Читать книгу Es ist noch kein Meister in den Himmel gefallen - Stephan Schwarz - Страница 16
Der Schock der Stille
ОглавлениеBuddhisten denken in größeren Zeiträumen, und jede Generation hat ihre eigenen Themen. Viele Sorgen unserer Eltern und Großeltern unterscheiden sich von unseren. Heute kräht kein Hahn mehr danach, wenn die Haare junger Männer ihre Ohren bedecken – einst Anlass zu schlimmsten Befürchtungen. Fast noch schlimmer: Wenn Frauen mit fünfundzwanzig noch nicht unter der Haube waren. Gleich geblieben ist die Tatsache, dass wir in einer Illusion leben, Samsara wird sie im Buddhismus genannt. In unserer verrückten paradoxen Welt sind viele Menschen innerlich verwirrt, orientierungslos. Alles ist zu viel, zu schnell, zu laut – und nach außen verlagert. Innen drin wird es dunkel und einsam, man kennt sich nicht mehr aus und glaubt, mit immer neuen Dingen, Navigationsgeräten, Klarheit zu schaffen. Alle Energie ist nach außen gerichtet und an den Likes wird abgelesen, wer man ist, ob man überhaupt noch da ist. Bitte alles, bloß keine Stille. Vor einiger Zeit sorgte eine Studie für Aufsehen, die deutlich zeigt, was geschehen kann, wenn wir es mit uns selbst nicht mehr aushalten. Es gibt tatsächlich Menschen, denen Elektroschocks lieber sind, als nichts zu tun. So kann man sich fragen, wie realistisch die Sehnsucht nach »endlich mal Zeit für mich« ist.
Meditieren, Tagträumen oder einfach mit seinen Gedanken allein sein fällt vielen Menschen immer schwerer. Forscher um Timothy Wilson von der University of Virginia zeigten in einer Reihe von Experimenten, dass zahlreiche Personen das Alleinsein mit sich als unangenehm empfinden.3 Vor allem Männer verpassten sich lieber Elektroschocks, als ohne weitere Beschäftigung ihren Gedanken nachzuhängen, berichtet das Magazin Science. Collegestudenten sollten sechs bis fünfzehn Minuten in einem schmucklosen Raum ihren Gedanken nachhängen. Die meisten fanden es schwierig, sich zu konzentrieren, und die Hälfte fand diese Zeitspanne unangenehm. In einem weiteren Versuch gaben die Wissenschaftler einigen Versuchspersonen die Möglichkeit, sich einen leichten Elektroschock zu verabreichen, wenn ihnen das Nichtstun zu viel wurde. Während fünfzehn Minuten »Entspannung« entschieden sich zwölf von achtzehn Männern und sechs von vierundzwanzig Frauen für die Spannung: Elektroschocks, obwohl die Probanden die Elektroschocks während der Demonstration als schmerzhaft empfanden. Ein Ergebnis, das schockt? Oder vielmehr eine logische Konsequenz, wenn man überhaupt nicht mehr daran gewöhnt ist, mit sich allein zu sein ohne Ablenkung? Aber das wird sich jetzt ändern!
Willkommen im dritten Lebensdrittel, willkommen in der Kachelofenwärme der Seele, auch ein Sofa gibt es dort, daheim in uns selbst, es ist still, aber nicht isoliert, es ist frei, aber nicht verloren, es ist klar, aber nicht einsam. Wir atmen ein und wir atmen aus und alles ist gut, verbunden mit allem und allen. Die tiefe Erkenntnis, dass in einer auf Teilnahme beruhenden Wirklichkeit des Lebens alles mit allem in Beziehung steht, zeigt sich auf individueller Ebene im Mitgefühl füreinander und auf kollektiver Ebene in universaler Verantwortlichkeit. So formulierte es auch der Dalai Lama bei seiner Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises 1998: »Die Probleme, mit denen wir heutzutage konfrontiert sind – Gewalt, Krieg, Umweltzerstörung, Armut oder Hunger –, sind von uns Menschen selbst geschaffen. Daher können sie auch durch menschliche Anstrengung gelöst werden, vorausgesetzt, wir verstehen, dass wir Schwestern und Brüder sind, und entwickeln ein Gefühl für diese unsere Verwandtschaft miteinander. Was uns fehlt, ist das Gefühl der Verantwortlichkeit füreinander, das wir auf den ganzen Planeten ausdehnen müssen, der uns allen gemeinsam anvertraut wurde.«
Mit den Buddhas leben, das heißt für mich daheim sein – und dieses Gefühl der Freiheit und Geborgenheit, der Verbundenheit und Leichtigkeit wünsche ich allen Menschen: Ein Leben in Buddhas reinem Land oder im Reich Gottes, wie auch immer man es nennen mag. Eine friedvolle, sich selbst entwickelnde Welt … was hindert uns daran, uns auf den Weg zu machen? Jetzt, in unserem letzten Lebensdrittel ist die rechte Zeit dafür. Und das hat auch Auswirkungen auf unsere unmittelbare Zukunft, wie die Wissenschaft der Epigenetik erforscht: Dass wir mit unserem Geist, unserer Haltung im Leben unsere Gene beeinflussen, die wiederum unsere Körperzellen gestalten. Wir geben vereinfacht ausgedrückt nicht nur die Farbe unserer Augen und Form unserer Ohren weiter, sondern auch die Farbe unserer Lebenseinstellung, hell oder dunkel.
Es gibt viele faszinierende Geschichten über die Verbindung zwischen Geist und Genen. Eine hat mich besonders beeindruckt, weil sie trotz ihrer Tragik zeigt, dass wir nicht altern müssten, wenn wir nicht wollten. Wobei ich vorausschicken möchte, dass ich den »Preis« einer körperlichen Alterung sehr gerne bezahle für die Erfahrungen und Reifung des Geistes. Der amerikanische Autor Orison Swett Marden berichtet in seinem Buch »Why grow old« von einer jungen Frau, die Anfang des letzten Jahrhunderts in der Psychiatrie landete, nachdem sie von ihrem Geliebten verlassen wurde. Er hatte ihr im wahrsten Sinne des Wortes das Herz gebrochen – heutzutage ist das Broken-Heart-Syndrom eine anerkannte Diagnose. Die junge Patientin floh aus der Wirklichkeit in eine Fantasiewelt, in der sie täglich mit der Rückkehr ihres Geliebten rechnete. Geistig umnachtet, aber in der Liebe rosig blühend, wartete sie fünfzig Jahre lang auf ihren Prinzen – und im Alter von siebzig Jahren wurde sie noch immer auf zwanzig Jahre geschätzt – ihr Körper folgte ihrem Geist.
Genauso faszinierend finde ich die unterschiedlichen Krankheitsbilder bei gespaltenen Persönlichkeiten, die sich im selben Körper abzeichnen. So kann eine der multiplen Persönlichkeiten an Diabetes leiden, die andere nicht – je nachdem, welche Persönlichkeit sich gerade Blut abnehmen lässt! Oder eine ist blind, die andere sehend.4
Solche Beispiele zeigen mir immer wieder, welche Kraft in unserem Geist steckt. Nutzen wir diese Kraft für oder gegen uns? Wer oder was hindert uns daran, sie für uns zu nutzen? Das nehmen wir im nächsten Kapitel unter die Lupe.
1.Dalai Lama, Meine spirituelle Autobiographie, Diogenes, Seite 92
2.http://de.dalailama.com/the-dalai-lama/biography-and-daily-life/reincarnation
3.www.focus.de/wissen/mensch/psychologie/sperrfrist-20-uhr-viele-maenner-koennen-nicht-mal-15-minuten-allein-sein_id_3964296.html
4.https://www.welt.de/wissenschaft/article1989274/Gleichzeitig-blind-und-sehend.html