Читать книгу Abendlicht - Stephan Hermlin - Страница 8

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Meine Verwandten interessierten mich nicht, ich liebte keinen von ihnen mit Ausnahme meines Onkels Herbert, der der jüngere Bruder meines Vaters war. Onkel Herbert kam selten, er tauchte nur zwei-, dreimal im Jahr auf, immer in Gesellschaft eines mächtigen Neufundländers, der schwarz und lautlos in der Diele Platz nahm. Mein Bruder und ich erhoben ein Freudengeschrei beim Erscheinen des Onkels, denn er brachte uns jedesmal schöne Bücher mit oder ein mechanisches Spielzeug, wie wir es noch nicht gesehen hatten. Wir lachten über seinen schwarzen, breitkrempigen Hut; der Onkel lächelte uns vergnügt zu. Manchmal erschien mit ihm der Maler S., dessen verführerische, in grauen und graublauen Tönen gemalte Bilder mein Vater schätzte. S. blieb dann ebenfalls für einige Tage. Das Haus war groß und wir hatten oft Gäste.

Mein Vater war kein Mann lauter Freudenbekundungen, aber die Freude leuchtete förmlich aus ihm, wenn Onkel Herbert zu uns kam. Der Onkel sah meinem Vater ähnlich, er war mittelgroß wie dieser und hatte die gleichen blauen Augen, nur war er breiter, er neigte ein wenig zur Fülle, und in seinem Lächeln lag etwas von Schwäche. Wenn er kam, schien meine Mutter, die selten zu Hause war, noch beschäftigter als sonst zu sein – von ihren Lippen drangen die magischen Namen des Modisten Gerson, des Juweliers Markus, des Friseurs Karsten. Sobald Onkel Herbert sich ein wenig erfrischt hatte, schloß sich mein Vater mit ihm für eine Weile in seinem Arbeitszimmer ein, aus dem kein Laut nach draußen drang. Wenn beide wieder zum Vorschein kamen, setzten sie sich an den Flügel und spielten die f-moll-Fantasie von Schubert und andere vierhändige Stücke. Ich hatte den Eindruck, daß sie beim Musizieren oder vielmehr durch die Musik ihre Unterhaltung fortsetzten. Onkel Herbert spielte ebensogut wie mein Vater. Wenn mein Vater nicht zu Hause war, spielte er allein. Stets brachte er aus seinem Gepäck einen dicken Stoß Noten zum Vorschein, er spielte Komponisten, die sonst bei uns nicht zu hören waren, ziemlich neue Komponisten wie Skrjabin, Ravel und einen Engländer namens Cyrill Scott. Ich blickte, während er spielte, auf seine Hände, deren Finger vom Rauchen gelblich verfärbt waren – beide Brüder waren starke Raucher, sie rauchten sogar oft am Klavier, aber Onkel Herberts Zigaretten waren ganz verschieden von denen meines Vaters, sie hatten einen merkwürdigen süßen Geruch. Manchmal trat der Onkel leise ins Musikzimmer, wenn ich beim Üben war, er hörte mir eine Weile zu und lobte dann meine Fortschritte. Ich merkte, daß er auch vom Violinspiel manches verstand; er korrigierte meine Haltung des Kinns und der linken Hand, um mein Vibrato zu verbessern.

Nie hörte ich von ihm ein lautes Wort, nie sah ich in seinen Zügen etwas, das nicht Güte und Liebe war. Einmal stellte ich ihm eine Frage, deren kaum wahrnehmbare Wirkung mich beunruhigte. Nachdem er so oft allein mit S. zu uns gekommen war, fragte ich ihn, ob er denn ganz allein, ob er nicht verheiratet sei. Onkel Herbert verneinte mit seinem vertrauten, jetzt aber ein wenig verzerrten Lächeln. Er strich mir übers Haar und setzte sich ans Klavier.

Mir fiel auf, daß die Dienstboten Onkel Herbert mit etwas übertriebener Höflichkeit behandelten, als machten sie sich insgeheim über ihn lustig. Er schien es nicht zu bemerken; er dankte leise für eine Handreichung, eine Auskunft; ich sah, daß er dabei die Augen niederschlug.

Einmal sagte ich zu meiner Erzieherin, ich hätte Onkel Herbert ebenso lieb wie meinen Vater. Sie preßte die Lippen zusammen und blickte hart auf die Wand. »Dein Onkel ist lieb und gut«, sagte sie nach einer Weile kalt, »aber er taugt nicht fürs Leben.« Ich wollte wissen, was das heißen sollte. »Er kann ja nur Klavier spielen und fremdes Geld ausgeben. Der gnä’ Herr« – sie sprach von meinem Vater und meiner Mutter nie anders als von dem »gnä’ Herrn« und der »gnä’ Frau« – »der gnä’ Herr hält ihn ja aus, er zahlt ja alles für ihn, es ist der reine Jammer, dein Onkel ist ja wie ein Kind … Mit dem gnä’ Herrn ist er nicht zu vergleichen. Und überhaupt …« Mit diesem rätselhaften »und überhaupt« schloß sie ihre Belehrung, die auf mich geringen Eindruck machte. Mir war, als hätte ich Onkel Herbert jetzt noch lieber, weil er ihren Worten nach einem Kind glich.

Etwa um diese Zeit wurde ich ungewollt Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen meinen Eltern, der ich keine Aufmerksamkeit geschenkt haben würde, wenn sie sich nicht, wie ich sofort erriet, um Onkel Herbert gedreht hätte. Ich saß in der Ecke eines Zimmers auf dem Boden und hatte ein Buch vor mir, als meine Eltern das Nebenzimmer betraten. Sie konnten mich nicht sehen. Meine Mutter sprach heftig auf meinen Vater ein, der sich in einen Sessel geworfen hatte. »Du solltest wenigstens einmal Rücksicht nehmen«, hörte ich meine Mutter sagen, »du weißt sehr wohl, daß diese Sorte von Menschen unzuverlässig ist.« Wie es mitunter ihre etwas törichte Art war, wiederholte sie den Satz auf englisch: »People like him are rather unreliable, you know …« »Bitte, schweig«, hörte ich meinen Vater leise sagen, »schweig jetzt, bitte …« Ich verließ das Zimmer auf Zehenspitzen, ohne daß sie mich bemerkten.

Ich muß neun Jahre alt gewesen sein, und Onkel Herbert hatte uns schon seit vielen Monaten nicht mehr besucht, als während einer Unterrichtsstunde im Hause eine Unruhe entstand. Ich hörte Hin- und Herlaufen, eine Tür schlug, unterdrücktes Reden und Klagen wurde hörbar. Ich lief aus dem Zimmer, verfolgt von den Ordnungsrufen und Protesten meines Hauslehrers. Auf dem Gang begegnete mir meine Erzieherin, die rotgeweinte Augen hatte; sie weinte bei jeder sich bietenden Gelegenheit. »Dein Onkel Herbert ist tot«, flüsterte sie, »welch ein Unglück …« Ich schlich mich zum Arbeitszimmer meines Vaters und öffnete leise die Tür. Mein Vater stand mit weißem Gesicht mitten im Zimmer und sah mit blindem Blick in meine Richtung.

Onkel Herbert hatte sich erschossen, irgendwo in einem anderen Land. Mein Vater fuhr zu seinem Begräbnis. Man sprach nicht mehr von ihm, man vergaß ihn allmählich, auch ich. Nur manchmal, später, in der Dämmerung, wenn ich allein im leeren Musikzimmer saß, drang noch die fremde Musik zu mir, die unter seinen unsichtbaren Händen entstanden war.

Abendlicht

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