Читать книгу Europas habsburgisches Jahrhundert - Stephan Karl Sander-Faes - Страница 10
1. Fakt und Fiktion: „A.E.I.O.U.“ und „Felix Austria“
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Der Zeitraum und die Themen der Darstellung orientieren sich vornehmlich an dem Wahlspruch Friedrichs III. und der im weiteren Verlauf der Frühneuzeit zunehmend mythisch verklärten habsburgischen Heiratspolitik. Beide Aspekte sind sowohl für die jeweils zeitgenössischen Ambitionen, Wahrnehmungen und Zuschreibungen als auch für das Verständnis des thematischen Umfangs der folgenden Ausführungen hilfreich: Von Ersterem existieren rund 300 verschiedene Versionen, aber keine eindeutige, gleichsam „offizielle“ Version. Wiewohl die vielen daraus abgeleiteten Ansprüche lange Zeit später entstanden sind, verfügten diese doch über ein gewisses Maß an – ex post – Realitätsbezug, fußten diese auf der Kaiserkrönung Friedrichs III., die im März 1452 – und somit mehr als ein Jahrzehnt nach dessen Königswahl – in Rom erfolgte. Mit diesem denkwürdigen Ereignis sind zwei Strukturmerkmale der Frühen Neuzeit verbunden: Einerseits waren Friedrich III. und sein Urenkel Karl V. (der allerdings nicht in Rom, sondern in Bologna gekrönt wurde, aber ebenfalls mehr als ein Jahrzehnt nach seiner Königswahl) der erste beziehungsweise der letzte durch einen Papst gekrönte Kaiser aus dem Haus Österreich. Andererseits markiert der Romzug Friedrichs III. den Anbeginn der Monopolisierung der Kaiserwürde durch die Habsburger, die – von den Jahren 1740 bis 1745 abgesehen – bis zum Untergang des Alten Reiches in den Wirren der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege (1803/06) andauerte.
Stichwort
A.E.I.O.U.
Von dem Motto Friedrichs III., oft mit „Austria est imperare orbi universo“ (dt. „Alles Erdreich ist Österreich untertan“) beschrieben, existieren rund 300 verschiedene Versionen, die auf vielen Bauten, Objekten und in Büchern vorzufinden sind und die Alphons Lhotsky gesammelt und 1952 veröffentlicht hat. Erstmals nachweisbar ist der Wahlspruch im Jahr 1437, als Friedrich ihn an der Grazer Burg anbringen ließ, viele Jahre vor der kaum absehbaren Königs- und Kaiserwahl. Der Anspruch auf Weltgeltung rührt jedoch aus dem 17. Jahrhundert, als unter Kaiser Leopold I. (1640–1705) das verloren geglaubte Notizbuch Friedrichs III. auftauchte und dessen Wahlspruch sogleich in den Dienst des dynastischen Sendungs- und Geltungsstrebens gestellt wurde. Eine klare Stellungnahme zu den Inhalten und der Bedeutung der „Devise“ liegt aber weder aus dem 15. noch aus dem 17. Jahrhundert vor und die Forschung ist sich heute weitgehend einig, dass diese auch niemals existierte.
Raum und Zeit
Diese Aspekte und der Wahlspruch Friedrichs III. dienen gleichsam dem Abstecken des Rahmens und der Illustration der dynastischen Ambitionen innerhalb dieses kurzen habsburgischen Jahrhunderts, das das letzte Drittel des 15. und die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts umfasst. Für das bessere Verständnis des Zeitraums dienen die folgenden zwei Vorbemerkungen: So steht in dem Großteil der dargestellten Ereignisse und Entwicklungen „Europa“ im Mittelpunkt, womit der naturräumlich und kulturell definierte Raum am westlichen Ende der eurasischen Landmasse zu verstehen ist. Dessen mehrfache wie wandernden Grenzen bieten die maßgeblichen Anhaltspunkte, ohne die die zunehmende Expansion der europäischen Mächte – sowohl in die muslimisch geprägten Teile des Mittelmeeres als auch in immer weitere außereuropäische Zusammenhänge – nur wenig sinnvoll verortet werden kann.
Der zeitliche Zuschnitt der Darstellung, der sich im engeren Sinne von der 1477 erfolgten Hochzeit Maximilians I. mit Maria von Burgund (1457–1482) bis zu der Abdankung Karls V. (1556) erstreckt, wurde vorrangig aus zwei Beweggründen gewählt: Einerseits, um einer traditionellen Periodisierung nach Ereignissen, Personen beziehungsweise Jahrhunderten zu entkommen; andererseits auch, um der zeitgenössischen Wahrnehmung einer drohenden habsburgischen Universalmonarchie wenigstens in Ansätzen gerecht zu werden. Insofern spiegeln der Wahlspruch Friedrichs III. und der Rückzug Karls V. nicht nur die Eckpunkte der folgenden Ausführungen wider, sondern stehen auch für die Widersprüchlichkeit der dynastischen Ambitionen, die für die Umsetzung verfügbaren Mittel und letztlich für deren Scheitern.
Abb. 1 A.E.I.O.U. (1453): Wahlspruch Kaiser Friedrichs III. an der Grazer Burg
Glückliches Österreich?
Heiratspolitik
Die weiterhin relativ positiv konnotierte sprichwörtliche habsburgische Heiratspolitik dient gleichsam als thematische Klammer. Deren überaus eindeutiger und ausgesprochen selektiver Interpretation durch die österreichische Geschichtsforschung vor dem Ersten Weltkrieg sowie der „Habsburger Mythos“ in der österreichischen Literatur nach 1918 (Claudio Magris) seien an dieser Stelle die prinzipiell reaktive Natur (früh)neuzeitlicher Politik und Diplomatie sowie die Rolle von Kontingenz entgegengehalten. Hinzu kommt, dass die habsburgischen Herrscher weder friedlicher als die übrigen gekrönten Häupter Europas waren noch die beiden durch Maximilian I. verhandelten zwei Doppelhochzeiten mit den Trastámara beziehungsweise Jagiellonen gar als einzigartig bezeichnet werden können. Angesichts der zeitgenössisch üblichen Mittel territorialer Expansion durch Eheschließung, die oftmals in Erb- und Thronfolgestreitigkeiten mündete, ist hingegen der relativ beispiellosen Geltendmachung der erheirateten Ansprüche und deren – ausgesprochen kurzer – Vereinigung in der Person Karls V. gesteigerte Bedeutung zuzumessen. Etwas grundsätzlich Neues oder Unbekanntes waren diese mehrfach dynastieübergreifenden Ansprüche und Verflechtungen aber nicht, wie dies bereits ein knapper Blick auf die habsburgische Familiengeschichte des ausgehenden Mittelalters verdeutlicht.
Stichwort
Felix Austria
„Bella gerant alii, tu felix Austria nube“ (dt.: „Kriege führen mögen andere, du, glückliches Österreich, heirate“) findet sich gemeinhin zur Untermauerung eines Teils des Mythos von der friedlichen Entstehung der Habsburgermonarchie angeführt. Im Angesicht von dessen langer wie wirkmächtiger Tradition und Instrumentalisierung im „langen“ 19. Jahrhundert und dessen Fortleben als „Habsburger Mythos in der österreichischen Literatur“ (Claudio Magris) muss jedoch auch immerzu dessen Kehrseite bedacht werden: Denn die damit verbundenen – anachronistischen – Zuschreibungen einer stark friedliebenden Dynastie und deren „weicher“ Expansion entstanden im Kontext der Historisierung des „deutschen Dualismus“, der Gegnerschaft Preußens um die Anführerschaft im Alten Reich beziehungsweise um die Einigung in eben jenem 19. Jahrhundert. Die Monarchie der Hohenzollern wiederum spiegelt die dem Haus Österreich zugemessenen Adjektive: „Österreich“ sei „friedlich“, „ineffizient“ und im Verlauf der Neuzeit vermehrt „anachronistisch“, Preußen hingegen „aggressiv, militaristisch, effizient, rücksichtslos, bürokratisch und zentralisiert“ – kurzum: die „Keimzelle des [1871 gegründeten zweiten] Kaiserreichs“, wie es Peter Wilson kürzlich prägnant wie kritisch auf den Punkt brachte. Mit den vielfach komplizierteren Realitäten beider Monarchien haben diese Einschätzungen jedoch wenig gemein.
Mittelalterliche Vorboten
Bald nach dem Tod Ottokars II. Přemysl (um 1232–1278) verheiratete dessen Bezwinger, Rudolf I. von Habsburg, zwei seiner Kinder mit denen des verstorbenen Königs von Böhmen. Nach dem Aussterben der Přemysliden (1306) bot sich eine erste Gelegenheit, die böhmischen und österreichischen Länder zu vereinen, der aber durch den bald darauf erfolgenden Tod des neuen Königs von Böhmen, Rudolf VI. (um 1282–1307), Enkel Rudolfs I. und ab 1306 Träger der Wenzelskrone), kein Erfolg beschieden war. Von ähnlich geringer Dauer war auch der durch die mehrfachen Heiratsverbindungen mit den Luxemburgern resultierende Erwerb der Kronen Böhmens und Ungarns durch die beiden Habsburger Albrecht II. (1397–1439) und dessen nachgeborenem Sohn Ladislaus (1440–1457). Durch die Verbindung von Albrechts Tochter Elisabeth (1409–1442) mit dem polnischen König Kasimir IV. (1427–1492) bot sich dann allerdings den Jagiellonen die Gelegenheit zu der Vereinigung der Wenzels- und Stephanskronen, die durch Vladislav II. (1456–1516), in Böhmen ab 1471 und in Ungarn ab 1490 König, realisiert wurde. Und dieser wiederum war für die Wiener Doppelhochzeit (1515/16) und die nach der Schlacht bei Mohács (1526) letzten Endes erfolgreiche Nachfolge Ferdinands I. von Habsburg in beiden Königreichen (mit)verantwortlich.