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Was Apple, Google, Facebook und Amazon wirklich wollen — Konkrete Ziele im Roman

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Gut schreiben und erzählen zu können, hilft nicht nur beim Schreiben und Erzählen. Es macht auch manches im Leben besser erkennbar. Kurzum: Schreiben macht schlau.

Ja, auch Sie.

Das ist mir beim Lesen eines Artikels in der ZEIT aufgefallen.* In »Warum protestiert ihr nicht?« (DIE ZEIT Nr. 32, 2. August 2012) erklärt der Schriftsteller Benjamin Stein die sorglose Haltung gegenüber den dubiosen Arten, mit Daten seiner Kunden und mit den Kunden selbst umzugehen, die Weltmächte wie Facebook, Apple, Amazon und Google pflegen (die Daten, nicht unbedingt die Kunden).

Erstaunlich ist, wieso das für die Journalisten Evelyn Finger und Thomas Fischermann, die in dem Interview die Fragen stellen, anscheinend vollkommen unklar ist. Vermutlich schreibt keiner von ihnen Romane. Stein sagt:

Das konkrete Glücksgefühl im Netz erscheint ihnen größer als die imaginäre Gefahr. Den Nutzen können sie fassen, die Schranken sehen sie nicht.

Sprich: Konkreter Nutzen in der Gegenwart schlägt abstrakte Gefahren in der Zukunft. Das ist genau wie beim Rauchen: »Ist vermutlich irgendwie ungesund, vielleicht aber auch nicht und vielleicht nicht für mich. Ganz sicher tun mir jetzt zwei Minuten Nikotin gut.« Nein, vermutlich ist das Diffuse noch diffuser oder wird komplett ausgeblendet.

Übersetzt in die Sprache des Erzählens jedenfalls heißt das: Konkret schlägt abstrakt.

Nehmen wir als Beispiel einen vollkommen fiktiven Internetkonzern namens Froopple als die böse Macht in einem Roman. Täte Froopple dasselbe wie Google oder Apple, hätten wir keinen Roman. Der Grund: Niemand weiß so genau, was diese Konzerne wollen, außer, Ihre Aktionäre reich zu machen. (Ist ja auch okay.)

Im Roman aber sollte der böse Konzern Froopple etwas Konkretes zum Ziel haben. (Nein, die Weltherrschaft ist ebenfalls nichts Konkretes.) Sagen wir, Froopple will jedem Menschen einen Chip ins Hirn pflanzen und seinen Dienst BrainViewTM zur Standardsoftware für sieben Milliarden Menschen machen. Froopples Hintergedanke: Mit dem Chip lassen sich die Menschen steuern und werden drei Mal täglich dem Chef von Froopple auf Knien huldigen. (Zugegeben, ein idiotisches Ziel, aber wer sagt, dass gewaltige Macht nur von intelligenten Leuten ausgeht?)

Der Vorteil konkreter Ziele sowohl beim Helden wie auch beim Gegenspieler: Sie lassen sich leicht vom Leser auf Erreichen oder Nicht-Erreichen prüfen. Der Leser sollte jederzeit abschätzen können, wie nahe Held oder Schurke seinem Ziel ist.

Schreibtipp am Wegesrand: Dieses Abschätzen bietet Ihnen eine gute Gelegenheit, den Leser in die Irre zu führen. Das Ziel scheint für Ihre Heldin zum Greifen nah! Doch, ätsch, Irrtum, da kommt noch eine Biegung und noch ein Hindernis und das ist größer als alle anderen.

Entscheidend bei der Konkretisierung eines Romanziels ist: Machen Sie dem Leser unmissverständlich klar, was dieses Ziel ist. Vornehme Zurückhaltung, Subtilität oder tief verborgener Subtext sind hier fehl am Platz. Der Leser muss genau wissen, worum es geht: sieben Milliarden Menschen auf den Knien, und zwar Punkt zwölf Uhr mittags. Zack! Und nicht vielleicht auch drei Milliarden auf dem Bauch, eventuell auch erst um Viertel nach. Vielleicht aber auch nicht, siebzehn im Spessart, aber nur bei Regen, und alle mit grünen Shorts dürfen, wenn sie möchten, Käsekuchen bestellen. Vielleicht. Vielleicht waren das mit dem Käsekuchen aber die mit den roten Shorts. Schwarzwälder Kirsch? Braune Schuhe? Hä?

Ja, so sehen leider ziemlich viele Romane aus, häufig der erste. Aber nicht Ihrer, nicht mehr.

Haben Sie keine Angst vor Klischeesätzen wie »O mein Gott, die Aliens sind morgen Abend um halb neun am Hauptbahnhof! Wir müssen sie mit der tödlichen neuen Gulaschkanone des BMV (Bundesministerium für Verteidigung) aufhalten, weil sie sonst unser gesamtes Speiseeis als Raumschifftreibstoff mitnehmen!«

When in doubt, spit it out – Diese erste Regel zur Vorbeugung von Vergiftungen dürfen Sie auch bei den Zielen Ihrer Charaktere beherzigen: Wenn Sie Zweifel haben, ob Sie zu indirekt über diese Ziele schreiben, spucken Sie’s lieber aus, sprich: Sagen Sie es Ihren Lesern!

Mein Tipp: In der Rohfassung sollten Sie solche Sätze wie den mit den Aliens verwenden, damit auch Sie selbst beim Schreiben auf das konkrete Ziel fokussiert sind. Bei der Überarbeitung schmeißen Sie das Klischee raus, aber lassen die Klarheit und Unmissverständlichkeit drin.

Klar?

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*) Wer den Subtext aus diesem Satz herausgelesen hat, der nichts anderes sagt als »Seht her, was bin ich doch schlau« gewinnt meine Hochachtung und die Bitte, diese eitle Selbstbeweihräucherung von mir nicht weiterzuerzählen.

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