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Mia

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13 Kilometer südlich von Paula lebt die gleichaltrige Mia. Wie jedes fünfte Kind in Deutschland wächst Mia in einer sozio-ökonomischen Gefährdungslage auf. Vor drei Jahren hat die Familie eine 4-Zimmer-Wohnung in einem der Hochhäuser am Heuchelhof zugewiesen bekommen. Seit dem Umzug fährt Mia, so oft sie kann, mit dem Lift ganz nach oben in den 17. Stock und erkundet von dort aus die Gegend ringsum. Genau gegenüber kann sie in die Fenster des Nachbarhochhauses blicken. Allerdings sieht sie nicht, was dahinter ist. Rechts vorbei kann man zwischen den anderen Hochhäusern bis zum Sportplatz schauen. Wenn es dunkel ist und die Scheinwerfer das Fußballfeld beleuchten, fühlt sich Mia nach New York gebeamt. Im Wohnzimmer hängt ein Plakat von New York, auf dem viele Hochhäuser zu sehen sind – und dazwischen ganz klein ein Fußballplatz, auf dem ein paar Jungs kicken. Irgendwann – »wenn wir mal reich und berühmt sind«, sagt Mias Mutter immer – werden sie alle zusammen nach New York fliegen.

Aber dafür reicht das Geld hinten und vorne nicht. Mias Vater arbeitet seit drei Jahren als Aushilfskraft am Bau der A3-Talbrücke Heidingsfeld mit. Vorher war er arbeitslos, und was wird, wenn die Brücke fertig ist, weiß er noch nicht. Um mehr zu verdienen, hat er sich in den Schichtdienst einteilen lassen und muss immer im Wechsel eine Woche sehr früh, eine Woche sehr spät und eine Woche nachts zur Arbeit. Mia hat ihren Vater in den letzten drei Jahren fast nur müde oder gereizt erlebt. Wenn er Urlaub hat, jobbt er bei der Schrottpresse. Dort hat er im letzten Jahr auch seinen alten Mercedes gefunden. Der sollte verschrottet werden, war aber noch fahrbereit und bis auf den TÜV topfit. Mia liebt den satten Sound des Autos, wenn sie mit offenen Fenstern an einer Mauer vorbeifahren und Papa Gas gibt. Sie ist gerne dabei, wenn ihr Vater irgendetwas zu schrauben, zu lackieren oder zu polieren hat. Im Augenblick ist allerdings der Anlasser kaputt und weil das Geld grad knapp ist, kann er nicht repariert werden. Mias Mutter arbeitet als Kassiererin bei REWE und spart jede Woche etwas Geld, damit sie alle zusammen übernächstes Jahr im Sommer vielleicht für eine Woche ins Disney-Land fahren können. Alle zusammen heißt: Mama und Papa, Mia, ihre große Schwester Lara und »die beiden Kleinen«, Max und Alex. Mia teilt sich mit ihrer 8-jährigen Schwester das Zimmer nach Süden, die 3 und 4 Jahre alten Jungs schlafen im Zimmer direkt neben der Eingangstür. Das Mädchenzimmer ist groß genug, dass dort zwei richtige Betten und an der Wand dazwischen ein großer Schrank stehen können. Ihre Hausaufgaben erledigt Lara am Wohnzimmertisch. Wenn Mia auch bald in der Schule ist, müssen sie sich irgendwie absprechen, denn dort liegen ja auch immer die Spielsachen der Jungs herum. Eine Möglichkeit wäre, dass sie sich ein großes Brett besorgen, das sie wie einen portablen Tisch ins Bett mitnehmen können, um darauf zu schreiben.

Wenn Mias Mutter mittags arbeiten muss, haben die beiden Schwestern im Haushalt alles im Griff. Dann kochen sie für Max und Alex Spaghetti oder Fischstäbchen und gehen rüber zum Spielplatz. Sie sind schon ein eingespieltes Team: Jacken an, Schuhe, Taschentücher, Hausschlüssel und Mützen. Die Klamotten der Jungs hatten sie früher selbst auch schon an. Auf dem Spielplatz treffen sie meistens auch Fe, Maike, Mo oder Seb. Während die Kleinen an den Geräten spielen und im Sand buddeln, machen sie Sachen für Große. Zum Beispiel beobachten sie gerne Pärchen, wenn sie irgendwo versteckt knutschen. Oder sie graben selber im Sand nach Regenwürmern, staunen über Ameisenstraßen und retten Fliegen aus Pfützen und der Abdeckung der Rutschbahn.

Mia ist ein waches, interessiertes und fröhliches Mädchen. Sie genießt ihr Leben und freut sich auf die Schule.

Soziale Benachteiligung und Resonanzerleben

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