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Tag 7: Charaktere (1)
ОглавлениеStellen Sie sich vor, Sie sind der Direktor eines Musicals am Broadway. Und sie machen ein Casting für die zu vergebenden Rollen. Sie suchen nach mehr als oberflächlicher Tauglichkeit für die jeweilige Rolle. Sie wollen Schauspieler, die sich entwickeln, die Potenzial haben und die für Überraschungen gut sind.
Sie haben während des Castings einige der Schauspieler zu schätzen gelernt, andere sind Ihnen zumindest sympathisch, ein paar kennen Sie persönlich oder aus anderen Stücken. So gern Sie manche Rollen drei- oder vierfach besetzen würden, Sie müssen sich für jeweils einen Darsteller als Erstbesetzung entscheiden. Das ist hart. Manch einer wird Sie für Ihre Entscheidung hassen. Aber was wäre die Alternative? Dass zwei Hamlets einen Dialog sprechen statt des berühmten Monologs? Dass die Liebesgeschichte nicht zwischen Romeo und Julia stattfindet, sondern zwischen Romeo und Julia und Annette und Mike?
Es geht Ihnen nicht darum, einen Schauspieler zu finden, der Ihren Erwartungen entspricht. Das tun einige und in jedem Fall mehr, als Sie besetzen können. Sie wollen den Besten oder die Beste für jede der Rollen.
Und Sie? Sie lieben die Charaktere Ihres Romans? Ach, Liebe wird überschätzt.
Sie sind auch nicht der Anwalt Ihrer Charaktere. Sie sind ihr Strafgericht.
Welche Figur in Ihrem Ensemble begeistert Sie nicht? Seien Sie ehrlich!
Welche Figur löst weder starke Zu- noch starke Abneigung in Ihnen aus? Wer ist nicht so gut, dass er in seinem eigenen Roman der Held sein könnte?
Schmeißen Sie die Figur raus. Sie soll sich in einem anderen Roman nach Arbeit umschauen.
Falls sie Sie um eine zweite Chance anfleht, aber nur dann, geben Sie ihr eine. Doch dazu muss sie sich extrem wandeln. Oder eine Eigenschaft offenbaren, die Sie und Ihre Leser nie im Leben, wirklich nie, von ihr erwartet hätten.
Hauptsache, sie entpuppt sich nicht als Literat. Warum Sie nicht wie ein Literat schreiben sollten, darüber morgen mehr.