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Drei Monate nachdem ich Mönch geworden war, brach ich ins Vorgebirge des Himalaya hinter Dharamsala auf. Ich war 21 Jahre alt. Mein Rucksack enthielt einen Schlafsack, eine Bodenplane, ein Handtuch, einen Wasserkocher, eine Schale, einen Becher, zwei Bücher, einige Äpfel, Trockennahrung und einen Fünf-Liter-Kanister mit Wasser. Der Monsun war gerade zu Ende gegangen: Der Himmel war kristallklar, die Luft rein, das Laubwerk üppig. Nach drei oder vier Stunden verließ ich den ausgetretenen Fußweg und stieg auf Wildpfaden einen steilen, spärlich bewaldeten Hang hinauf, bis ich den durch Felsbrocken verborgenen und von Zweigen überdachten grasbewachsenen Felsvorsprung erreichte, den ich bei einem früheren Streifzug ausfindig gemacht hatte.

Inspiriert von Erzählungen über indische und tibetische Einsiedler wollte ich herausfinden, wie es ist, von jeglichem menschlichen Kontakt abgeschnitten zu sein, allein und schutzlos. Ich wollte so lange hierbleiben, wie meine spärlichen Nahrungs- und Wasservorräte dies zuließen. Niemand wusste, wo ich war. Wenn ich stürzen und mir ein Bein brechen, von einer Kobra gebissen oder von einem Bären zerfleischt würde, wäre es unwahrscheinlich, dass man mich fände. Hoch in diesem Horst konnte ich noch die fernen Hornstöße und die knirschenden Getriebe von Bussen und Lastwagen weiter unten hören, was ich als einen Affront empfand.

Ich wachte in meinem taubedeckten Schlafsack auf. Nach dem Pinkeln und Meditieren zündete ich ein Feuer an, kochte Wasser, bereitete Tee zu, mischte ihn dann mit geröstetem Gerstenmehl und Milchpulver, um daraus einen Teigklumpen zu formen. Das war Frühstück und Mittagessen – gemäß der Ordensregel aß ich abends nicht.

Zu meinen Meditationen gehörten die Sādhanās, in die ich eingeweiht worden war, wobei ich mich entweder als zornvollen, büffelköpfigen, phallischen Yamāntaka visualisierte oder als nackte, menstruierende, rote Göttin Vajrayoginī. Ich führte diese tantrischen Praktiken im Wechsel mit einer Stunde achtsamen »Fegens« durch meinen Körper von Kopf bis Fuß durch und nahm dabei mit großer Sorgfalt all die flüchtigen Empfindungen und Gefühle wahr, die ihn durchströmten. Wenn ich nicht aß oder meditierte, intonierte ich eine Übersetzung von Śāntidevas Kompendium des Übens, einer Sanskrit-Anthologie über Lehrreden des Mahāyāna-Buddhismus aus dem achten Jahrhundert, die ich in ihrer Gesamtheit zu rezitieren gelobt hatte, während ich hier oben war.

»Es gab nie zuvor einen Buddha«, erklärte der Text in seinem viktorianischen Englisch, »noch wird es ihn in der Zukunft geben, noch gibt es ihn jetzt, der jene höchste Weisheit erlangen könnte, während er im Leben eines Haushälters verbliebe. Dem Königtum entsagend, als wäre es Nasenschleim, sollte man im Wald leben, nur der Einsamkeit zugewandt … Wie die Kräuter und Sträucher, die Pflanzen und Bäume sich weder fürchten noch bange sind oder ängstlich zittern, so muss der Bodhisattva, der im Wald weilt, seinen Körper als den Kräutern und Sträuchern, Pflanzen und Bäumen gleich betrachten, wie Gehölz, wie Gips an einer Wand, wie eine Erscheinung …«

Das Kompendium des Übens enthält Anleitungen zur eigenständigen Umsetzung. Sobald der Mönch sich im Wald niedergelassen hat, soll er »das, was er zuvor gelesen hat, dreimal in der Nacht und dreimal am Tag rezitieren, und zwar in einer Tonlage, die nicht zu hoch und nicht zu tief ist, nicht mit unruhigen Sinnen, nicht mit umherwandernden Gedanken, in aller Ruhe, die Trägheit beseitigend«. Ungehemmt lasse ich diese Worte in die Stille der Schluchten und den Wind erschallen.

Ich habe immer noch mein Exemplar dieses verblasst braunen gebundenen Buches. Aufgrund des verwischten lilafarbenen Stempels des Piccadilly-Buchverkaufsstands vermute ich, es Anfang der 70er Jahre in Dehli gekauft zu haben. Es liegt nun aufgeschlagen vor mir. Der muffige, pfeffrige Geruch, den ich mit indischen Büchern aus jener Zeit verbinde, steigt mir in die Nase. Ich bin wieder in den Wald zurückgekehrt, zu meinem in eine rote Robe gekleideten jüngeren Selbst, das mit verschränkten Beinen auf dem Boden sitzt und ernsthaft Śāntidevas Worte an einem Ort rezitiert, der »von Bäumen beschattet wird, mit Blumen, Früchten und Blättern, ohne Gefährdung durch tollwütige Hunde, wo es Höhlen und Berghänge gibt, leicht zu durchqueren, friedlich, unvergleichlich«.

Was von dieser Abgeschiedenheit bleibt, ist meine Erinnerung an das weitläufige Panorama der Ebenen des Punjab, den unermesslichen Himmelsbogen und die Umarmung der Berge, die dieses zerbrechliche Fleckchen der Selbsterfahrung beherbergten. Einmal stürzte sich ein wunderschöner bunter Vogel von den darunterliegenden Klippen, schwebte für einen Moment durch die Luft und verschwand dann aus meinem Blickfeld. Ein Hirte und seine Ziegen hätten mich eines Nachmittags beinahe entdeckt. Ich schaute verstohlen durch das Blattwerk zu ihnen hinüber, während die Tiere grasten und der drahtige sonnengeschwärzte Mann in eine grobe Wolltunika gehüllt auf einem Felsen lag.

Nachdem die Vorräte erschöpft waren und der Text rezitiert, wanderte ich zurück zu meinem Zimmer unten im Dorf McLeod-ganj. Während meiner fünf Tage auf dem Berg war ich auf den Geschmack des Mit-mir-Alleinseins gekommen, der mich seit dieser Zeit begleitet.

Die Kunst, mit sich allein zu sein

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