Читать книгу Abendlicht - Stephan Hermlin - Страница 5

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Dieses langsame, tastende Wiederfinden des eigenen Körpers, des Ortes, der Jahreszeit, der ungefähren Stunde. Was war das doch … Durch einen Fensterausschnitt werden drei kalt funkelnde Sterne sichtbar. Es ist Winter. Aber eben war da noch eine Wärme gewesen, mehr, eine Glut, wüstenhaft, sengend, erstickend. Dabei war ich auf offener See, ja über ihr, denn ich flog, ohne daß ein Laut zu vernehmen war, in einem Gerät, das ich nicht zu erkennen, wohl aber zu steuern vermochte. Ich flog über einer so gut wie unbewegten, bleiernen, biblischen See, wie ich sie vor Jahrzehnten während eines Hochwassers auf Föhr gesehen hatte. Mein Gerät flog schnell, es war überaus wendig, ich konnte im Augenblick aus der Höhe eines Raumfliegers nach unten stoßen und dicht über der Wasserfläche dahinschießen.

All diese Unbewegtheit unter mir, oder vielmehr dieses langsame, kaum wahrnehmbare, träge Atmen der Wasser in einem Licht, das von nirgendwoher kommt. Die Winde ruhen. Keine Küste, keine Insel, kein Schiff. Aber irgend etwas sagt mir, daß ich über dem Kanal sein muß, etwa dort, wo er in die Nordsee hinaus geht. Wie kommt es denn aber, daß ich nichts von Harwich sehen kann, nichts von Holland, vielleicht bin ich doch viel weiter westlich über dem offenen Ozean. Aber gerade jetzt kann ich aus meiner sehr großen Höhe etwas sehen, ein Boot vielleicht oder eine Planke, etwas jedenfalls, das im langsamen Auf und Ab des Wassers schaukelt, und als ich tiefer gehe, ist es der Flügel eines Flugzeugs, es ist, wie ich jetzt deutlich erkenne, die Tragfläche einer Spitfire, und quer über ihr liegt ein Mann auf dem Rücken, ich ahne, was mir bevorsteht, und einen Augenblick später sehe ich meinen Bruder. Er liegt gerade neben der Kokarde, er trägt seine Mae West und die Haube mit den Kopfhörern, sein blasses Gesicht ist ein wenig gedunsen, aber fast so, wie es im Leben gewesen war, und als ich noch tiefer gehe, sehe ich, daß er etwas Weißes in der einen Hand hat, ein Blatt Papier, einen Zettel. Ich steige sofort wieder höher – man müßte Hilfe holen oder vielmehr ihn bergen lassen, damit er sein Grab bekommt und die Squadron ihren Ehrensalut schießen kann. Merkwürdigerweise wende ich mich aber nach Osten statt nach Westen. Schon liegt Land unter mir, ich kann die Küsten des Kontinents deutlich erkennen, ich bin wieder zum Raumfahrer geworden, keine Wolke stört meinen Blick, von neuem nehme ich die Hitze wahr, die mich umgibt, jetzt riecht es auch brandig, wäre es möglich, daß die Wälder unter mir brennen, ich fliege wieder sehr tief, ich streife fast die Baumwipfel, nichts brennt, keinerlei Bewegung, obwohl ich manchmal über halb oder ganz zertrümmerte Städte und Dörfer fliege, aber diese Brände da unten sind seit langem erloschen. Niemand ist zu sehen, ich fliege über die langsamen Flüsse, die zwischen flachen Ufern nach Norden ziehen, ich fliege über riesige, frisch gepflügte Felder, dann wieder über Ansammlungen langer, ebenerdiger Häuser, sind es Kasernen, Baracken, schlanke, hohe Schornsteine werden gelegentlich sichtbar neben Werkhallen, aber da ist niemand, kein Mensch, keine Bewegung, nur liegt alles in dieser toten, zähen Glut. In einer weiten Kurve wende ich mich wieder nach Westen, weit drüben taucht die See auf, unverändert schaukelt der tote Flieger auf seiner Tragfläche, unverändert hält er das weiße Blatt in seiner Hand, etwas steht darauf, ich gehe tiefer, um lesen zu können, was darauf steht, es ist kein Zettel, es ist ein Kalenderblatt und es zeigt das Datum des 22. Juni, und in diesem Augenblick beginnt um mich her ein Geheul, es ist, das weiß ich erst später, mein eigenes Schreien, denn das Kalenderblatt oder vielmehr die Macht, die es meinem Bruder in die Hand gedrückt hat, will deutlich machen, daß dieses Datum aus der Zeit getilgt ist, es gibt diesen Tag nicht, es wird ihn nie mehr geben, es gibt nur den 21. Juni, auf den der 23. Juni folgt, und der 23. wird sein wie der 21. war, es ist so vereinbart worden, und von nun an werden alle Tage ohne Änderung einander folgen, mit dieser Lautlosigkeit, dieser Windstille, dieser Glut, diesem trägen Schaukeln der Gewässer unter einem tageszeitlosen Licht.

Abendlicht

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