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Eine sehr kurze
Vorgeschichte des Buches Gebetbuch und Palimpsest

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Von der Arbeit des Mönches Johannes Myronas wissen wir heute nur deswegen, weil sein Werk durch besondere Umstände erhalten geblieben ist. Das ist nicht selbstverständlich. Denn Myronas’ euchologion ist keine Prachthandschrift wie etwa das Book of Kells, das seit jeher als besondere Kostbarkeit verehrt und gehütet wird (siehe Farbabb. S. 49). Im Gegenteil: Myronas Gebetbuch ist unscheinbar, klein und wurde auf gebrauchtem, löchrigem Pergament geschrieben. Es ist nur sparsam ausgeschmückt und dazu noch schlecht erhalten. Es handelt sich um eine jener Gebrauchshandschriften, die ihres Alters und ihrer Herkunft wegen kostbar sind und die zu Forschungszwecken gesammelt und geschätzt werden. In der Schausammlung eines Museums oder einer Bibliothek werden solche Handschriften aber nur selten ausgestellt, weil sie nicht besonders ansehnlich sind. Nur wenige Spezialisten dürften beim Anblick eines derartigen Buches wirklich Begeisterung empfinden. Das muss auch den ehemaligen Besitzern des euchologions bewusst gewesen sein, die das Buch mit gefälschten Miniaturen ausstatten ließen, um es für den Verkauf attraktiver zu machen. Auf einer Auktion in New York Ende der 90er-Jahre wurde die Handschrift für 2 Millionen Dollar verkauft. Der unbekannte Käufer behielt das Buch nicht für sich, sondern deponierte es in dem für seine mittelalterliche Handschriftensammlung berühmten Walters Museum of Art in Baltimore. Aber nicht Myronas’ Gebete mit den bescheidenen Verzierungen oder die plumpen Fälschungen waren es, die den Besitzer und die Fachleute des Museums zum Staunen brachten, sondern der abgeschabte, in Griechisch geschriebene Text des alten Pergaments, der zwischen den von Myronas beschriebenen Zeilen durchschimmerte und auf einigen Seiten sogar Diagramme erahnen ließ. Solche abgeschabten Pergamente, auf denen der alte Text noch bruchstückhaft lesbar ist, nennen Fachleute Palimpsest. Der Begriff kommt aus dem Griechischen und lässt sich am besten mit „wieder abgeschabt“ übersetzen. Neugierig geworden und von bestimmten Vermutungen geleitet, begann man im Museum mit Untersuchungen, um die nahezu unsichtbare Schrift wieder lesbar zu machen. Es stellte sich heraus, dass das Gebetbuch bisher völlig unbekannte Abhandlungen des Mathematikers Archimedes und des Redners Hyperides enthielt und dazu noch weitere Texte aus der Zeit der griechischen Antike. Die Entdeckung solcher vollkommen neuer, unbekannter Texte war eine wissenschaftliche Sensation und eine außerordentlich glückliche Gelegenheit für die Wissenschaft. Tatsächlich schöpfen wir unser heutiges Wissen über die Literatur der Griechen und Römer zu einem nicht geringen Teil aus solchen Palimpsest-Funden. Denn in vielen mittelalterlichen Skriptorien wurden die Pergamentblätter von älteren, nicht mehr gebrauchten Handschriften wieder verwendet.

Doch wie kamen die mathematischen Abhandlungen und Reden aus dem vorchristlichen Griechenland überhaupt in Myronas’ Gebetbuch? Die Schriftenanalyse der abgeschabten Texte zeigte, dass die Palimpseste in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts in der Hauptstadt des byzantinischen Reiches, in Konstantinopel (dem heutigen Istanbul) kopiert worden waren. Im Unterschied zu Rom und den anderen Städten des Altertums hatte Konstantinopel ohne Kriege und Zerstörungen das Mittelalter erreicht. Noch im 9. und 10. Jahrhundert wurden dort die kulturellen Errungenschaften der vorchristlichen Vergangenheit gepflegt und die alten Texte weiterhin abgeschrieben und gesammelt. Dem besonderen geistigen Klima um den Kaiserpalast als kulturellem Zentrum ist es zu verdanken, dass auch Archimedes’ und Hyperides’ Schriften weiterhin geschätzt wurden.

Die Zeit kultureller Entfaltung in Konstantinopel endete im Jahr 1204, als Kreuzfahrer die reichste Stadt Europas plünderten und zerstörten und damit auch viele Bibliotheken mit dem darin angesammelten Wissen. In den auf den Überfall folgenden unruhigen Jahrzehnten wurden die meisten Bibliotheken nicht wieder aufgebaut. Stattdessen verwertete man die übrig gebliebenen Bücher mit antiken Texten, indem man die herausgetrennten Pergamentseiten zu neuen Büchern recycelte. Doch nicht allein in Konstantinopel ging man aus heutiger Sicht so unglaublich respektlos mit den alten Schriften um. Im westlichen Europa ist die Abtei von Bobbio in Oberitalien für ihre Palimpsest-Handschriften berühmt geworden. Auch dort schrieb man neue Bücher auf alte Pergamente. Wie im Falle von Myronas’ Gebetbuch sind auch in der Bibliothek von Bobbio die manchmal nur noch in Spuren feststellbaren Texte für uns heute wichtiger und interessanter als die darübergelegte jüngere Schrift.

Myronas schrieb sein Gebetbuch jedoch nicht in Konstantinopel, sondern in Jerusalem. Das wissen wir, weil seine Gebetstexte der Liturgie der Kirche von Jerusalem folgen. Vom Zeitpunkt seiner Fertigstellung im April 1229 haben die Schriften von Hyperides und Archimedes eingeschlossen in ein klösterliches Gebetbuch die Zeiten überdauert. In den folgenden Jahrhunderten wurde die Handschrift in einem orthodoxen Kloster in Palästina gehütet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gehörte sie zum Bibliotheksbestand des griechischen Patriarchen. Irgendwann kam das Buch zurück nach Konstantinopel und wurde dort in einer dem Patriarchat zugehörigen Klosterbibliothek aufbewahrt. Von der Klosterbibliothek wanderte es schließlich auf ungeklärten Wegen in eine französische Privatsammlung und später in die Auktion zu seinem heutigen Besitzer und dem Baltimore Museum of Art. Dort wurde die Handschrift 2011 erstmals in einer Ausstellung einem großen Publikum vorgestellt.

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