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Der Blutdurst der Zentauren — Wie Entscheidungen des Helden Ihren Roman besser machen

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Eva griff ihrem Pferd in die Zügel. Während Alban auf der Stelle stampfte und Dampf von seinem warmgerittenen Leib aufstieg, warf Eva einen Blick über die Schulter zurück. Dreizehn Zentauren in vollem Galopp wirbelten mehr Staub auf als eine ganze Herde Büffel. Sie hatte weniger als eine Minute Vorsprung vor ihnen und ihrem Blutdurst.

Vor ihr gabelte sich der Weg. Der linke führte in ein lichtes Kiefernwäldchen, das kaum Verstecke verhieß. Der rechte ging steil bergauf zu einer Kuppe. Dahinter mochten hundert Möglichkeiten liegen, sich und Alban zu verbergen. Oder Meilen von offenem Land, Zentaurenjagdland. Hinter ihr schwoll das Donnern der Hufe an.

Immer diese Entscheidungen. Warum sind sie im Roman so wichtig, ich möchte sogar sagen: so entscheidend? Ein paar Ideen dazu.

Entscheidungen, genauer: anstehende Entscheidungen, sorgen für simple Neugier-Spannung: Wie wird die Entscheidung ausfallen? Wie hier im Beispiel. Das ist ihre offensichtlichste Aufgabe. Doch bei weitem nicht ihre einzige. Vor allem sind bedeutsame Entscheidungen für den Plot relevant.

Jede Entscheidung schafft mindestens eine neue Wirklichkeit: die nicht gewählten Alternativen. Damit weitet jede Entscheidung den Roman, vergrößert die Welt, das Potenzial. Die Welt des Romans wirkt nicht wie eine Schnur – genau wie eine solche würde ein vorhersehbarer Plot erscheinen –, sondern wie ein sich immer weiter öffnender Fächer. Selbst wenn der Leser keinen Überblick über diesen Fächer hat, so spürt er ihn doch. Und zwar mit jeder Entscheidung, die ansteht und mit jeder Entscheidung, die getroffen wird. Mit jeder davon öffnet sich der Fächer des Romans weiter.

Mehr Raum für Geschehnisse. Für Unvorhersagbares. Für Überraschungen. Mehr Raum für die Fantasie des Lesers. Für Suspense.

Eine getroffene Entscheidung schafft eine parallele Wirklichkeit: Dieser nicht genommene Weg kann den Romancharakter im Verlauf der Handlung verfolgen. In Form von Bedauern, von Reue oder gar von Schuld.

Entscheidet Eva sich beispielsweise für den Weg durch das Kiefernwäldchen und lenkt damit die Zentauren genau auf einen Trupp von fahrendem Volk, Menschen, die von den Zentauren abgeschlachtet werden, so wird Eva sich wünschen, sie hätte den anderen Weg genommen. Sie fühlt sich wegen ihrer Wahl schuldig.

Mit jeder wichtigen Entscheidung, die ein Charakter trifft, gewinnt er an Tiefe. Er wird ein vollständigerer Mensch. Reife und Lebenserfahrung lassen sich auch dadurch definieren, wie viele wichtige Entscheidungen man in seinem Leben getroffen hat. Eine Romanfigur, die viele Entscheidungen hinter sich hat, wirkt entsprechend vollständiger, reifer und erfahrener.

Aber nicht nur das: Die Figur belädt sich mit jeder Entscheidung mit mehr Potenzial: potenziellem Bedauern, potenzieller Schuld, potenziellen Fehlern und so weiter. Ihnen als Autor eröffnet sie dadurch mehr Möglichkeiten. Sie haben mehr Punkte, an denen Sie ansetzen können, um den Charakter von seinen Entscheidungen einholen zu lassen, ihn die Konsequenzen seiner (Un-)Taten spüren zu lassen.

Im Beispiel oben könnte so ein Punkt ein Kind aus dem fahrenden Volk sein. Es hat das Gemetzel der Zentauren überlebt und gibt nun Eva die Schuld daran. Das Kind wächst heran und spürt Eva auf, um Evas Familie zu töten – ein Racheplot.

Jede Entscheidung bietet darüber hinaus die Möglichkeit, die Leser zu überraschen. Der Charakter entscheidet sich eben nicht so wie erwartet. Je mehr Entscheidungen er schon hinter sich hat, desto stärker kann die Überraschung ausfallen.

In unserem Beispiel hat Eva sich stets für Wege entschieden, die an Wäldern vorbeiführten, denn sie fürchtet sich vor Wäldern. Ihre Wahl für den Weg ins Kiefernwäldchen muss den Leser überraschen.

Gleichzeitig werden selbst überraschende Entscheidungen glaubhafter. Weil der Leser den Charakter als tiefere Person kennengelernt hat, traut er ihm bei jeder neuen Entscheidung mehr zu. Der Charakter hat sich durch seine zahlreichen Entscheidungen als eine vollständigere Person vorgestellt und nicht bloß als eine Marionette des Plots.

Übrigens: Als Faktor, der die Spannungsschraube weiter anzieht, wirken im Voraus offenkundige Fehlentscheidungen.

In dem Thriller »The Stone Monkey« (dt. »Das Gesicht des Drachen«, Blanvalet 2003) aus seiner Lincoln-Rhyme-Serie erzählt Jeffery Deaver von zwei illegalen chinesischen Immigranten in New York. Nachdem die Landung der Immigranten von der Einwanderungsbehörde gestört wurde, werden die beiden von ihrem Schlepper verfolgt. Sie suchen Schutz bei Verwandten in Queens. Einer der beiden, der vernünftige Chang, will, dass sie dort hingehen und zusammenbleiben. Der unvernünftige Wu aber will in Manhattan wohnen, wo der Schlepper ihn und seine Familie leichter finden kann. Obwohl Chang ihm das erklärt, bleibt Wu standfest. Obwohl der Leser keine Ahnung hat, was passieren wird, ahnt er das Unheil bereits. Die Folge: Suspense!

Schreibanregung: Lassen Sie die wichtigsten Charaktere Ihres Romans mehr wichtige Entscheidungen treffen. Sehen Sie sich die Szene an, an der Sie gerade arbeiten. Ist darin eine wichtige Entscheidung fällig? Nein? Fügen Sie eine ein. Sie erzeugen dadurch mehr Spannung und vertiefen zugleich den Charakter. Dafür lohnt sich der Mehraufwand.

Können Sie das in weiteren Szenen Ihres Romans ähnlich handhaben? In jeder davon?

Sie werden erstaunt sein, welche Wirkung Sie damit erzielen. Denn auch Ihnen werden mit jeder Entscheidung Ihres Helden neue Ideen für weitere, noch spannendere Szenen und Entscheidungen kommen. Garantiert. Probieren Sie es aus.

Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen

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