Читать книгу Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen - Stephan Waldscheidt - Страница 13
Weg mit dem Verband, der Ruth die Brust abschnürt! — Die Wandlung des Protagonisten zeigen
ОглавлениеWie zeigen Sie, dass Ihr Protagonist oder Ihre Heldin sich innerlich gewandelt haben? Ein Thema, das ebenso wichtig wie schwierig darzustellen ist.
Spielt in Ihrem Roman die Entwicklung Ihres Protagonisten eine große Rolle, stellt Sie das vor die Herausforderung, eine Veränderung dieses Charakters zu zeigen. Nach dem klassischen Story-Aufbau in drei Akten* muss der Protagonist am Ende des zweiten Akts eine Wandlung durchmachen. Denn sein Ziel erreichen kann er nur als gewandelter, als veränderter Mensch.
Im Katalysator vor dem zweiten Plotpoint hat er ein letztes Mal versucht, als sein altes Selbst zum Ziel zu kommen – und ist gescheitert.
Aber der Protagonist hat eben den zweiten Akt nicht nur damit verbracht, gegen Hindernisse anzurennen. Sondern er hat auch Wissen und Gefühle gesammelt, die ihn nun in die Lage versetzen, sich zu wandeln.
Sprich: Im zweiten Akt geht es nicht nur um eine Eskalation der Geschehnisse. Diese betrifft vor allem die Handlung, den Plot. Auch der Charakter eskaliert im zweiten Akt – indem er wächst. Sein neues Wissen, sein Wachstum in seinem Inneren aber bringen ihn noch nicht entscheidend weiter.
Ohne den zweiten Akt durchlebt und durchlitten zu haben, wäre der Protagonist jedoch nicht einmal zu dieser notwendigen Wandlung fähig. Denken Sie beim zweiten Akt daran, eben nicht nur die Handlung voranzubringen, sondern auch, den Charakter mit allem für seine Veränderung Notwendigen auszustatten. Das kann ganz augenfällig sein, indem er etwa für den letzten Kampf wichtige Waffen einsammelt.
Wichtiger aber bleiben seine inneren »Waffen« in Form von Wissen, von Gefühlen, von Reife. Am Ende des zweiten Aktes ist Ihr Charakter noch der Alte – aber er ist endlich bereit, sich zu erneuern.
Ihre Heldin darf sich im Lauf des Romans gerne häufiger verändern. Gerade bei Romanen, die über längere Zeiträume spielen, ist das fast unvermeidlich. Ansonsten drohen beim Leser Langeweile oder Unglauben.
Aber dem Leser einfach zu erzählen, »So, Leute, Ruth hat sich jetzt innerlich total verändert, müsst ihr wissen, also, sie ist jetzt mutiger und hat mit ihrem alten Leben abgeschlossen«, so etwas ist erstens wenig elegant und zweitens, und das ist entscheidend, es wirkt auf den Leser nur behauptet. Leser wollen Beweise, sie wollen mit ihren eigenen Augen sehen, sie wollen erleben, dass eine Veränderung stattfindet. Dafür lesen sie.
Nehmen Sie diese Aufgabe sehr ernst. Den Leser von der Veränderung zu überzeugen, ist entscheidend, damit Ihnen der dritte Akt mit dem Höhepunkt gelingt – und damit Ihnen der Leser diesen Höhepunkt und das Ende Ihres Romans abkauft (und Ihr nächstes Buch).
Schließlich braucht es eine »neue« Heldin, um den Bösewicht zu schlagen und das Ziel zu erreichen. Wenn diese für den Leser aber weiterhin die »alte« Heldin ist, wird er Ihnen diesen finalen Triumph am Ende schlicht nicht glauben. Dann hat sich die Heldin für ihn nicht verändert und ist noch immer nicht in der Lage, diese letzte Großtat zu begehen. Die Auflösung erscheint ihm damit wie eine aus dem Hut gezauberte Gazelle (ja, man muss nicht immer Kaninchen aus dem Hut zaubern).
Das Ergebnis fällt schlecht aus: In so einem Fall endet der ganze Roman für den Leser auf einer falschen Note – und ist damit für ihn verdorben. Ob er einen zweiten Roman von Ihnen lesen wird, nach dieser Enttäuschung, ist mehr als fraglich.
Luca di Fulvio zeigt in seinem internationalen Bestseller »Der Junge, der Träume schenkte« (Bastei-Lübbe 2011) eine Veränderung seiner weiblichen Hauptfigur Ruth – und er tut das auf mehrfache Weise. Sie können sämtliche Varianten auch in Ihrem Roman wählen oder sich die herauspicken, die Ihnen als am besten geeignet erscheinen. Mein Tipp: Je deutlicher und konkreter Sie das tun, desto besser.
Der Hintergrund: Die junge Ruth hat sich endlich aus ihrem übermächtigen Elternhaus befreit und ist bei ihrem neuen Arbeitgeber, dem Fotografen Mister Bailey eingezogen. Sie legt sich ins Bett, das neue, fremde Leben vor sich wie ein Ozean. Sie redet mit sich selbst. Erst mit ihrer großen, verloren geglaubten Liebe Christmas. Dann mit dem Mann, der sie vergewaltigt und entstellt und ihr Leben ruiniert hat, mit Bill. Bill ist auch dafür verantwortlich, dass sie Verbände trägt, die hier eine entscheidende Rolle spielen, um die Wandlung Ruths zu zeigen.
»Gute Nacht, Christmas«‚ sagte sie leise und schloss die Augen.
Mitten in der Nacht schreckte sie plötzlich aus dem Schlaf auf. Sie lief zur Eingangstür und schloss sie ab.
»Verschwinde«‚ murmelte sie. »Verschwinde, BiII!« Ihre Stimme klang matt und verzweifelt. Schnell band Ruth das Lackherz um ihren Hals und kroch wieder ins Bett. Ich fürchte mich, dachte sie. Ich fürchte mich vor allem. Sie schloss die Augen und hoffte, möglichst bald wieder einzuschlafen. »Du hast dich auch vor Christmas gefürchtet, du dumme Gans«, sagte sie laut. Und da, zum ersten Mal nach all der Zeit, empfand sie so etwas wie Zärtlichkeit für sich selbst. Tränen traten in ihre Augen, aber es waren keine Tränen der Verzweiflung, sondern der Erleichterung.
Endlich konnte sie sich annehmen.
Ruth setzte sich auf, zog ihre Bluse aus und löste den Verband, der ihr die Brust abschnürte. Sie betrachtete die roten Druckstellen. Langsam, liebevoll streichelte sie darüber und ließ den scheußlichen roten Herzanhänger ihre Haut berühren. Dann sammelte sie die Mullbinden auf und warf sie in den Papierkorb. Zurück im Bett, zog sie die Bluse wieder an, und während sie mit Christmas’ Herz auf ihrer Haut in den Schlaf sank, stellte sie verwundert fest, dass sie ohne die beengenden Verbände wieder freier atmen konnte.
Ja, Sie können die Veränderung dem Leser einfach erzählen. Aber das allein ist oft zu wenig, zu schwach. In dem Fall überlassen Sie es ganz dem Leser, ob er Ihnen glaubt oder eben nicht. Ergänzen Sie diese Methode durch weitere, konkretere.
Hier im Beispiel ist das nur ein Satz eines inneren Monologs. Dieser zeigt noch Ruths altes ich. Das furchtsame Ich: Ich fürchte mich, denkt sie, ich fürchte mich vor allem.
Erst in Kombination mit der Erzählung wird die Veränderung für den Leser erkennbar.
Denkbar wäre es, den inneren Monolog auszuweiten, Ruth also noch eine Zeile nach der Veränderung zu geben. Ganz banal hier wäre etwa ein »Ich habe keine Angst mehr.«
Eleganter wird es sofort, wenn Sie den inneren Monolog um einen äußeren Monolog ergänzen, Sie Ruth beispielsweise den Satz »Ich habe keine Angst mehr.« laut aussprechen lassen.
Indem Sie den inneren Monolog in einen äußeren überführen, zeigen Sie die Veränderung: Das Neue ist lauter als das Alte. Das Neue ist wahrnehmbar, das Neue wird in die Welt gerufen.
Statt in Monologen können Sie die Veränderung auch in einem Dialog zeigen. Was die Sache noch konkreter und eindringlicher macht.
Christmas hat Ruth einen Anhänger in Herzform geschenkt, ein Schmuckstück, das Ruth scheußlich findet. Trotzdem trägt sie es. Er ist ein Symbol für (da wären Sie nie draufgekommen, ich weiß) ihre Liebe. Auch an diesem Symbol zeigt Autor di Fulvio Ruths Veränderung, sehr subtil, aber doch erfahrbar: Vor ihrer Veränderung trug Ruth den Anhänger. Danach erst lässt sie ihn ihre Haut berühren.
Di Fulvio beschreibt Ruths Wandlung unter anderem in diesem Satz: Tränen traten in ihre Augen, aber es waren keine Tränen der Verzweiflung, sondern der Erleichterung.
Stellen Sie dazu in Ihrem Roman zwei Zustände oder Ereignisse gegenüber. Je deutlicher Sie beides in Ihrer Beschreibung unterscheiden, kontrastieren, desto klarer kommt die Wandlung des Protagonisten beim Leser an.
Der Königsweg, wie in vielen Fällen beim Schreiben eines Romans, ist der Weg über eine Tat, über Handlung. Die Veränderung angestoßen hat Ruth mit dem Weggang von daheim und dem Einzug in ihr eigenes Zimmer bei Mister Bailey und zugleich in ihr neues Leben.
Diese Tat aber ist hier nur eine Vorbereitung der eigentlichen Veränderung, die gleichzeitig subtiler als auch eindringlicher auf den Leser wirkt.
Die zentrale Handlung, die Ruths Veränderung zeigt, ist das Lösen des Verbandes, den sie seit ihrem schrecklichen Erlebnis mit Bill immer getragen hat. Di Fulvio macht das besonders greifbar: Der Verband hat Ruth »die Brust abgeschnürt«, was man auch symbolisch verstehen muss. Die Druckstellen, die bleiben, streichelt Ruth – ein Zeichen dafür, dass sie sich annimmt. Was eingangs nur erzählt wurde. Erst durch dieses Streicheln (eine Handlung) beweist der Autor, dass Ruth sich tatsächlich angenommen hat und dass die Annahme nicht bloß eine Behauptung oder Wunschdenken ist.
Dass die Veränderung stattgefunden hat und wie sie sich auswirkt, erkennt der Leser im letzten Satz des Ausschnitts: Ruth kann ohne die beengenden Verbände wieder freier atmen. Ein neuer Abschnitt ihres Lebens hat begonnen. Für eine neue, veränderte Ruth.
Das Beste: Der Leser war Zeuge dieser Veränderung. Er hat sie in verschiedenen Formen miterlebt und ist überzeugt: Ja, Ruth ist eine andere.
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*) Akte! Das Wort erscheint immer so, im wahrsten Wortsinne, dramatisch. Falls Ihnen das lieber ist, nennen Sie die drei Akte doch einfach »Anfang«, »Mitte«, »Schluss« – und schon klingt das Geschichtenerzählen so simpel, wie es ist. Na ja, zumindest, was die Grobstruktur betrifft.