Mein Geduldsfaden riss und ich tat das Erste, was mir einfiel und in meinem Gemütszustand möglich war. Ich reckte das Kinn und biss ihm ins Bein. Fest. Kannibalismus, ahoi. Mein Psychologe zückte kopfschüttelnd den Rezeptblock.

»Au. Verfluchte Scheiße, was …« Virus’ Fuß zuckte und trat mir so fest ins Gesicht, dass ich meine Nase brechen fühlte. Es knirschte, begleitet von einem heißen Blutschwall, der mir wie eine Fontäne aus den Nasenlöchern schoss. Ächzend hielt ich mir den Matsch im Gesicht, während Virus fluchend sein Bein umklammerte.

»Du blöde Kuh!«

Du sadistisches Arschloch!, schoss ich in Gedanken zurück. Als Untermauerung schlug ich gegen die Stelle, an der ich ihn zuvor gebissen hatte. Virus schlug zurück. Ich spuckte provokativ Blut auf seine Füße. Wütend spitzte er die Lippen und setzte zum Gegenspuck-Anschlag an, als mich eine Hand an der Taille packte und eilig von ihm wegzog.

»Okay, ihr zwei. Ich glaube, ihr habt euren Standpunkt klargemacht, aber eure Aggressionen stören gewaltig das Chi in diesem Raum.«

Chi? Ich verrenkte mir empört den Hals und sah die schräg stehenden rosa Augen des einen Gottbruders. Offensichtlich hatten die Brüder neben dem Vampirischen auch japanische Wurzeln. Eine hellblonde Strähne floss ihm bis über die Brust und kringelte sich an seiner schmalen Taille.

Gutmütig ließ er meine Musterung über sich ergehen. »Hallo, Warrior. Wir kennen uns nicht, also noch nicht, aber ich hoffe, dass wir bald sehr gute Freunde werden.« Er lächelte mich so breit an, dass ich seine strahlend weißen Zähne bewundern konnte. Irritiert starrte ich ihn an. War der bekloppt? »Ich bin Ash«, stellte er sich vor, ohne sich von meiner offenkundigen Skepsis die Laune verderben zu lassen. Sanft stellte er mich ab, schlug die Hände zusammen und verbeugte sich. Verflucht noch mal, er verbeugte sich! »Auf hoffentlich baldige Freundschaft. Ah, und das da …« Er deutete mit dem Daumen hinter sich auf seinen Bruder, der mich eher anstarrte, als wollte er mich fressen. »Das ist mein Bruder Sailor. Er ist der neue Mondgott und tritt somit in die Fußstapfen von Göttin Selene. Ich selbst bin der neue Apollo, der Sonnengott!«

Mhm … ja, das passte zu Mr. Strahlemann. Trotzdem schoss mein Blick zu Sailor und ich musste mir so heftig das Lachen verkneifen, dass meine Mundwinkel zitterten. Sailor war also der neue Mondgott? Und demnach … o Gott … der Name!

»Wenn du lachst, wirst du es für immer bereuen!«, knurrte Sailor, als ob er Gedanken lesen könnte.

Ich stieß ein Geräusch aus, das wie ein Pffiiiiiiii klang. Mein Kopf schwoll puterrot an, während ich innerlich vor Lachen vom imaginären Sofa fiel.

Ash kicherte, versuchte aber, es mit einem Husten zu kaschieren. »Jedenfalls …«, hüstelte Ash herum. »… hast du ja Virus schon kennengelernt. Er ist Gott der Algorithmen und besitzt ebenfalls das Geburtsrecht eines Gottvaters!« Er deutete elegant auf Virus, bei dessen Anblick mir das Lachen im Kehlkopf stecken blieb. »Und dieser Sonnenschein hier …« Er wies auf den stummen Emo-Boy. »… ist Age, Gott der Zeit.«

»Und Karma solltest du bereits kennengelernt haben«, fuhr er mit seiner bizarren Kidnappervorstellung fort, hielt jedoch inne und sah sich im Raum um, als vermutete er, Porno-Karma könnte sich hinter den hässlichen kackbraunen Vorhängen verstecken. »Apropos. Ähm … Virus? Wo ist Karma?«, hakte er zögerlich nach.

Virus verzog das Gesicht und verschränkte abwehrend die muskulösen Arme vor der Brust. »Ich befürchte, Karma wollte noch etwas Zeit mit Peace und Co verbringen. Ich bin sicher, ihr geht es gut. Shame wird bestimmt auf sie aufpassen.«

»Du hast sie also zurückgelassen?«, stellte Sailor scharf fest.

Virus schnaubte. »Mir blieb nichts anderes übrig. Ich konnte nicht Miss Beißmichtot und Karma gleichzeitig schleppen. Keine Sorge, sie werden ihr schon nichts tun.«

»Bist du dir da sicher?«, fragte Ash sanft.

Virus zögerte. »Nein«, gab er schließlich zu. »Aber große Pläne erfordern nun mal große Opfer.«

»Uh … in Karmas Fall waren das sogar zwei gigantische und sehr pralle Opfer«, seufzte Sailor.

Männer.

»Wir alle sind ein Teil des Untergrund-Pantheons.« Ash breitete die Arme über das göttliche Quintett aus. Dabei lächelte er mich an. So strahlend und glücklich, dass es sich anfühlte, als würde die Sonne durch das muffige Zimmer scheinen. »Und du, Warrior, bist das letzte Puzzlestück, das uns gefehlt hat. Du wirst unsere Gottmutter! Wir haben so lange auf dich gewartet, dass wir schon die Hoffnung aufgegeben hatten.« Geschmeidig ließ er sich auf die Knie fallen und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Finger streiften meine Wange. Warnend schnappte ich nach ihm, entzog mich seiner Berührung, doch er lächelte nur. In seinem Blick lag solch eine kindliche Begeisterung, dass ich es nicht fertig bringen würde, ihn wirklich zu beißen.

»Keine Sorge«, flüsterte er. »Ich weiß, du fürchtest dich, aber das musst du nicht. Wir kümmern uns um dich. Wir werden dir eine gute Familie sein und Virus braucht dich. Er ist sonst verloren.«

Von mir aus konnte dieser Hurensohn so viel verloren sein, wie er wollte! Ich presste die Lippen zusammen, um meinem Unmut Ausdruck zu verliehen.

Ash seufzte.

»Sie sieht nicht begeistert aus«, kommentierte Sailor trocken.

»Sie ist ja auch ein verwöhntes Püppchen«, sagte Virus und musterte mich abfällig. »Sie hat doch keine Ahnung, wie das echte Leben im Tartaros funktioniert.« Er lehnte sich vor. Sein Geruch nach Pfefferminze schlug mir entgegen. »Du kennst nur den hübschen Käfig, in dem Peace dich Männchen hat machen lassen, oder? Du musstest nie um dein nacktes Überleben kämpfen. Hattest nie solchen Hunger, dass du jeden verschütteten Tropfen Ambrosia von der Straße geleckt hast. Nein, du bist hier reinspaziert und hast dich an die goldene Leine legen lassen, während sich die Götter auf den Straßen gegenseitig abschlachten.«

Seine Ausstrahlung ließ bei mir alle Härchen gleichzeitig strammstehen.

Ein freudloses Lächeln zuckte um Virus’ Mundwinkel. »Du glaubst mir nicht?«

Tat ich das? Ihm? Nein. Peace und die Elite waren vielleicht nicht perfekt, aber was Virus da beschrieb, klang eher nach einem verbitterten Sadisten, der mich kleinreden wollte. Zugegeben, ich hatte nicht viel vom Rest des Tartaros gesehen, aber was immer er mir einzureden versuchte, es war definitiv nicht objektiv. Die anderen schwiegen und beobachteten gespannt meine Nicht-Reaktion. Was sollte ich tun? Ich konnte Virus’ Behauptungen weder entkräften noch nachweisen. Außerdem entschuldigte es in keiner Weise, dass er mich entführt hatte, um … was weiß ich was alles mit mir anzustellen. Mich als Nachttischlampe anzuheuern?

Also blieb ich eine brave Kartoffel und schnaubte lediglich.

»Es ist extrem irritierend, dass sie den Mund nicht aufmacht!«, durchbrach Sailor das Schweigen. »Vielleicht kann Chain …«

»Nein«, schnitt Virus ihm das Wort ab.

»Aber er könnte …«

»Nein!«

Sailor stöhnte.

»Vielleicht kann Age sie sich ansehen«, schlug Ash vor.

Der Emo-Gott blitzte ihn genervt unter seinen viel zu langen Stirnfransen an und schüttelte den Kopf.

»Komm schon, Age«, drängte Ash und klimperte mit den Wimpern. »Als Einstandsgeschenk für unser neustes Familienmitglied!«

»Außerdem ruiniert sie den Teppich!«, warf Sailor ein.

Ich pustete empört die Backen auf. Wenn, dann verschönerte ich dieses Flusen-Ungetüm!

Age schüttelte abermals den Kopf.

Virus knurrte und gab ihm einen kräftigen Schlag gegen den Oberarm. »Mach! Ich kann sie kaputt nicht gebrauchen.«

Age funkelte ihn an.

Ich auch, aber das interessierte niemanden.

»Komm schon. Sie wird dich bestimmt nicht beißen, wenn du ihr hilfst!«, lockte Ash.

Ha! Das konnte ich nicht versprechen.

Age stöhnte, zog sein linkes Lippenpiercing ein und ließ sich endlich dazu herab, vom Sofa aufzustehen. Die tiefsitzende Jeans hatte zwei lange Risse jeweils am Knie. Als er sich vor mich hockte, starrten mir zwei eintätowierte Augen direkt unter der Kniescheibe entgegen und ich schauderte, als ich bemerkte, dass er die gleichen Glubscher in den Handflächen trug. In groß und leuchtend grün. Mit einem ägyptischen Lidstrich. Ich drückte den Kopf in den Boden, als er mich mit seiner linken Hand berührte. Nur flüchtig, aber selbst dieser kurze Kontakt schlug ein wie ein Gong und brachte meine Zellen zum Vibrieren. Seine Magie schmeckte süß und salzig wie Lakritze. Ich wand mich unter ihm. Meine Zähne klapperten. Age war mächtig. Scheißmächtig.

»Und?«, fragte Ash.

»Ich weiß nicht genau.« Age seufzte. Der erste Satz, den ich von ihm hörte, und ich wünschte, er hätte die Klappe gehalten. Beim Klang seiner grauenhaften Stimme rollten sich mir die Zehennägel ein. Jetzt wusste ich, warum er so still gewesen war. Der Kerl hörte sich schrecklich traurig, gebrochen und kratzig an, als würde er über tote Katzenbabys, Verstümmlung, Folter und globale Erderwärmung und den neuen Star-Wars-Film gleichzeitig reden. Auf alle Fälle über Dinge, die einen ernsthaft deprimierten. Sofort verspürte ich den Impuls, mich in eine Ecke zu verkriechen und loszuheulen. Den anderen schien es nur minder besser zu gehen.

Virus schauderte. Sailor stopfte sich die Finger in die Ohren und sagte laut: »Lalalala

Ash hingegen hörte aufmerksam zu, sah jedoch aus, als würde ihm dabei jemand eine Darmspülung verpassen. »Was ist los mit ihr?«, fragte er.

Nein! Bitte keine Frage, auf die Age antworten könnte. »Den körperlichen Schaden könnte ich rückgängig machen«, erklärte Age mit dieser trostlosen Stimme.

O Himmelherrgott, Hilfe! Erschießt mich! Alles war besser, als Age beim Reden zuzuhören.

»Das Problem ist psychischer Natur. Ihre Magie ist blockiert.«

Ich wand mich am Boden und unterdrückte den Drang, mir die Ohren blutig zu kratzen. Und woher wusste dieser Age als maßgeblicher Zeitgott überhaupt, was nicht mit mir stimmte? O Himmel! Hoffentlich war er nicht so ein Pseudoarzt, der gerade im ersten Semester studiert hatte, bevor sie ihn hier runtergeworfen hatten. Oder noch schlimmer: einer, der Veterinärmedizin studiert hatte. Oder ein Zahnarzt.

Sailor schrie immer lauter »Lalalala«.

Ash hielt sich tapfer, aber die unwirkliche Darmspülung schien intensiver zu werden. Als sich unsere Blicke kreuzten, rang er sich jedoch ein beruhigendes Lächeln ab. »Keine Sorge. Age ist der Sohn von Asklepios. Er ist zwar kein Arzt, aber er erkennt ziemlich schnell, wenn etwas mit einem nicht stimmt.«

Asklepios? Age war demnach der Sohn des Gottes der Heilkunst? Na toll, also ein Hobbyarzt.

»Was können wir da machen?«, fragte Virus gequält vom Sofa aus. Er hatte sich ein siffiges Kissen über den Kopf gezogen.

Age verschränkte die Arme vor der Brust und zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich? Sie hat ’nen Dachschaden. Antidepressivum?«, schlug er vor.

Ich stöhnte und presste mir ebenfalls die Hände gegen die Ohren.

»Was können wir machen?«, blaffte Virus. »Halt dich kurz, Mann.«

Age pustete sich die schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ich entdeckte ein weiteres Augen-Tattoo an seiner Stirn. »Wenn, kann ihr nur Chain helfen.«

Müde blinzelte ich, während es bedrückend still im Raum wurde. Wer war Chain? Und warum … Der Gedanke brach abrupt ab. Etwas zog an meinem Körper, drängte meine Seele hinaus. Was war nur los mit mir?

»Warrior?« Virus tauchte über mir auf. Ich sah sein Gesicht nur noch als verschwommenen Fleck. »Vielleicht hatte der Verflüssigungszauber doch mehr Nebenwirkungen«, murmelte er. »Karma hat unsauber gearbeitet.« Der Gott über mir war inzwischen nicht mehr als ein grüner Klecks in einem Meer aus Schwarz, welches mein Gesichtsfeld füllte, bevor …

Warrior & Peace

Подняться наверх