Читать книгу Leben, mit meiner "Freundin" der Depression - Stephan Falkenstein - Страница 7
Steige niemals in fremde Autos
ОглавлениеNur acht Kilometer von uns war ein kleiner Ort, der eine Justizvollzugsanstalt hatte. Mit geschlossenem und offenem Vollzug. Daher haben mir meine Eltern immer wieder gepredigt, dass ich mich nicht von fremden Leuten ansprechen lassen soll, wobei egal war, ob Mann oder Frau. Auch, dass ich niemals in fremde Autos einsteigen solle, auch wenn mir gesagt würde, dass ich z.B. von der Schule nach Hause gefahren werde und dieses mit meinen Eltern abgesprochen sei.
Wenn mal einer aus der Anstalt geflohen ist, war das natürlich Gesprächsthema Nummer eins unter uns Kindern. Es war schon fast abenteuerlich, als wir uns ausmalten, dass der als Anhalter in unseren Ort kommt und jemanden überfällt. Vielleicht die alte Frau auf der anderen Seite der Bundesstraße, die wir nicht mochten. Oder eine Bank ausraubt oder die Tankstelle, die nur zwei Grundstücke neben der alten Frau war. Ja, das war aufregend für uns Kinder, ich war vielleicht gerade neun oder zehn damals.
Da konnten sich meine Eltern auf mich verlassen. Ich wäre nie mit fremden Leuten mitgegangen. Obwohl damals einige ausgebrochen sind oder von ihrem Freigang einfach nicht zurück gekehrt waren, ist glücklicherweise nichts passiert. Wir hatten in unserem Alter ja keine Ahnung davon, dass es sich auch um Triebtäter handelte.
Es kam alles anders als ihr jetzt denkt. Ja, auch ich wurde damals ein Opfer von sexuellem Missbrauch. Ich war irgendwo zwischen 10 und 11 Jahre alt. Ich bin mit keinem fremden mitgegangen und zu niemandem ins Auto gestiegen. Das wusste ich ja von meinen Eltern. Aber die haben mir damals nicht verboten, mit jemandem mitzugehen, den ich kannte und zwar gut kannte.
Alle, die in unserer Straße wohnten kannten den Typen. Der eine mehr, der andere weniger. Wir Kinder haben ihn wohl am meisten gesehen. Er war wesentlich älter als wir und hatte wohl keine Freunde in seinem Alter. Ab und zu hat er uns ein Eis aus seiner Wohnung geholt oder uns Bonbons geschenkt. Mit den etwas größeren hat er sich auch öfter unterhalten. Er war nett, manchmal sogar sehr lustig. Er hat auch nicht, wie manch andere Nachbarn, geschimpft, wenn wir beim Spielen den Ball in seinen Garten geschossen hatten.
Irgendwann war ich mal mit ihm alleine. Er hat mir in seiner Garage Matchbox Autos gezeigt und ein größeres Flugzeug, was geflogen ist, wenn man den Propeller aufzog. Er fragte mich, ob ich ein Eis haben möchte. Welches Kind würde da schon "Nein" sagen.
Irgendwann öffnete er seine Hose und versuchte mich dazu zu bringen, ihn mit der Hand und etwas später oral zu bedienen. Mir wurde kotzübel und ich wollte das nicht. Nachdem er den Druck auf mich erhöht hatte und ich mich fast übergeben musste, ließ er vorerst von mir ab.
Er lockte mich ins Haus, und obwohl er versprochen hatte, dass er sowas nicht mehr machen würde, wurde es in den nächsten Stunden zum Alptraum für mich.
Ich wusste gar nicht, was gerade passiert war. Nur, dass es sich nicht richtig anfühlte. Ich fühlte mich so schmutzig und ich schämte mich. Ich hatte das Gefühl, dass mich jeder anstarren würde und mir ansah, was mit mir passiert war.
Er hatte mir Spielzeug geschenkt. Ich sollte niemandem etwas erzählen, das wäre ein Geheimnis. Er fragte mich, ob ich wüsste was ein Geheimnis ist. Natürlich wusste ich das! Wenn ich das Geheimnis verraten würde, dann würde er allen Kindern in der Straße und den Nachbarn erzählen, was ich gemacht habe.
Nach dem Spielzeug kamen Drohungen, er würde mich verprügeln und meinen Bruder auch. Und mir würde eh niemand glauben, weil ich ein Kind bin. Und außerdem ist sowas gar nicht schlimm, weil das alle machen würden und es etwas ganz normales sei.
Selbst in und nach dieser Situation kam meine strenge Erziehung durch. Ich wurde dazu erzogen, Leute, die älter waren als ich, zu respektieren, zu hören und artig zu sein. Und obwohl es sich falsch angefühlt hatte, habe ich nichts meinen Eltern verraten.
Davon wussten meine Eltern über 37 Jahre nichts. Ich habe nichts davon gesagt, weil ich mich geschämt hatte. Und später habe ich nichts erzählt, weil schon soviel Zeit vergangen war und ich mich noch mehr schämte. So verdrängte ich es Jahrzehnte und es kam erst wieder in meiner tiefsten Depression an die Oberfläche.