Читать книгу Leben, mit meiner "Freundin" der Depression - Stephan Falkenstein - Страница 6

Von "Klein Manhattan" an den Stadtrand

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Wie ihr bereits wisst, begann meine Kindheit in der Südstadt, in "Klein Manhattan". Dort stehen in etwa fünf Wohnblöcke mit 17 Hauseingängen und zwei Hochhäuser.

Ein paar Eingänge weiter gab es einen Spielplatz und eine größere Wiese. Dort gingen wir nur hin, wenn dieser nicht gerade wieder von größeren Kindern oder Jugendlichen besetzt wurde. Das war irgendwie ein unbeschriebenes Gesetz, sonst gab es was auf die Mütze.

Die wenigen Erinnerungen die ich an diese Zeit habe sind eher unspektakulär. Als ich die ersten Male alleine raus durfte, ohne nur den Hausmüll runter zu bringen, waren diese schon negativ behaftet. Ich kannte noch keine anderen Kinder und musste erstmal alleine das Territorium erforschen. Dabei stieß ich anfangs nur all zu oft auf größere Kinder, die ständig in Gruppen unterwegs waren. Ich wurde geschubst, angespuckt oder wurde in den Bauch geboxt. Natürlich habe ich das meiner Mutter gesagt oder meinem Vater. Aber es hieß immer, dass ich mich nicht prügeln oder andere schlagen soll. Das war mir ja irgendwie einleuchtend, denn ich wusste ja, nicht nur durch die anderen Kinder, sondern durch die Erziehungsmethoden meines Vaters, wie sehr das weh tun konnte. Also ließ ich mich, wenn ich es nicht durch Verstecken oder Flucht vermeiden konnte, von den größeren verprügeln und ging dann nach Hause. So war ich in der "Klein Manhattan" Zeit ständig in der Opferrolle. Zumindest bis ich etwas größer wurde und gleichgesinnte kennen gelernt hatte. Ab da ging es dann und wir wurden nur noch selten beim Spielen von den größeren geärgert.

In "Klein Manhattan" war auch die schlimmere Zeit, als später nach dem Umzug, was meinen Vater betrifft. Dort habe ich mehr Schläge und Prügel von ihm bezogen als nach dem Umzug.

Mein Vater neigte immer dann zu Gewalt, wenn er betrunken war. Das war meistens freitags, wenn er nachts vom Skat kam und sonntags nach seinem Frühschoppen. Wie oft kam er zu spät oder gar nicht zum Sonntagsessen nach Hause. Und jedes Mal gab es Stress und endete damit, dass Geschirr flog oder Töpfe. Einmal hatte er das komplette Küchenregal mit einer einzigen Handbewegung abgeräumt. Meine Mutter weinte, wir Kinder weinten weil Mutti geweint hatte und Vater rum brüllte. Ich war jedes mal froh darüber, wenn er uns Kinder in Ruhe ließ und wir ohne Schläge davon kamen. Wie oft habe ich mich mit meinem Bruder still und leise in unser Zimmer zurück gezogen und gelauscht, bis unser Vater endlich ruhiger wurde und sich zum schlafen ins Wohnzimmer auf das Sofa legte.

Dort wohnten wir, bis ich knapp neun Jahre alt war. Ich konnte die letzte Zeit dort kaum abwarten bis zum Umzug und war glücklich, dort weg zu kommen.

Wir zogen an den westlichen Stadtrand in die vorletzte Straße, bevor der Ort zu Ende war. Hier waren die Häuser viel kleiner, die Straßen schmaler und alles kam mir viel ruhiger vor. Die einzige größere Straße war die Hauptstraße aus dem Ort raus. Die durften wir in den ersten Jahren auch nicht alleine überqueren.

Sehr schnell haben wir hier Anschluss gefunden und andere Kinder kennen gelernt. Ohne Angst haben zu müssen oder auf der Flucht zu sein. Manchmal waren wir 14 Kinder oder mehr, ohne die Kinder aus den kinderreichen Familien in der letzten Straße im Ort.

Wenn ich von der weiteren Erziehung meines Vaters und den Problemen auf der neuen Schule absehe, waren hier meine glücklichen Jahre meiner Kindheit. Wir waren Sommer wie Winter so oft es ging draußen. Dort konnten wir spielen und einfach frei sein. Auch wenn meine Eltern nicht alles wussten, was wir so gemacht haben, wobei ich nichts anderes machte, was andere Kinder in meinem Alter nicht auch taten, nur mit dem Unterschied, dass meine Eltern vieles anders sahen und mir nicht die Freiheit gaben, mein „Kind sein“ auszuleben. Viel zu früh musste ich vernünftiger und anständiger sein als gleichaltrige. Was nicht nur von meinem Verhalten, sondern auch von meiner Wortwahl und meinem Ausdruck her anderen Kindern und Erwachsenen schnell auffiel. Kraftausdrücke und Schimpfwörter hatte ich nicht in den Mund zu nehmen. Ich hatte ständig freundlich, höflich und zuvorkommend zu sein.

Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie ein stilles Kind, welches immer artig auf seinem Klassenstuhl sitzt und nicht mit den anderen Kindern tobt, zankt, spielt oder Blödsinn macht, auf andere Kinder wirkt. Da war ich von Anfang an der "Andere", der Außenseiter, der Langweilige und für einige Jungs genau der Richtige, den man ärgern und aufziehen konnte.

Nachdem ich mich vor einigen Jahren mal zufällig mit einem Kinderpsychologen unterhalten habe, weiß ich heute, dass es für Kinder und deren Entwicklung wichtig ist, auch mal altersgerechte Schimpfwörter oder Kraftausdrücke zu verwenden. Vor allem ohne das es dafür gleich einen Arschvoll bekommt. Dass sich ein Kind anderen gegenüber auch mal behauptet und das Rangeleien einfach dazu gehören.

Selbst mit 16 Jahren war ich nicht zu alt, um nicht welche um die Ohren zu bekommen, wenn mein Vater dies für nötig hielt. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, als er mir sagte, dass ich nur nicht glauben solle, nur weil ich jetzt einen Personalausweis habe, dass ich machen könne was ich wollte und nicht mehr zu hören hätte. Auch mit 16 wäre ich ihm nicht zu alt, um mir eine zu verpassen.

Das hört sich für euch jetzt wahrscheinlich an, als wäre ich einer dieser schwer erziehbaren Jugendlichen gewesen, der provokativ seine Eltern tyrannisieren würde, große Schnauze ihnen gegenüber gehabt hätte und draußen auf der Straße einen auf Macho machte und richtig die Sau raus gelassen hätte. Nein, davon war ich so weit entfernt, wie ein Goldfisch vom Fahrrad fahren. Ich hatte mich meinen Eltern unterzuordnen und wie ich dieses Zuhause getan hatte, so machte ich das auch in der Schule und wenn ich mich mit Freunden traf. Der nette, brave, zuvorkommende Junge der Nachbarn. So hatten mich die Leute damals beschrieben, die meine Eltern und mich kannten.

Aus heutiger Sicht konnten sich meine Eltern damals nicht wirklich über mich oder meine Erziehbarkeit beschweren. Sie hatten mich sehr früh gebrochen, so weit, dass ich zahm war wie ein Lamm. Nur selten hatte ich mal neue Grenzen austesten wollen, was aber schon im Keim erstickt wurde und ich diese Versuche schnell wieder sein ließ.

Gutes Benehmen wurde in unserer Familie groß geschrieben, zumindest von uns Kindern verlangt. Von Klein auf wurden wir dazu erzogen uns anständig zu benehmen, Zuhause wie auch in der Öffentlichkeit.

Beim Essen durften wir nicht reden, auch wenn wir bei der Verwandtschaft oder im Lokal waren, es sei denn, wir wurden etwas gefragt oder dazu aufgefordert. Wir hatten still zu sitzen und wenn wir nach dem Essen aufstehen durften, dann hatten wir nicht zu rennen oder zu toben und uns still zu verhalten.

Vor älteren hatten wir Respekt zu haben, sie zu grüßen, ob wir sie kannten oder nicht, ob wir wollten oder nicht. Einmal wollte ich einen Nachbarn nicht grüßen, weil er uns unseren Ball nicht wieder gegeben hatte, der aus Versehen in seinem Garten gelandet war. Das gab natürlich Ärger von meinem Vater, als wir nach Hause kamen und Mutter ihm berichtete. Erst den Ball in Nachbars Garten schießen und dann auch noch die Frechheit zu besitzen, den guten Mann nicht zu grüßen. Na, das gab wieder Theater.

Im Bus hatten wir unseren Sitzplatz anzubieten, Türen zu Geschäften oder Behörden zu öffnen oder für die Leute offen zu halten. Das hat natürlich etwas positives und das höflich sein hat uns ja auch nicht geschadet. Aber das, wie es uns anerzogen wurde, mit dieser Strenge und Härte, das hatte uns Kinder versaut. Fast schon wie eine Gehirnwäsche. Diese Höflichkeitsfloskeln waren so in meinen Kopf gebrannt, dass ich selbst noch mit über 20 Jahren Türen öffnete, durch die ich selbst gar nicht gehen wollte oder ich ältere Menschen gegrüßt habe, die mir entgegen kamen, die ich gar nicht kannte. Solange, bis es mir selbst auffiel und ich mich fragte, ob ich bescheuert bin, für diesen griesgrämigen Mann oder diese unfreundliche Frau überhaupt einen Finger zu krümmen.

Mir diese eingebläuten Dinge abzugewöhnen war eben so schwer, wie das schlechte Gewissen zu verbannen, das ich hatte, als ich aus der Kirche ausgetreten bin, weil ich nicht an den Gott glaubte, wie er von der Kirche gepredigt wird. Und trotzdem hatte ich eine Zeitlang Angst vor seiner Strafe, falls es ihn doch gäbe.

In unserer Wohnung habe ich mich meistens in unser gemeinsames Kinderzimmer zurück gezogen. Nur selten und wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ, bin ich abends mit ins Wohnzimmer zum gemeinsamen Familien-Fernsehabend gegangen.

Ich glaube, das fing da an, als ich die schlechteste Erfahrung gemacht habe, die ein Kind machen kann.

Leben, mit meiner

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