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7. Straßenbahn-Oldie: Rote Rakete mit singendem Sandmann

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Durch Ontarios Millionenmetropole quietschen noch heute 40 Jahre alte Straßenbahnen. Darin zu fahren ist Sightseeing im Retro-Stil. Mit Glück sitzt Curt am Steuer, der bestgelaunte Fahrer der Stadt. Auf Wunsch singt er die Haltestellenansagen.

Ja, die 504 lächelt heute. Ihre kleinen, runden Funzel-Scheinwerfer sind die Augen, der größere in der Mitte ist die Nase und darunter, dieser helle Bogen auf der Front, das ist der lächelnde Mund dieser 40 Jahre alten Dame. Sie hat schon alles gesehen in Toronto und rollt immer dennoch tapfer überall dort, wo die Verkehrsbetriebsplaner sie täglich einsetzen. Heute auf der Linie 504, einer Ost-West-Verbindung durch die City, und in diesem Moment an die Haltestelle auf der King Street East. Die vierteilige Falttür vorn öffnet. „Hello, good morning and welcome on board!“, begrüßt Fahrer Curt Richards jeden, der neu zusteigt. Und strahlt dabei mit seinem makellosen weißen Gebiss, als liefe gerade die Kamera für einen Zahnpasta-Spot. Wer keine Monats- oder Tageskarte vorzeigt, dem verkauft Richards einen Einzelfahrschein, den er von einem Brett abreißt. Touchpads für Kreditkarten? Oder Münzautomaten? Gibt es hier nicht.


Unterwegs in der ganzen Stadt: die Red Rocket

Ebenso wenig wie das (typisch deutsche) Schild über der Frontscheibe, dass man den Fahrer nicht ansprechen darf, während die Bahn rollt. Muss heute in der 504 auch keiner, denn Curt Richards plaudert von selbst mit seinen Fahrgästen. Zuerst über die auf der Frontscheibe ächzenden Scheibenwischer, das Schmuddelwetter und darüber, dass jeder trotzdem gute Laune behalten soll. So wie der 56-Jährige, der vor mehr als zehn Jahren vom TV-Moderator eines Lokalsenders zum Tram-Fahrer umschulte. „Ich steuere am liebsten diese alten Bahnen“, sagt er, „die neuen haben Fahrerkabinen, da drin fühle ich mich eingesperrt – ich brauche direkten Kontakt zu den Leuten.“ Dass er ihn weiter haben kann, verdankt Curt der Firma Bombardier. „Bei diesem kanadischen Hersteller haben unsere Verkehrsbetriebe etliche neue Bahnen bestellt, aber Bombardier hat Lieferprobleme“, erzählt Curt grinsend: „Darum müssen insgesamt mehr als 70 der alten Bahnen noch ein paar Jahre durchhalten.“ Auch sehr zur Freude vieler Torontonians, denn diese kirschroten Oldie-Trams gehören zum Inventar der Stadt, haben schon ewig den Spitznamen „Red Rocket“, sie prangen auf T-Shirts, Glückwunschkarten, Graffiti und Kaffeetassen.


Curt stellt die Weiche manuell.

Kurz vor der nächsten Kreuzung stoppt Curt Richards seine „rote Rakete“, schnappt sich einen etwa hüfthohen, olivgrünen Metallknüppel neben der Fahrertür und springt auf die Gleise. Darin fuhrwerkt er mit dem Brecheisen kurz herum und kommt zurück. „Handbetrieb“, sagt er nur beim Losfahren und wartet ab, bis alle Nicht-Einheimischen unter den Augenzeugen geschaltet haben: Moment, der Fahrer hat da gerade eine Weiche so hingebogen, dass die Bahn um die Kurve fahren kann …? „Ja, es ist genauso, wie du denkst“, sagt Curt, „bei manchen Weichen fällt die Fernsteuerung aus, dann hängt im Stromkabel ein Schild, dass ich raus muss.“ Schon hat der Mann in akkurater, taubenblauer Uniform seine Finger wieder auf dem abgewetzten Armaturenbrett und steuert die Bahn, indem er 13 verschiedene, rechteckige Tasten drückt. Rote setzen die „Rakete“ in Bewegung oder stoppen sie, grüne öffnen und schließen die Türen, gelbe knipsen die Lichter an und aus. Fast wie an der Modelleisenbahn in Kindheitstagen. Jetzt drückt Curt eine der weißen Tasten, und schont erklingt das Ding-Ding-Ding, mit dem Straßenbahnen früher warnend um die Ecke kamen, mit ohrenbetäubendem Gequietsche der Metallräder in den Schienen, das die „Red Rocket“ jetzt auch von sich gibt.


Curt vor seinem Arbeitsplatz

Curt zeigt auf ein von der Sonne ausgebleichtes Anzeigefeld in seinem Armaturenbrett: „Da sehe ich, dass die Räder durchdrehen, meine Bahn quietscht, weil sie die leichte Steigung nicht hochkommt. Darum muss ich sofort Sand in die Schiene streuen, um den Rädern so Griffigkeit zu geben.“ Ob er jetzt wieder raus muss? Nein, ein paar Mal auf einen roten Knopf drücken, das reicht. „Du hockst übrigens auf dem Sand“, sagt Curt, strahlt wieder und klappt an der nächsten Haltestelle kurz den vordersten, rechten Sitz hoch. Tatsächlich, darunter ist eine Mini-Sandkiste. „Oh, muss an der Endhaltestelle mal wieder was reinschippen“, meint Curt. Auch auf diese Knochenarbeit scheint sich der 56-jährige Einwanderer aus Jamaika zu freuen.

Vier bis fünf Touren muss er pro Arbeitstag fahren, seit Jahren oft die selben Strecken. Wird ihm dabei auch mal langweilig? „Nie“, antwortet er ohne Zögern, „Straßenbahnfahren ist für mich wie Theater – da draußen vor der Frontscheibe wird auf jeder Tour ein neues Stück aufgeführt, und ich sitze in der ersten Reihe, kriege mit, wie die Stadt sich verändert und worüber die Leute reden.“ Wer Curt kennt, bittet ihn schon mal, die nächste Haltestellen-Ansage zu singen. „Spaaaadeiiiiiinahhhhh!“ schmettert er dann etwa an der Spadina Avenue durch den Waggon. Hat der passionierte Gospelsänger, Akkordeonspieler und Gitarrist in seinen ersten Jahren an jeder Haltestelle gemacht und erst damit aufgehört, als automatisierte Ansagen eingeführt wurden – 2010 sei das gewesen, erinnert er sich.


Glücklicher Bahnkapitän

Wahrscheinlich, weil zur selben Zeit eines Tages diese hübsche, asiatisch aussehende Frau in seine Bahn stieg. Und schnell ganz verunsichert auf einem der vorderen Sitze saß. Warum schaut mich der Fahrer per Rückspiegel dauernd an? Ich habe doch bezahlt. Beim Aussteigen sprach Curt die Frau an, und es gelang dem Charmeur, ihr im Vorbeigehen seine Telefonnummer mitzugeben. Doch die gebürtige Thailänderin meldete sich zunächst nicht. Dann, nach einer endlos erscheinenden Woche des Wartens klingelte Curts Telefon. „Ich traf mich mit ihr, einen Monat später waren wir verlobt, neun Monate später verheiratet“, erzählt er und strahlt noch mal sein breitestes Lächeln.

Info

Lage: Torontos TTC-Straßenbahnnetz zieht sich durch die ganze Stadt.

Eintritt: Tagespässe für die Straßenbahn gibt es zum Beispiel in U- Bahnstationen, nicht jedoch bei den Fahrern der Red Rocket-Bahnen. Sie verkaufen nur Einzelfahrscheine.

Webseite: www.ttc.ca

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