Читать книгу Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen - Stephan Waldscheidt - Страница 12
Das ganze Leben Verstellung? — Veränderungen im Roman zeigen, indem Sie sie nicht zeigen
ОглавлениеVeränderungen im Roman und dort vor allem die Veränderungen, die ein Charakter durchmacht, lassen sich auch dadurch zeigen, dass sich nichts verändert. So kann der Protagonist an Tiefe gewinnen, indem er sich nach einem grausigen Ereignis eben nicht (sichtbar, merklich) verändert.
Doch nicht nur an den Charakteren sorgen solche Nicht-Veränderungen für eine besondere Tiefe im Text. Wie hier im Beispiel aus Jenny Erpenbecks beeindruckendem Roman »Aller Tage Abend« (Knaus 2012).
Die Tochter einer der Protagonistinnen ist, gerade erst vor ein paar Wochen zur Welt gekommen, in der Nacht zuvor gestorben. Erpenbeck schreibt:
Ihre Mutter schiebt jetzt die leere Schublade zu. Oben auf der Kommode liegt das Spielzeug mit den silbernen Glöckchen. Als sie es wegnimmt, klirren die Glöckchen. Gestern haben sie auch geklirrt, als die Tochter selbst noch eine Mutter war und mit ihrem Kind gespielt hat. Das Klirren hat in den vierundzwanzig Stunden, die seither vergangen sind, seinen Klang nicht verändert.
Wenn Sie sich überlegen, wie Sie Veränderungen zeigen, ob im Charakter oder außerhalb, sollten Sie sich auch diese wichtige Frage stellen: Wie objektiv sind die Veränderungen? Manches mag im Auge des Betrachters liegen und sagt dann wiederum einiges über den Betrachter aus. Sie werden immer wieder auf solche Fragen stoßen: Wer ist der Charakter wirklich? Was ist die Wahrheit? Je tiefer Sie diesen Fragen nachgehen, desto tiefer kann Ihr Roman werden.
Ein weiterer Ausschnitt aus Erpenbecks Roman:
Als sie ein Kind war, hatte ihr Vater manchmal im Dunkeln für sie Fratzen geschnitten, und, gerade weil sie ihn so sehr liebte, war sie niemals ganz sicher gewesen, dass ihr Vater dann noch immer ihr Vater war. Immer hatte sie es für möglich gehalten, dass er sich aus dem, den sie so gut kannte, jederzeit in etwas Tödliches verwandeln könnte, und das Tödliche sich in diesem Moment als sein Wesen erwies. Sein ganzes Leben konnte Verstellung sein, angesichts auch nur eines einzigen Momentes der Wahrheit.
Wie auch immer Sie letztlich Veränderungen darstellen, das Wichtigste bleibt: Stellen Sie sie dar. Zeigen Sie dem Leser, dass Ihre Charaktere und Ihre Geschichte sich entwickeln, im Fluss bleiben. Zu keinem Zeitpunkt darf der Leser Ihren Roman als etwas Starres, etwas Unveränderliches erleben. Sobald er dieses Gefühl hat, wird er aufhören, ein Leser zu sein, und zum Buchwegschmeißer werden.
Keine Veränderung, auf die Sie Wert legen.