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Tag 1: Der Anfang
ОглавлениеWie lautet der erste Satz des Romans, an dem Sie gerade arbeiten? Nehmen Sie sich ein leeres Blatt Papier und schreiben Sie ihn auf. In die Mitte.
Kein Satz Ihres Romans wird so häufig gelesen werden wie dieser erste.
Ihre Testleser lesen ihn, der Agent, an den Sie die Textprobe schicken, die Praktikantin im Verlag, die die Vorauswahl fürs Lektorat trifft, dann die Lektorin, die sich dem Manuskript widmet. Die wiederum legt den Roman ihrem Chef vor, falls die Geschichte sie überzeugt, und auch der Chef liest den ersten Satz. In den anderen Abteilungen wird man meistens nicht Ihren kompletten Roman lesen, wohl aber den ersten Satz. Im Buchhandel liest man ihn, um zu sehen, ob man das Buch verkaufen will. Potenzielle Buchkäufer lesen ihn, ob im Buchladen oder in Leseproben bei Online-Händlern und auf den Websites der Verlage. Sie lesen ihn auch dann, wenn sie sich letztlich gegen Ihr Buch entscheiden. Und, ja, selbst Kritiker lesen den ersten Satz.
Wie behauptet sich Ihr erster Satz angesichts dieser Leser, die ganz unterschiedliche Vorstellungen und Ziele mit dem Satz verbinden?
Mit jedem weiteren Satz im Buch nimmt die Wahrscheinlichkeit ab, dass er gelesen wird. Sie können der Wahrscheinlichkeit ein Schnippchen schlagen: Machen Sie jeden einzelnen Satz so unwiderstehlich, dass man auch den nächsten unbedingt lesen muss. Wie das geht? Ganz einfach: Satz für Satz für Satz.
An keinem anderen Teil Ihres Romans werden Sie so lange und intensiv feilen wie am Anfang. Auch Sie selbst werden keinen Satz häufiger lesen als Ihren Einstiegssatz.
Muss ich noch sagen, dass dieser erste Satz und die Absätze danach für den Erfolg Ihres Buchs entscheidend sind? Dafür, dass das Manuskript überhaupt einen Verlag findet?
Schlüpfen Sie in die Rolle des Lesers. Welchen Satz würden Sie gern am Anfang eines Romans lesen? Welcher würde Sie neugierig machen oder sogar umhauen? Nehmen Sie sich ein zweites Blatt Papier und notieren Sie diesen Satz. Ganz oben. Überlegen Sie sich keine Geschichte dazu, überlegen Sie sich nur diesen einen Satz, seien Sie mutig, wild, verrückt.
Brüllen Sie den Satz vor sich hin.
Polieren Sie an ihm herum, bis er glänzt.
Was hat dieser Satz, das Ihr Einstiegssatz nicht hat?
Gibt es eine Möglichkeit, diesen neuen Satz mit dem Roman zu verbinden, an dem Sie arbeiten? Lassen Sie sich Zeit mit dieser Frage.
Falls Ihnen nichts einfällt: Welcher Satz müsste nach diesem ersten Satz kommen, um Sie zu begeistern? Welcher Charakter? Welche Geschichte?
Vielleicht haben Sie hier gerade Ihren nächsten Roman begonnen.
Oder zumindest eine starke Erzählstimme, eine klare Erzählhaltung gefunden? Mehr darüber morgen.