Читать книгу Abendlicht - Stephan Hermlin - Страница 4
ОглавлениеWer recht in Freuden wandern will sangen wir, der geh der Sonn entgegen. Die Sonne stand dicht über dem östlichen Bergkamm, als wir über die Innbrücke zogen. Auf der Brücke, gerade in der Mitte des breiten, unendlich langen Tales, hielt ich inne, eine Minute hindurch taub für das Rufen der Lehrer. In der Tiefe des schnellen graugrünen Wassers glaubte ich die Forellenschwärme zu erblicken, die in ihm wohnten, und sah dann fern im Süden den Berg, der das Tal abschloß, den ich meinen Berg nannte und nie vergaß, La Margna. Und der Himmel da oben, wie ist er so weit, wie still konnte er damals sein, noch zeichnete ihn keine Kondensspur, über den fernen Berg hinweg zog er den Blick nach oben, ließ ihn von Tiefe zu Tiefe stürzen, denn die Tiefe war nicht nur unten in den Gewässern, sie umgab mich von allen Seiten, ihr anderer Name war Stille, nirgendwo war sie tiefer als im Blau da oben, in das ich hinaufschwebte, in das ich niedersank. Mein Blick suchte, wie schon immer, die Wolken, die dahinwanderten wie ich selber, einander gleichend wie vor, wie nach Jahrtausenden, und doch so schmerzhaft unbeständig und mir bedeutend, daß kein künftiger Augenblick mehr sein würde wie dieser.
Die Sonne erstarkte, sie glühte im unheimlichen Blau hoch über den Wäldern am Hang, in deren Schatten ich hierhin und dorthin lief, Alpenrosen pflückend, die ich in meinen kleinen Rucksack stopfte; sie würden nicht verletzt werden, nicht gleich welken, es waren kräftige Blumen, die in meinem Gedächtnis weiterflammen würden, lange noch, nachdem ich die Gläser zu Hause mit ihnen gefüllt hatte.
Aus den Wäldern rief der Kuckuck, man brauchte seine Rufe nicht zu zählen, endlos lag das Leben vor mir. Der Tag wölbte sich höher, nur selten sah man Menschen, doch spürte man überall ihre ruhige, freundliche Gegenwart in den festen, jahrhundertealten Häusern, auf den sauberen Straßen, durch die manchmal ein Wagen dahin knarrte; fern lehnte ein Hirt an seinem Stab neben den Lärchen. Stündlich fuhr der elektrische Zug durch das Tal; sein Rollen und Rauschen verhallte schnell.
Am späteren Nachmittag, wenn ich die Schule und die Mittagsruhe hinter mir hatte, ging ich am Hause der Plantas vorbei durch die Wiesen flußabwärts auf den nadelspitzen Kirchturm von Scanf zu, wo mich der alte Pfarrer erwartete, der mit mir den Comelius Nepos las. Eine Wanduhr tickte langsam und beharrlich. Eingehüllt in das warme Licht, das in einer Säule aus tanzendem Staub und Tabaksdunst auf mein Buch fiel, folgte ich schläfrig und zufrieden den grammatikalischen Erläuterungen des Pfarrers. Auf dem Heimweg verweilte ich neben den Gruppen der Bauern, die auf der Dorfstraße beisammen standen. Ich mühte mich, nicht allzu neugierig zu erscheinen; ich lauschte dem Klang ihres ladinischen oder deutschen Redens; manchmal warf mir der eine oder andere einen gleichmütig-milden Blick zu. Ich betrachtete ihre mächtigen Gestalten, ihre breiten, dunklen Hände; was sie sprachen, verstand ich nur zum Teil. Sonntags standen sie in Feiertagskleidung neben der Kirche, die Frauen trugen die schwarz-rote goldgesäumte Tracht der Gegend. Diese Menschen flößten mir Scheu ein; sie herrschten über die Acker, die Weiden, die Almen, die Tiere; immer wußten sie, während die Jahreszeiten wechselten, einen Tag um den anderen, was zu tun war, ihre Wege durch das Tal, ihr Verweilen an dem oder jenem Ort bildeten die Linien und Punkte eines Systems, eines Entwurfs. Sie wußten etwas, das mir unbekannt war und das ich wissen wollte.
Aber wieder wurde mein Blick emporgerissen, eine Bläue türmte sich unergründlich auf die andere, ein rötlicher Schein drang über die westlichen Bergzüge, die ersten Sterne traten zwischen den scharfen Konturen der Wölkchen blaß hervor, und, mit Grauen über die Schulter zurückblickend, sah ich hoch oben den abendlichen Adler über dem finsteren Dreieck des Piz d’Esan seine Kreise ziehen.