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Sterben to go

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Ich möchte mir den Höhepunkt meines Lebens, den Tod, nicht entgehen lassen! Ich möchte ihn so bewusst wie möglich erleben, idealerweise als Happy End. Ein gelungener Abgang will gelernt sein, das kennt man von der Bühne. Und man kann ihn auch lernen, das ist einer der Vorteile der buddhistischen Lehre. Andere Religionen lehren eher das Leben als das Sterben, und man sagt, gläubige Menschen würden leichter sterben. Der Glaube helfe dabei, dass »es« nicht so schlimm wird. Wenn es dem Ende zugeht, werden die Gläubigen manchmal regelrecht beneidet. Aber so mancher gläubige Mensch erfährt in seinem letzten Stündchen, dass er doch nicht so sehr im Glauben verankert ist, wie er hoffte, sondern eher in seiner Angst. Kann man noch irgendwo Glauben to go kriegen, quasi last minute, damit es dann nicht so schlimm wird?

Ich glaube gar nicht, dass es schlimm wird. Ich glaube sogar noch etwas viel Schlimmeres, also für meine fromme Oma, mit der ich als Kind oft zur heiligen Messe ging, wäre das schlimm gewesen. Ich glaube heute, dass ich Älterwerden und Sterben üben kann, und es von Mal zu Mal immer leichter fällt – und ich meine damit nicht die tausend Tode, die man so oft im Leben stirbt. Sondern den einen großen, den letzten.

Ich bin christlich erzogen worden und habe unter anderem Theologie studiert. Ostern absolvierte ich mit Oma einen Kirchenmarathon. In meiner Erinnerung knie ich wochenlang auf harten Holzbänken. Auch in unserer Küche hing ein gekreuzigter Mann über dem Esstisch. Ich schaute ihn oft an, forschte in seinen Zügen und dachte mir, dass das Kreuzigen vermutlich sehr wehgetan hat. Wie viele andere Kinder malte ich mir die Nägel durch die Hände und Füße aus. Nein, mit Sterben wollte ich nichts zu tun haben.

Heute ist das anders. Etwas in mir ist neugierig auf den Tod, sehr, sehr neugierig. Während viele Menschen in unserem Kulturkreis hoffen, dass es nach dem Tod weitergeht, bin ich überzeugt davon. Es ist ein bisschen wie im Kino. Kaum ist ein Film zu Ende, fängt der nächste an. Für weltweit zirka 360 Millionen Buddhisten und zirka eine Milliarde Hindus ist diese Vorstellung normal.

Für Christen ist das Leben mit dem Tod auch nicht beendet, sie gehen heim. Wenn nichts mehr übrig wäre, wer soll dann heimgehen und wohin? Muslime freuen sich auf Allahs wunderbares Land. Allein die Ungläubigen, in meinem Religionsunterricht hießen sie Heiden, schauen in die Röhre. Wer nichts glaubt, sitzt auch keinem zur Rechten. Oder doch? Kann man wiedergeboren werden, ohne es zu wollen? Kann man sich irgendwo beschweren, und was sagt Petrus dazu oder hat er keine Zeit, weil er so extrem mit dem Wetter beschäftigt ist?

Sie merken schon, liebe Leserin, lieber Leser … das hier ist kein Begräbnis oder vielleicht doch. Ich würde mit diesem Buch gerne einige »Glaubenssätze« beerdigen, die uns das Leben, schwer machen. Trauen Sie sich, mir eine Weile zu folgen in das eine oder andere Gedanken- und Gefühlsexperiment? Wagen Sie sich an das Abenteuer, dass manches anders sein könnte, als Sie glauben, auch wenn Sie eigentlich nichts glauben oder noch nie konkret darüber nachgedacht haben?

… Stellen Sie sich bitte einmal vor, es wäre nicht aus, wenn alles aus ist. Also am Ende. Stellen Sie sich vor, es würde weitergehen, und wie genau, das könnten Sie jetzt schon bestimmen. Wo soll Ihre neue Reise beginnen? Wer soll Sie begleiten? Welche Erfahrungen würden Sie gerne machen? Welche lieber meiden? Wovon hätten Sie gern mehr und wovon weniger? Angenommen, es wäre möglich, die eigene Existenz in der Zukunft zu planen – veränderte das nicht alles? Ja, selbst die Idee, nie mehr Sex zu haben, verlöre ihren Schrecken … neues Spiel, neues Glück … und auch das alte Glück trüge ein neues Gewand. Denn wenn man davon ausgeht, dass man wiedergeboren wird, kann man seine irdische Existenz relativ gelassen betrachten. Sollte es nicht optimal laufen, wetzt man diese Scharte bei der nächsten Reinkarnation aus: Was du heute nicht kannst besorgen, das verschiebe getrost auf morgen. Wenn man allerdings erwartet, dass dieses Leben die einzige Chance ist, dass es nur dieses eine Leben gibt, dann muss die Tube Leben ausgequetscht werden bis zum letzten Tropfen. Mitnehmen, was geht. Auch wenn man sich insgeheim wünscht, dass das nicht alles gewesen sein soll, sicher ist es nicht. Deshalb muss man so schnell wie möglich so viel wie möglich rausholen. Abenteuer, Anerkennung, Besitz, Erfolg, Freude, Geld, Lachen, Liebe, Macht, Luxus, Menschen, Prestige, Ruhm – je nachdem, was einem erstrebenswert erscheint. Was für ein Stress – und gleichzeitig ein Ablenkungsmanöver. Sobald wir im dritten Lebensdrittel angekommen sind, offenbart diese Taktik ihre Tücke: Die Angst vor dem Tod, vor dem wir nicht weglaufen können. So viele Bollwerke haben wir gegen den Tod errichtet, doch wer vor ihm zu fliehen versucht, läuft vor dem Leben weg. Der Hase ist immer schon da, gegen den Tod gewinnt keiner – mit ihm jeder.

Auch im Kampf gegen das Alter sind wir zum Scheitern verurteilt. Gewiss, man kann Falten glätten und Fett absaugen, Fleisch formen … doch das Verfallsdatum ändert das nicht. Egal wie verzweifelt wir uns dagegen sträuben und gegen das Älterwerden aufbäumen und gleichzeitig versichern, dass es uns überhaupt nichts ausmacht, nein du, ich habe überhaupt kein Problem mit dem Alter, während wir zuweilen geradezu besessen versuchen, den Körper jung zu halten. Diese Anstrengungen kosten ziemlich viel Energie, von der man mit zunehmendem Alter naturgemäß weniger zur Verfügung hat. Und sie sind vollkommen sinnlos, denn gelöst wird das »Problem Alter« nicht mit seiner Leugnung, sondern nur mit seiner Akzeptanz, wie auch der letzte große Abschied. Mein Leben ist endlich. So ist es eben. Ich werde älter. Und ist es nicht wunderbar, wie weit ich es schon geschafft habe … Aber was kommt noch … dann … wenn … kommt überhaupt noch was? Ist da wer oder was? Hal-lo!

Je nach Tagesform kann das sehr bedrohlich wirken, besonders in der Nachtform, wenn man aufwacht und einen komische Gedanken überfallen. Wie lang habe ich noch und wie wird das Ende sein? Man hat Angst, eine Heidenangst – und behält sie für sich, wie auch sollte man darüber sprechen, es scheint keine Worte dafür zu geben, wenn die Welt so groß ist und man selbst so klein und … allein. So, wie man auf die Welt kommt, geht man.

Sehen wir der Tatsache ins Auge: Wir sterben. Ich sterbe, Sie sterben, das ist so. Nehmen Sie sich Zeit, diese unglaubliche Wahrheit in sich aufzunehmen. Wie geht es Ihnen? Schlägt Ihr Herz schneller, noch schlägt es. Wird Ihre Brust eng? Sind Sie vielleicht ein kleines bisschen neugierig? Sterben, das ist ja Neuland. Ist es nicht kurios, dass wir darauf nicht vorbereitet werden? Menschen können lernen, Mitarbeiter zu führen, Säuglinge zu wickeln, Atome zu spalten, Waschmaschinen zu reparieren. Aber sterben … nein, tut mir leid, dafür haben wir keine Gebrauchsanleitung. Es gibt keinen Volkshochschulkurs, kein Zertifikat, keinen Meisterbrief, keinen Sterbeführerschein. Und das in Deutschland, wo man für fast alles einen Befähigungsnachweis und einen Sturzhelm braucht. Anstatt sich gezielt auf den Höhepunkt des Lebens vorzubereiten, wird das Alter oft in Wiederholungen alltäglicher Verrichtungen oder auch Langeweile ausgesessen, denn die tollen Erlebnisse haben sich im Lauf der Zeit abgenutzt. Was wir mit zwanzig, dreißig herrlich finden, verliert an Glanz; es gibt immer weniger Premieren, und das schmerzt. Damals war das doch so schön … und manchmal glaubt man, etwas, das gar keinen Spaß macht, immer wieder versuchen zu müssen, damit es noch mal so schön wird wie damals. Ein Trugschluss – in jedem Alter gelten andere Spielregeln. Über die im letzten Lebensdrittel wissen wir wenig, es hat den Anschein als wäre das Spiel aus. Wir sind aber trotzdem noch da. Wohin mit uns? Vor die Glotze, auf die Harley, zum Schönheitschirurgen, ins Yoga, schon mal anmelden fürs betreute Wohnen? Zehennägel schneiden zum Beispiel soll ja zur Herausforderung werden im Alter. Entweder man sieht sie nicht oder sie sind eingewachsen oder man kann sich nicht mehr bücken oder man hat keine Kraft, die Zange zu betätigen. Das sind alles keine schönen Aussichten. Zum Glück gibt es noch eine andere Perspektive, die ich in diesem Buch beleuchten werde. Denn die eben genannte führt ja nicht zum Ziel, wenn wir uns gerade während unserer letzten Jahre um das kümmern möchten, was auf der Strecke geblieben ist: unsere spirituelle Entwicklung.

Im Unterschied zu vergänglichen Befriedigungen ist tiefes Glück spiritueller Natur. Falsch wäre es zu glauben, es bedeute, sich auf Kosten anderer das Beste zu sichern. Wohin wir auch blicken – fehlendes Mitgefühl führt ins Leid. Materieller Fortschritt und die Verbesserung des Lebensstandards dienen zwar unserem Komfort und auch unserer Gesundheit – doch niemals der Transformation des Geistes und einem dauerhaften Frieden mit uns selbst, mit der Welt.

Viele Menschen leiden an Depressionen, wenn sie, aus ihrem Arbeitsalltag »gerissen«, das Gefühl haben, nicht mehr gebraucht zu werden. Wenn sie mit diversen Zipperlein kämpfen, nicht mehr so recht wissen, was sie eigentlich tun sollen, die Tage so lang und grau sind, und sich die Zeichen mehren, dass man allmählich in die Zielgerade einläuft. Und man ist sehr allein, mehr als allein: einsam. Einsamkeit ist die Abwesenheit der Voraussetzungen für Glück und darüber hinaus in der westlichen Welt die Todesursache Nummer eins. Sie ist der Ausgangspunkt vieler schwerer Erkrankungen und erhöht das Sterblichkeitsrisiko deutlicher als Übergewicht, Drogenabhängigkeit, Alkohol, Nikotin und mangelnde Bewegung. Einsamkeit ist zwar keine Krankheit, doch in ihrer Folge entstehen viele mit häufig tödlichem Ausgang. Darüber hinaus ist Einsamkeit die Voraussetzung für die Entwicklung fast aller psychischen Störungen wie Depression, Angsterkrankungen bis hin zur Schizophrenie, und sie verstärkt die Alzheimer-Demenz. Für uns Menschen als soziale Wesen mit einem sozialen Gehirn ist Einsamkeit der größte mögliche Stressfaktor. Sie wird im Gehirn wahrgenommen wie körperlicher Schmerz. Erst ein Land hat darauf adäquat reagiert: Seit 2018 gibt es in England ein Ministerium für Einsamkeit. Was vielen wie ein Scherz vorkommen mochte, ist leider bittere Realität. Auch zwischen 10 und 15 Prozent der Deutschen leiden zeitweise unter Einsamkeit. Bei den über 85-Jährigen sind es 20 Prozent. In einer Stellungnahme der Bundesregierung aus dem Jahr 2019 zu »Einsamkeit und deren Auswirkung auf die öffentliche Gesundheit« zeigt sich außerdem, dass Einsamkeit in Deutschland zunimmt. Es sieht so aus, als entwickelten sich die geburtenstarken Jahrgänge im Alter zu einer sehr einsamen Generation – der Preis für ihre individualistische Lebensgestaltung? Alt und einsam ist bei uns zu einem Synonym geworden. In anderen Kulturen ist Einsamkeit kein Thema, gerade die dritte gilt als bedeutsame Lebensphase, vielleicht als die wichtigste. Erstaunlich, dass wir sie so oft regelrecht verschlafen.

In Indien sorgen die Kinder traditionell für ihre alternden Eltern, damit diese sich spirituell auf den Tod vorbereiten können. Das Sterben wird als Investition in das nächste Leben gesehen. So wie wir uns mehrheitlich um unser Rentenkonto kümmern, werfen spirituell orientierte Menschen einen Blick auf ihr Seelenkonto. Sie möchten – vereinfacht ausgedrückt – den Übertritt im Haben, nicht im Soll vollziehen, um dann in einem neuen Leben ohne Schulden zu beginnen. Dieses Streben führt automatisch aus der Einsamkeit heraus, weil es die Vorbereitung auf den Tod mit dem Leben verbindet – wie könnten wir da einsam sein! Das bedeutet auch, dass Buddhisten ihre Umwelt, die Erde, gut behandeln, denn nach ihnen kommt nicht die Sintflut, sondern ein neues Leben. Es geht also darum, nicht passiv auf den Tod zu warten oder sich lediglich darum zu kümmern, noch recht viel zu erleben, bevor alles aus ist, sondern den Tod bewusst zu gestalten, um uns in unserer besten Version von uns selbst zu verabschieden … und neu zu starten. Und so wie wir uns nachts betten – angenommen mit zwanzig Kilo Übergewicht – erwachen wir am anderen Morgen, auch wenn ein Diätratgeber verspricht: Schlank werden im Schlaf. Wenn wir mit Rachegedanken einschlafen, werden wir vermutlich nicht befriedet aufwachen. Das wissen wir. Aber wir ziehen den Kreis zu eng, wenn wir diese Gesetzmäßigkeiten auf eine einzige Existenz beschränken. Der Dalai Lama, der in letzter Zeit fast ein bisschen in Mode gekommen ist, beschreibt es so: »Ich glaube, Sterben ist in gewissem Sinne wie das Wechseln von Kleidern, wenn sie alt und abgetragen sind. Es ist nichts Endgültiges.«1

Wenn jemand in Tibet spürt, dass das Leben sich dem Ende zuneigt, möchte er seiner Familie damit nicht zur Last fallen. Die folgenden Einsichten helfen ihm dabei.

Es ist noch kein Meister in den Himmel gefallen

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