Читать книгу Soziale Benachteiligung und Resonanzerleben - Stephan Ellinger - Страница 13
Jenny
ОглавлениеSechs Kilometer nordöstlich von Ben streift Jenny mit ihrer Halbschwester Aischa durch die Straßen des Stadtteils Lindleinsmühle. Die beiden verstehen sich trotz der vier Jahre Altersunterschied gut. Sie schlafen zuhause in einer Hängematte und kennen beide ihren leiblichen Vater nicht. Dafür ist praktisch jeden Monat ein anderer Mann bei Mama, der dann oft auch für eine Weile bei den drei Frauen wohnt. Im Bad riecht es eigentlich immer nach fremdem Männerschweiß, und beim Essen ist es nie wirklich entspannt. Neulich hat der aktuelle Lover Jenny eine Ohrfeige verpasst, weil sie »Iih!« geschrien hat, als er den Deckel der Pfanne hochhob. Sie mag nun mal definitiv keinen Spinat, und er ist nicht ihr Vater. Jenny und ihre Halbschwester wachsen in einer sozio-emotionalen Gefährdungslage auf. Sie fühlen sich unterwegs in der Stadt deutlich wohler als dort, wo sie wohnen. Mutter Alina besucht zurzeit ein Berufsgrundschuljahr für Schulabbrecher und sie hasst es. Weil sie mit Haushalt, Kindern und Schule nicht zurechtkam, leben die beiden Brüder in einer Pflegefamilie. Sie sind vier und sieben Jahre alt. Toni, der jüngere, ist Jennys richtiger Bruder, Ahmet, der ältere, ihr Halbbruder. Sie mag irgendwie beide nicht, weil sie so wild sind und nicht für fünf Cent auf Mama hören. Deshalb hält sie es für gut, dass sie nicht bei ihnen wohnen, sondern irgendwo bei einer Familie in Karlstadt.
Es gibt allerdings einen Jungen, den Jenny gerne mag: Frederik ist Aischas Klassenkamerad und wohnt mit seiner Tante und deren Freund in der Wohnung schräg gegenüber. Frederiks Mutter ist kurz vor Weihnachten in die JVA Würzburg eingefahren. Seitdem ist Frederiks Kontakt zu ihr praktisch abgebrochen. In Bayern dürfen die Kinder von Strafgefangenen nicht einmal jede Woche mit den Eltern telefonieren und die Besuchszeiten sind stark beschränkt. Es heißt, die Kontaktbeschränkungen seien ein Teil des Abschreckungspotenzials der Haftstrafe. Frederik leidet sehr darunter. In die Wohnung neben Frederik ist eine Familie aus Syrien eingezogen: die Eltern und vier Kinder im Alter von drei, sechs, neun und elf Jahren.
Rassim ist in Jennys Alter und wird wohl mit ihr eingeschult werden. Sie findet ihn komisch, weil er immer wegguckt, an seinem Pullover oder Sweatshirt lutscht und sich dauernd umschaut. Frederik hat erzählt, dass Rassim letztes Jahr noch in Syrien lebte und eines Morgens mit seinem siebenjährigen Bruder zum Holzsammeln unterwegs war, als dieser direkt neben ihm von einem Scharfschützen erschossen wurde. Aus heiterem Himmel fiel er einfach um.
Jenny fühlt sich unsicher und weiß nicht genau, auf wen sie sich im Leben eigentlich verlassen kann. Zuhause herrscht immer eine gereizte Stimmung, ihre Mutter findet es wichtiger, dem Lover zu gefallen, als für ihre Töchter da zu sein, Frederik weint viel und Rassim hat ’ne Macke, das merkt jeder. Die Welt und das Leben begegnen Jenny eher beängstigend und verschlossen, hoffentlich wird die Schule nicht auch eine Katastrophe.
Unser letzter Besuch führt uns 14 Kilometer weiter in den Süden Würzburgs nach Rottenbauer. Dort wohnt Leon mit seiner Schwester und seinen Eltern im Neubaugebiet.