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1 Zur Einführung: Ein Flottenpräfekt und Enzyklopädist

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Du wirst Dich noch mehr wundern, wenn Du weißt, dass er eine Zeitlang Prozesse geführt hat, im sechsundfünfzigsten Lebensjahr gestorben ist und dass er in der dazwischenliegenden Zeit teils durch sehr wichtige Pflichten, teils durch die Freundschaft mit dem Kaiser in Anspruch genommen und aufgehalten worden ist. Aber er besaß einen scharfen Verstand, einen unglaublichen Fleiß und größte Wachsamkeit.

Plinius der Jüngere über seinen Onkel

(ep. 3,5; Übers. H. Philips/M. Giebel).

Plinius der Ältere, der hier in einem Brief seines Neffen und Adoptivsohnes beschrieben wird, wurde ungefähr 23 n. Chr. geboren. Er absolvierte als römischer Ritter eine Reihe militärischer und ziviler Posten und war nebenbei ein sehr produktiver Autor, wobei allerdings die meisten seiner Werke verloren sind und nur die „Naturgeschichte“ überlebt hat. Gestorben ist er beim Ausbruch des Vesuvs im Jahre 79 n. Chr., bei dem Versuch, sowohl Menschenleben zu retten als auch gleichzeitig möglichst viel über das Naturereignis in Erfahrung zu bringen. Diese Mischung aus einem echt altrömischen Sinn für Pflichterfüllung und einer eher „unrömisch“ anmutenden wissenschaftlichen Neugier hat ihm zwar den Tod gebracht, aber gleichzeitig der ungewöhnlichen Persönlichkeit des Plinius für alle Zeiten ein Denkmal gesetzt.

Wir werden uns nun in diesem Buch in die Welt des Altertums begeben, wobei wir die Länder des Mittelmeeres und angrenzende Regionen bereisen werden, so zum Beispiel das Zweistromland und die Gebiete rings um das Schwarze Meer. Der zeitliche Rahmen ist dabei von der Jungsteinzeit bis zur Spätantike gespannt. Dabei wird auch immer wieder Plinius zu Wort kommen: Seine umfangreiche Naturgeschichte in 37 Büchern ist bis heute eine unschätzbare Quelle in Bezug auf die wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse der Antike. Wer immer sich dafür interessiert, was man etwa über Gold, Silber und Edelsteine wusste, oder auch dafür, wie man im Altertum Wein gekeltert und Bier gebraut hat, der wird unweigerlich bei Plinius dem Älteren landen. Und mit derartigen Fragen werden wir uns auch in diesem Buch beschäftigen. Es stehen also nicht die Epen Homers oder die Reden Ciceros im Mittelpunkt, auch nicht die großen Männer der Geschichte und ihre großen Kriegstaten. Vielmehr geht es in erster Linie um die Alltagskultur: Wie haben die Menschen gelebt und gearbeitet? Welche Produkte haben sie hergestellt, gehandelt und verwendet?

Moderne naturwissenschaftliche Expertise kann dabei in vielen Fällen helfen, antike Techniken und Herstellungsprozesse aus schriftlichen Quellen zu rekonstruieren. Noch wichtiger ist aber die direkte Untersuchung der materiellen Hinterlassenschaften der Alten. Die Zeiten Schliemanns, in denen ein Archäologe wenig mehr als Spaten und Intuition brauchte, sind nämlich schon lange vorbei. Im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts haben verschiedene neue Methoden die Erforschung der Vergangenheit revolutioniert, zum Beispiel die Luftbildarchäologie, die Dendrochronologie und die Radicarbondatierung. In den vergangenen rund 30 Jahren hat sich dieser Trend noch einmal verstärkt: Bezeichnungen wie Archäometrie, Geoarchäologie oder archäologische Chemie verweisen auf die wichtigen Beiträge, die naturwissenschaftliche Verfahren in der archäologischen Forschung leisten. Wo es früher möglich war, beispielsweise die Reste aus einer antiken Amphore als „fettartige Substanz“ zu identifizieren, kann man heute genau zwischen tierischen und pflanzlichen Fetten unterscheiden, ja sogar eine Einordnung als Rinder- oder Schweinefett ist möglich. Neben dem Zuwachs an Informationen, die sich aus alten Objekten gewinnen lassen, steht obendrein ein enormer Anstieg der Empfindlichkeit: Heutige analytische Verfahren kommen oft mit winzigen Materialmengen aus – oder sie sind sogar gänzlich zerstörungsfrei, verbrauchen also kein Probenmaterial mehr.

Doch nicht nur die chemische Analytik hat derartige Fortschritte aufzuweisen. Tomografische Verfahren, die ursprünglich für die medizinische Diagnostik entwickelt wurden, haben zum Beispiel die zerstörungsfreie Untersuchung von Mumien revolutioniert. Und gerade die ägyptischen Mumien sind auch ein Beispiel, das die Bedeutung molekulargenetischer Verfahren für die Erforschung der Vergangenheit demonstriert: Eine Pioniertat war es, als 1984 ein Doktorand aus Uppsala erstmals über die Isolierung und Vervielfältigung von DNA aus Mumien berichtete. Seitdem ist Svante Pääbo zu einem weltweit führenden Experten für alte DNA aufgestiegen, und die Methoden der Paläogenetik kommen fast routinemäßig zum Einsatz, wo immer Archäologen oder Paläontologen auf geeignete menschliche Überreste stoßen.

Die Untersuchung von Überresten aus dem Altertum ist jedoch nur ein Aufgabenfeld für naturwissenschaftliche Methoden in der Archäologie, denn ebenso wichtig sind die Bemühungen um die Erhaltung. Gebäude und ergrabene Gebäudereste sind Wind und Wetter ausgesetzt, seit rund einhundert Jahren obendrein den Abgasen von Industrie und Automotoren. Geschlossene Räume, etwa die Gräber im ägyptischen Tal der Könige, leiden unter den schädlichen Ausdünstungen von Besucherscharen. Und selbst den scheinbar wohlbehüteten Objekten in Museen und Sammlungen drohen mancherlei Gefahren: Salzhaltiges Gestein zerbröckelt unter dem Einfluss von Luftfeuchtigkeit; Metallobjekte werden durch Chloridfraß und „wilde Patina“ zerstört; Papyri, Pergamente und Textilien werden zur Beute von Schimmelpilzen und Insekten.

Derartige Probleme waren im Jahr 1888 auch der Anlass zur Gründung des Chemischen Laboratoriums der Königlichen Museen zu Berlin. Es war weltweit die erste naturwissenschaftliche Institution überhaupt, die ausschließlich auf die Fragestellungen der Archäologie und der Kunstgeschichte ausgerichtet war. Ein junger Chemiker namens Friedrich Rathgen wurde zunächst als „Hilfsarbeiter“ eingestellt, um den Zerfall der ägyptischen Grabkammer des Metjen und anderer Steinobjekte zu stoppen. Rathgen stieg später zum Professor auf und leitete das Institut bis 1927; es existiert als Rathgen-Forschungslabor der Staatlichen Museen bis heute. Inzwischen sind ähnliche Institute weltweit gegründet worden, das British Museum in London etwa zog 1920 mit der Einrichtung eines eigenen Research Laboratory nach.

Und aktuelle Aufgaben der Konservierung betreffen nicht nur den Zahn der Zeit, der seit Jahrtausenden an den Exponaten nagt. Denn auch viele Maßnahmen früherer Konservatoren und Restauratoren, die in bester Absicht zu viel des Guten taten, versucht man heute wieder rückgängig zu machen. Die Prioritäten haben sich gewandelt: Wo man früher das vollkommene ästhetische Erlebnis suchte und deshalb einzelne Scherben zum makellosen Gefäß ergänzte, da zählt heute die Authentizität. Deshalb werden die Scherben, durch sorgfältige Entfernung der späteren Zutaten aus Ton oder Kunstharz, wieder „entrestauriert“. Insbesondere das Epoxydharz, von dem man früher gerne und reichlich Gebrauch machte, ist aus Sicht der heutigen Restauratoren ein regelrechter Fluch: Es ist in gängigen Lösungsmitteln unlöslich und kann daher nur mechanisch wieder entfernt werden, was stets die Gefahr einer Beschädigung der Originalsubstanz bedeutet. Solche als irreversibel eingestuften Maßnahmen, wie die Ergänzung von Objekten mit Epoxydharz, sind nach heutigen Standards zu vermeiden.

Auch hat man früher organische Materialien mit hochgiftigen Schwermetallen und anderen Pestiziden behandelt, um sie vor dem Befall mit Schädlingen zu bewahren. Diese „Höllencocktails“ kollidieren nicht nur mit einem gewandelten Bewusstsein in Sachen Umwelt, sie schädigen oft auch die Exponate selbst, und so arbeitet man heute an Methoden zu ihrer Entfernung. Seit einigen Jahren liegt das Augenmerk zudem verstärkt auf schädlichen Ausdünstungen, die von Museumsvitrinen und Depotschränken selbst ausgehen. Die dabei verwendeten Materialien können eine Vielzahl von flüchtigen Schadstoffen ausgasen, etwa Schwefelwasserstoff, Formaldehyd, Ameisen- und Essigsäure, und so empfindliche Kulturgüter erheblich schädigen (Abb. 1). Ein spektakulärer Fall wurde 2010 in Verona publik, als äußerst wertvolle Neandertalerfunde plötzlich durch unsachgemäße Lagerung eine rätselhafte Blaufärbung annahmen: „Ancient Italian artefacts get the blues,“ titelte die Zeitschrift „Nature“ seinerzeit.

Enzyklopädische Vollständigkeit wird in diesem Buch nun allerdings nicht angestrebt – weder im Hinblick auf die betrachteten Kulturen und Epochen der Antike, noch in Bezug auf die vorgestellten Methoden. Das Buch ist vielmehr als Überblick für historisch oder archäologisch interessierte Leserinnen und Leser gedacht, die neugierig sind, wie sich das Bild der Antike im Licht solcher Untersuchungen ausnimmt. Die vorgestellten Forschungsgebiete und Ansätze haben deshalb exemplarischen Charakter, es geht in erster Linie darum, welche Arten von Aussagen man mit diesen Verfahren eigentlich treffen kann. Naturwissenschaft kommt deshalb auf den folgenden Seiten auch nur in einer Light-Version vor: Es werden keine Vorkenntnisse etwa in Physik, Chemie oder Biologie vorausgesetzt, und die vertiefte Betrachtung technischer Details überlassen wir getrost der Fachliteratur (wichtige Arbeiten sind im Anhang aufgelistet). Eine Reihe speziellerer Themen ist zudem unter separaten Stichwort-Einträgen aufbereitet, die man je nach Geschmack zusätzlich zum Haupttext lesen kann oder auch nicht.

Nun gibt es ja tiefe Gräben zwischen den Natur- und Technikwissenschaften auf der einen Seite und den Sozial- und Geisteswissenschaften auf der anderen. Auch innerhalb jener Fachrichtungen, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen, existieren solche Trennlinien: Der Historiografie und den philologischen Disziplinen, die humanwissenschaftlich orientiert sind, stehen Archäologie, Paläoanthropologie und ihre Nachbardisziplinen wie Paläozoologie gegenüber, die eine deutlich naturwissenschaftliche Ausrichtung haben.

Die neuen naturwissenschaftlichen Methoden haben tatsächlich zu Kontroversen innerhalb der Archäologie geführt, insbesondere in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Spektrum der Reaktionen reichte von euphorischer Zustimmung bis zu kompletter Ablehnung; ein amerikanischer Archäologe soll die Auswirkungen der neuartigen Radiocarbondatierung auf die herkömmliche Archäologie sogar mit den verheerenden Effekten einer Atombombe verglichen haben.

Die Aufregung hat sich inzwischen wieder einigermaßen gelegt, und auch dieses Buch will nicht dazu beitragen, bestehende Gräben zu vertiefen. Insbesondere geht es nicht darum, angesichts der leistungsfähigen neuen Techniken für die Erforschung der Vergangenheit eine „feindliche Übernahme“ durch die Naturwissenschaft zu propagieren; die in diesem Buch vorgestellten Verfahren können mit Sicherheit nicht alle offenen historischen Fragen beantworten. Die herkömmlichen Ansätze bleiben daher unverzichtbar. Anstatt also verschiedene Disziplinen gegeneinander auszuspielen, soll hier ein interdisziplinärer Ansatz verfolgt werden (man könnte auch von schamlosem Eklektizismus sprechen): Um ein möglichst facettenreiches und umfassendes Bild von der materiellen Wirklichkeit der Antike zu erhalten, werden wir alle verfügbaren Informationsquellen kombinieren – Aussagen etwa von Plinius dem Älteren, aus ägyptischen Papyri und auch aus der Bibel werden bedenkenlos mit neuesten chemischen und biochemischen Analyseergebnissen vermengt.

Die gegenwärtige Bedeutung naturwissenschaftlicher Verfahren in den historischen Disziplinen wird jedenfalls mit Sicherheit keine kurzlebige Modeerscheinung bleiben, sondern langfristig eher noch zunehmen. Wenn wir wissen wollen, wer wir sind und woher wir kommen, dann brauchen wir alle drei Komponenten: die Bibliothek, das Museum und das Labor.


Abb. 1 Forschung im Dienst der Konservierung von Kulturgütern: Ein Oddy-Test, benannt nach dem Londoner Museumsmitarbeiter W.A. Oddy, der diesen Test 1973 erstmals publizierte. Dabei werden flüchtige Schadstoffe aufgespürt, indem Metallplättchen (a Silber, b Kupfer, c Blei) in Gegenwart der zu testenden Materialien inkubiert werden; nach 28 Tagen werden die Metallproben auf Korrosion untersucht. Im konkreten Fall wurden verschiedene Hölzer getestet; insbesondere beim Blei sind deutliche Korrosionsspuren zu erkennen.

Antike im Labor

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