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Nimm an, was du erkennst, und überquer die Fluten.

Der Weise ist nicht an Besitz gebunden –

Bleib wachsam, nachdem du den Pfeil herausgezogen –

sehn dich weder nach dieser noch nach der nächsten Welt.

VIER ACHTER, 1:8

Im Jahr 1570 verkaufte Michel de Montaigne im Alter von 37 Jahren sein Amt als Gerichtsrat in Bordeaux, das er dreizehn Jahre lang innegehabt hatte, um sich einem Leben in Abgeschiedenheit zu widmen. Er baute einen dreistöckigen Wehrturm auf seinem Gutshof in einen Rückzugsort um. Das Erdgeschoss diente als Kapelle, das Mittelgeschoss als sein Wohnbereich und das Obergeschoss als Bibliothek. Das Dachgeschoss über der Bibliothek beherbergte die Glocke des Anwesens. »Jeden Tag, bei Tagesanbruch und Sonnenuntergang«, schrieb er, »lässt eine große Glocke das Ave Maria erklingen. Dieses Getöse lässt meinen Turm erzittern.«

An einer Wand schrieb Montaigne seine Absicht auf: »mich zurückziehen und meinen Kopf in den Schoß der Weisen Jungfrauen legen, wo ich in Ruhe und Gleichmut den Rest meiner Tage verbringen werde.« Entbunden vom Druck eines öffentlichen Amtes wollte er sich der Freiheit, Beschaulichkeit und Muße widmen. Das war leichter gesagt als getan. »Der größte Dienst, den ich meinem Geist erweisen könnte«, hatte er gedacht, »wäre, ihn in völligem Nichtstun zu belassen, damit er sich um sich selbst kümmerte, sich zum Stillstand brächte und zur Ruhe käme.« Stattdessen

brachte er, wie ein entlaufenes Pferd, das durch den ganzen Ort galoppiert, seltsame fantastische Monster hervor, eins nach dem anderen, ohne Ordnung oder Plan.

Nicht in der Lage, mit diesen Turbulenzen umzugehen, verfiel Montaigne in eine tiefe Depression. Er zog sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf, indem er eine genaue Beobachtung und Analyse seines Innenlebens vornahm, die er in der Hoffnung niederschrieb, »meinen Geist dazu zu bringen, sich seiner selbst zu schämen«. Auf diese Weise begann seine Karriere als Philosoph und Essayist.

Der Tumult beschränkte sich nicht nur auf seinen Geist. Er tobte überall in seiner Umgebung. Acht Jahre zuvor, 1562, war in ganz Frankreich ein blutiger Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten ausgebrochen. Die Provinz Guyenne, in der er lebte, war ein bedeutendes Zentrum dieser Religionskriege, die, mit Unterbrechungen, für den Rest seines Lebens wüten sollten. Im Laufe des ersten Jahres der Gewalt wurde die nahe gelegene Kirche von Montcaret durch katholische Truppen bei dem Versuch, sie von den Protestanten zurückzuerobern, zerstört. Die nur fünf Gehminuten von seinem Haus entfernte Kirche Saint Michel de Montaigne wurde bis auf die Grundmauern niedergebrannt. »Der Ort, an dem ich wohne«, schrieb er, »wird immer als Erstes und Letztes von unseren Wirren heimgesucht.« Er erzählt, dass er häufig zu Bett gegangen sei und sich dabei ausgemalt habe, er würde »noch in dieser Nacht verraten und zu Tode geprügelt « werden.

Während Montaignes ersten Sommers in seinem Turm initiierten König Karl IX und dessen Mutter, Katharina von Medici, das Bartholomäusnacht-Massaker. Aus Rache für den versuchten Mord am protestantischen Admiral de Coligny befahlen sie die Ermordung aller führenden Protestanten in Paris. Es kam zu Gewalttätigkeiten seitens des Mobs; Katholiken zogen randalierend durch die Straßen und griffen Protestanten an. Das Blutvergießen breitete sich auf zwölf weitere Städte Frankreichs aus, darunter auch Bordeaux. Rund zehntausend Protestanten wurden abgeschlachtet.

Montaigne räumte ein, dass er, wäre er jünger gewesen, hätte versucht sein können, »sich an den Wagnissen und Herausforderungen« der Reformation »zu beteiligen«. Inspiriert von Persönlichen wie dem christlichen Humanisten Erasmus, begrüßte er mit offenen Armen das Wiederaufleben der Vernunft und der klassischen Philosophie, das die Renaissance prägte. Sein engster Freund, Étienne de la Boétie, war der Autor der Abhandlung Von der freiwilligen Knechtschaft [Discours de la servitude volontaire] über das tyrannische Wesen von Regierungen. Auf Wunsch seines Vaters hatte Montaigne Das Buch der Geschöpfe [Theologia naturalis] übersetzt, ein lateinisches Werk des katalanischen Arztes und Philosophen Raimundus Sabundus aus dem 15. Jahrhundert. Sabundus plädierte für ein Gottesverständnis, das sich aus Beobachtungen der natürlichen Welt ableitet und so die Erfordernisse von Glauben und Vernunft, Religion und Wissenschaft in Einklang bringt.

Ein Jahr nach Ausbruch des Bürgerkriegs starb Étienne de la Boétie im Alter von 33 Jahren an der Ruhr. Montaigne war am Boden zerstört. Seine innige Verbundenheit mit Étienne war ein intellektueller und emotionaler Eckpfeiler seines Lebens. Er beschreibt ihre Freundschaft als eine, in der »Seelen miteinander vermischt und in so perfekter Verbindung miteinander verschmolzen sind, dass die Naht, die sie verbindet, sich aufgelöst hat und nicht mehr gefunden werden kann«. La Boétie vermachte seine Bücher Montaigne und diese bildeten das Herzstück der Bibliothek im Turm. La Boétie blieb für immer, stelle ich mir vor, der implizite Leser der Essais.

Um seines Freundes Andenken in Ehren zu halten, beabsichtigte Montaigne, Von der freiwilligen Knechtschaft in den ersten Band seiner Essais aufzunehmen. Er verwarf diese Idee jedoch, als er entdeckte, dass dieser Text bereits veröffentlicht worden war »zu einem üblen Zweck, von jenen, die versuchen, den Zustand unseres politischen Systems umzustürzen und zu verändern, ohne sich darum zu scheren, ob es zu einer Verbesserung führen wird«. Ein ähnliches Schicksal ereilte seine Übersetzung von Raimundus Sabundus’ Das Buch der Geschöpfe, die auch unter protestantischen Denkern Anklang gefunden hatte. Dies führte zu Montaignes längstem Essai, einem Mea culpa in Buchlänge mit dem Titel Apologie des Raimundus Sabundus [Apologie de Raimond Sebond], in dem er Sabundus’ Glauben an die erlösende Kraft der Vernunft zurückweist und durch eine Philosophie radikaler Unwissenheit und bedingungslosen Glaubens ersetzt.

Zehn Jahre lang studierte, sinnierte und schrieb er in seinem Turm. Die erste Ausgabe der Essais in zwei Bänden erschien 1580 in Bordeaux. Montaigne war da 48 Jahre alt. Wie es sich für einen treuen Seigneur gehörte, machte er sich unverzüglich auf den Weg nach Paris, um dem neuen König, Heinrich III., ein Exemplar zu überreichen. Nachdem er bei Hof einen guten Eindruck hinterlassen hatte, begab er sich auf eine Reise, die ihn durch die Schweiz, Deutschland, Österreich und weite Teile Italiens führte. Ende November kam er in Rom an.

Montaigne ging nach Rom, um sich als Nachfolger des scheidenden französischen Botschafters am Hof von Papst Gregor XIII. zur Verfügung zu stellen. Als Kammerherr des Königs von Frankreich, gläubiger Katholik, fließend Latein sprechender Gelehrter und inzwischen auch Philosoph und Literat, war er für diese Position gut geeignet. Da er ebenfalls ein Kammerherr des jungen protestantischen Königs Heinrich von Navarra war (der auch Gouverneur von Guyenne war und zweiter in der französischen Thronfolge), wäre Montaigne ein Verhandlungspartner von unschätzbarem Wert für die beiden Konfliktparteien in den Religionskriegen gewesen. Er mietete ein geräumiges möbliertes Zimmer an, besichtigte die historischen Stätten, hatte eine Audienz beim Papst und reichte die Essais bei den päpstlichen Behörden zur Genehmigung ein. Dann wartete er geduldig auf den Brief aus Paris, der über sein Schicksal entscheiden würde.

»Ehrgeiz«, hatte er in seinem Essai »Über die Einsamkeit« geschrieben, das in dem Buch enthalten ist, welches gerade im Apostolischen Palast einer genauen Überprüfung unterzogen wurde, »ist die Laune, die am stärksten im Widerspruch zum Rückzug steht. Ruhm und Ruhe können sich nicht dieselbe Behausung teilen.« Er kritisierte die römischen Staatsmänner Plinius und Cicero dafür, dass sie die Abgeschiedenheit als einen besonnenen Karriereschritt betrachteten, als ein Mittel, um andere mit ihrer Gelehrsamkeit und philosophischen Finesse zu beeindrucken. Diese Herren, stellte er fest, »haben lediglich ihre Arme und Beine außerhalb der Gesellschaft: ihre Seelen und Gedanken bleiben mehr denn je mit ihr beschäftigt. Sie sind nur einen Schritt zurückgetreten, um zu einem noch gewaltigeren Sprung anzusetzen.« Weltlicher Ruhm, erklärte er, »ist weit abseits meiner Überlegungen«.

Die Kunst, mit sich allein zu sein

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