Читать книгу Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen - Stephan Waldscheidt - Страница 10
Unsere Aufgabe ist klar: Wir müssen die Daemonen finden — Warum Sie Ziele und Bedrohungen aussprechen sollten
ОглавлениеDie oben angesprochenen unscharfen Ziele der Charaktere plagen insbesondere die Romanplots unveröffentlichter Autoren. Außerdem ändern sie sich häufig, was aber ein anderes Thema ist.
In den meisten Fällen fehlen den Charakteren konkrete Ziele, weil der Autor selbst nicht weiß, wohin er sie schicken will. Was ein weiteres Argument dafür ist, einen Roman zumindest grob zu planen. In diesem »grob« steckt eben auch das Festlegen der Charakterziele.
Noch einmal und weil es so entscheidend ist: Das Problem ist nicht trivial. Im Gegenteil. Mit der eindeutigen Bekanntmachung der Ziele eines Charakters steht und fällt ein Roman, denn die Bindung des Lesers an die Geschichte hängt in starkem Maße davon ab, ob er genau weiß, was die Charaktere vorhaben. Vor allem die Ziele des Helden und seines Gegenspielers sollten unmissverständlich und konkret sein. Nur, wenn der Leser diese Ziele kennt, kann er mit dem Charakter mitfühlen und sich wünschen, der Held möge triumphieren, der Gegenspieler scheitern.
Es ist ein großer Unterschied, ob ich nur hoffe, dass meine Lieblingsmannschaft ein schönes Spiel macht und dabei niemand ernstlich verletzt wird. Oder ob ich sie anfeuere, sie möge den Gegner in Grund und Boden schießen und mit mindestens drei Toren Unterschied gewinnen, denn nur dann kommt sie ins Finale.
Unscharfe Ziele färben auf alles andere im Roman ab. Wenn dem Leser unklar ist, was die Heldin will, werden ihm auch viele andere Dinge unklar bleiben. So weiß er beispielsweise nicht, wie er ein bestimmtes Hindernis einschätzen soll, dass Sie der Heldin in den Weg werfen. Ein Wassergraben mit Krokodilen, der auf der Straße nach Süden lauert, mag ein ernsthaftes Hindernis sein. Er stört die Heldin jedoch wenig, wenn ihr Ziel am Ende der Straße nach Norden liegt. Eine geheimnisvolle Bemerkung über die Kindheit der Mutter der Heldin interessiert die Heldin wenig, wenn sie sich auf die Suche nach der Kindheit ihres Vaters macht.
Ein unscharfes Ziel kann auch eins sein, das zu abstrakt ist, um den Leser zu fesseln. Oder den Zuschauer, wie in »Man Of Steel« (USA 2013). Dort kämpft Superman am Ende nicht darum, das Leben eines bestimmten Menschen zu retten – er will die gesamte Menschheit retten. Das mag auf den ersten Blick wie ein milliardenfach vergrößertes Ziel aussehen. Tatsächlich aber lässt es den Zuschauer unberührt, weil er dieser abstrakten Gesamtheit von Menschen keine Emotion entgegenbringt. (Als kleiner Hinweis auf zu große Abstraktheit fungiert, wie in Menschheit, die Endung -heit.) Anders wäre es, wenn Superman konkret Lois Lane retten würde – zu der der Zuschauer im Lauf des Films einen emotionalen Bezug aufbauen konnte.
Natürlich gibt es Fälle, wo der Autor absichtlich ein Geheimnis aufbaut, wo er den Leser im Dunkeln tappen lässt, wo es um Verschwörungen und Vergleichbares geht. Sie bestätigen die Regel. Meistens nämlich ist das ausgesprochene Ziel das wirkungsvollere, das mächtigere Mittel zur Erzeugung von Spannung und Suspense.
In einem Krimi etwa ist es normal, dass der Ermittler nicht weiß, wer der Mörder ist. Dennoch sollte sein Ziel, diesen noch unbekannten Mörder zu ermitteln, ganz klar sein und ganz oben auf seiner Prioritätenliste stehen. Wenn der Ermittler zwischenzeitlich von dieser Mördersuche abkommt und gegen einen verfeindeten Kollegen einen Privatkrieg ausficht, sollte es relevante erzählerische Gründe dafür geben und das alte Ziel, die Mördersuche, irgendwann wieder in den Vordergrund treten.
Ein unscharfes Ziel lässt den Leser vor allem eins glauben: Die Sache ist dem Charakter nicht wichtig genug.
Diese Meinung ist der Tod Ihres Romans.
Romane wie die »His Dark Materials«-Trilogie von Philip Pullman (Ballantine 2000 / eigene Übersetzung) oder der Nachkriegsthriller »Kind 44« von Tom Rob Smith (Simon & Schuster 2008 / eigene Übersetzung) wurden auch deshalb internationale Bestseller, weil die Leser auf jeder Seite wussten, was die Helden erreichen wollten oder erreichen mussten.
Gerade in komplexeren Geschichten oder in Romanen, in denen die Grundvoraussetzungen oder die Welt an sich dem durchschnittlichen Leser fremd sind, wird das Aussprechen des Ziels essenziell. Nehmen Sie Fantasy, SF, Horror oder etwa die Darstellung dem Leser unbekannter Gesellschaften (Beispiel: urtümliche Stammesbeziehungen in Westafrika, Konflikte zwischen Schülern einer Scientologenschule). In solchen Fällen geben Sie Ihren Lesern mit einem konkreten Ziel einen wichtigen Anker in der für sie fremdartigen Umgebung.
Beim Lesen stört es denn auch keineswegs, wenn Lord Asriel, ein wichtiger Charakter aus »His Dark Materials«, im dritten Band nach einer Debatte sagt:
»Unsere Aufgabe ist klar: Wir müssen die Daemonen finden, bevor er [der Gegenspieler] sie findet und für ihre Sicherheit sorgen, bis das Mädchen und der Junge wieder mit ihnen vereint sind.«
Anschließend fasst Lord Asriel das Problem zusammen, aus dem sich das Ziel ergibt. Auch das sollte unmissverständlich klar sein.
»So«, sagte Lord Asriel, »um das zusammenzufassen: Jeder von uns, unsere Republik, die Zukunft jedes bewussten Lebewesens – wir alle hängen davon ab, ob meine Tochter am Leben bleibt, und davon, ihren Daemon und den Jungen von Metatron fernzuhalten?«
»So ist es.«
Lord Asriel seufzte, fast mit Befriedigung; es war, als wäre er am Ende einer langen und komplexen Berechnung angelangt, und hätte ein Ergebnis erhalten, das unerwarteterweise Sinn ergab.
»Also gut«, sagte er und spreizte seine Hände auf dem Tisch. »Dann werden wir Folgendes tun, wenn die Schlacht beginnt. König Ogunwe, Sie werden das Kommando aller Armeen übernehmen und die Festung verteidigen. Madame Oxentiel, Sie werden Ihre Leute unverzüglich ausschicken, um nach dem Mädchen und dem Jungen und den beiden Daemonen zu suchen. Wenn Sie sie gefunden haben, verteidigen Sie sie mit ihrem Leben, bis sie wieder zusammengekommen sind.«
Die abschließende Zielvorgabe fügt sich organisch ein, da es Befehle eines Anführers an seine Verbündeten sind.
Gerade in spannenden Situationen erhöhen Sie die Spannung noch weiter, wenn Sie den Leser daran erinnern, was auf dem Spiel steht. Dabei dürfen Sie gerne dick auftragen, schließlich geht es um Dramatisierung, nicht um Zurückhaltung.
Das kann in einem einzigen Satz geschehen, ohne die Handlung unnötig zu unterbrechen, wie hier in einem Gedankengang der Heldin Lyra aus »His Dark Materials«:
Als sie die kleine Gruppe von Bäumen sahen, wussten Lyra und Will, dass ihre Daemonen darin waren und dass sie sterben würden, wenn sie nicht sehr bald bei ihnen waren.
Das klare Aussprechen macht auch ein Hindernis auf dem Weg des Helden zum Ziel oder eine Bedrohung intensiver, durchschlagskräftiger.
Wie hier im Dialog des Antihelden Leo in »Kind 44« die Drohung des Generals. Der Chef der Miliz warnt den ehemaligen Geheimdienstler und jetzt zum einfachen Milizionär degradierten Leo davor, sich in seine Ermittlungen einzumischen.
»Wozu auch immer man Sie hierher geschickt hat, erinnern Sie sich daran, dass Sie nicht mehr in Moskau sind. Hier halten wir uns an eine Abmachung. Meine Leute sind sicher. Keiner von ihnen wurde je verhaftet oder wird je verhaftet werden. Falls Sie etwas tun, was meine Truppe in Gefahr bringt, falls Sie etwas in Ihren Bericht schreiben, was meine Autorität infrage stellt, falls Sie einen Befehl missachten, falls Sie eine Anklage aushebeln, falls Sie meine Offiziere als inkompetent darstellen, falls Sie irgendetwas Abfälliges über meine Männer sagen: Falls Sie eins dieser Dinge tun, werde ich Sie töten.«
Mit dieser klaren Ansage endet das Kapitel. Der Katalog ist so vollständig, jede der Möglichkeiten eine eigene Drohung, dass der Leser mehr weiß als bloß ahnt, dass Leo mindestens einen dieser fatalen Fehler begehen wird.
Wie langweilig wäre es gewesen, hätte der General lediglich gesagt: »Ich warne Sie, mischen Sie sich nicht in meine Angelegenheiten ein. Sonst.«
Dennoch, auch diffuse Drohungen und Unsicherheiten erfüllen häufig ihren Zweck. Am stärksten aber sind sie dann, wenn sie sich zu den klaren Bedrohungen hinzugesellen.
Übrigens: Verwechseln Sie Ziele nicht mit Motiven. Motive sind Antriebe, also das, was einen Charakter erst dazu bringt, das Ziel zu verfolgen.
Nicht jeder Antagonist muss oder sollte erklärt werden. Hannibal Lecters Kindheit, wie sie in »Hannibal« dargestellt wird, hat dem großartigen Schurken viel von seiner geheimnisvollen Aura genommen.
Aber was ein Schurke will – eben sein Ziel –, das sollte klar sein, sofern es nicht bewusst als Geheimnis aufgebaut wird.
Höchste Suspense kann nur dann entstehen, wenn das Ziel des Antagonisten und das des Protagonisten frontal aufeinanderprallen – oder, falls sie dasselbe Ziel haben, es nur einer von ihnen erreichen kann (dieselbe Frau heiraten, die Goldmedaille erringen, das letzte Stück Kuchen ergattern).