Читать книгу Abendlicht - Stephan Hermlin - Страница 6
ОглавлениеDie Jahre in den Bergen fielen mir nicht leicht, ich gewöhnte mich nur langsam an die fremden Kinder, nachdem ich so lange allein gewesen war. Mir fehlten meine Hauslehrer, meine Erzieherin, die Mädchen, alle die Menschen, die mich Tag für Tag umgeben hatten, ehe ich in das Internat kam. Sie standen unwandelbar um mich her, voll unergründlicher Weisheit und Erfahrung, stets in Sorge um mich, manchmal streng auf einer Forderung bestehend, aber immer freundlich und Vertrauen spendend. Meine Eltern sah ich die ganze Zeit nicht, nur einmal tauchten sie jung und strahlend auf, sie waren durch Italien gereist, jetzt nahmen sie mich ins Suvretta-House mit, wir aßen unter lauter fremden Leuten, am nächsten Tag war der Nationalfeiertag, als es dunkel wurde, erstrahlten Feuer auf den Berggipfeln, wir mußten vor den Hotelgästen in der Halle singen, ich sah meine Eltern in Abendtoilette unter anderen festlich gekleideten Gästen, wir sangen In Sempach der kleinen Stadt, wir waren im Internat auf drollige Weise patriotisch gesinnt, obwohl wir Zöglinge allesamt Ausländer waren, dann stoben meine Eltern davon und ich sah sie erst viel später wieder.
Wir wurden gut nach modernen Grundsätzen unterrichtet, ich hatte begonnen die Lehrer zu lieben, wenn auch sie alle mir nicht die abwesenden vertrauten Menschen ersetzen konnten. Am meisten liebte ich ein Fräulein Zehnder. Einmal saß sie im Gespräch mit anderen Lehrern und Lehrerinnen, ich stand zutraulich daneben, es war etwas Ernstes, ja Trauriges in ihren Gesichtern. Fräulein Zehnder wandte sich plötzlich an mich und sagte: »Wie alt bin ich wohl, was glaubst du …« Alle sahen mich erwartungsvoll an. Mir fiel es schwer, das Alter von Erwachsenen zu schätzen, es war ungreifbar; ich zögerte. »Das Seminar hat unsere Jugend verbraucht«, sagte Fräulein Zehnder leise. Zum ersten Mal fühlte ich unklar, daß es in der Welt Versäumtes, Mißlungenes, daß es Reue gab.
Der Besuch der Sonntagsschule machte mir das größte Vergnügen. Man lehrte uns die schönen Choräle von Paul Gerhardt, man las uns Erzählungen aus dem Neuen Testament vor, die wir nacherzählen mußten. Wer gut lernte, erhielt kleine Bildchen, auf denen Episoden aus der Heiligen Schrift dargestellt waren. Plötzlich schienen mir die bunten, grellen Bilder das Schönste zu sein, was ich je gesehen hatte; sie waren viel schöner als die Bilder, die mich zu Hause umgaben. Ich träumte die ganze Woche hindurch von den Bildchen, die ich am kommenden Sonntag erlangen würde. Am Sonntagnachmittag saß ich in meinem kleinen Zimmer unter dem Dach und betrachtete die Bildchen, die mich so sehr entzückten, ich sah die Stadt Emmaus in der Ferne, und im Vordergrund den Kleophas, wie er Christus begegnet. Darunter stand: Bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget.
Der Winter dauerte zu unserer Freude lange, er begann im Oktober und endete im April. Der Schnee lag so hoch, daß der Pedell an manchen Tagen die Haustür freischaufeln mußte. Wir wurden zum Skifahren angehalten, was die meisten von uns gern und mit wachsendem Geschick taten. Einige der großen Jungen besaßen Skeleton-Schlitten, und wir blickten ihnen lange nach, wenn sie zur Crestabahn zogen.
Abends im Bett las ich den »Oliver Twist«, die Kerze sorgfältig schirmend, damit kein Lehrer auf seinem Kontrollgang den Lichtschein an der Schwelle wahrnehmen könne. Dann lag ich eine Weile im Dunkel, blickte aus dem warmen Zimmer in die eisige Nacht mit ihren großen Sternen und dachte über Oliver Twists Schicksal nach. Mich erfaßte heftiges Mitleid mit armen Kindern, die es glücklicherweise nur in Büchern gab. Diese Nächte waren fast ohne Laut, nur selten ertönte der Pfiff eines Zuges im Tal. Dann kam der Frühling, und die erstarrten Wasserfälle in den Schluchten begannen wieder zu rauschen. Lawinen donnerten die ganze Nacht durch in meinen Schlaf hinein, wenn man erwachte, bedeckte blauer und gelber Krokus die Wiesen bis hinauf, wo der nackte Fels begann. So schön dies war, traf es mich doch wie ein scharfer Schmerz. Ich war Teil einer Winterwelt geworden, einer einförmigen Weiße, in der alles zur Ruhe kam, was sonst einander widersprach, über der der Himmel tiefer blaute und die Stille unterbrochen, aber nicht gestört wurde von jenen nahen und fernen Stimmen, die hallend und deutlich das Tal hinab wanderten.