Читать книгу Die Kunst, mit sich allein zu sein - Stephen Batchelor - Страница 13

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Ohne bemerkt zu haben, wie und seit wann, befinde ich mich in einem veränderten Geisteszustand. Mein Bewusstsein ist auf subtile, aber intensive Weise geschärft. Ekstatisch spüre ich, wie elektrische Wellen meinen Körper durchströmen, mich dazu bringen, mich zu dehnen und zu stöhnen. Meine Wirbelsäule richtet sich auf, als wollte sie die Kontemplation, die mich ergriffen hat, vervollkommnen. Ich muss mich nicht mehr konzentrieren; das geschieht ganz von allein. Ablenkung ist keine Option; alle zufälligen Gedanken haben aufgehört. Während ich in das atmende, orangefarbene Herz des Feuers starre, bin ich auf intensive, stille Art geistig präsent.

Andrés rüttelt den Mara’akame sanft wach. Don Toño richtet sich auf, setzt den breitkrempigen Hut auf, dessen Quasten vor seinen Augen hin- und herschwingen, hebt eine Handtrommel auf und stimmt einen eindringlichen Gesang im Rhythmus seines Grundschlags an. Was auch immer er in seiner nasalen Stimme singen mag, es hat eine hypnotisierende Schönheit und Intensität. Etwas Uraltes und Melancholisches schwingt in seinen Worten in der Huichol-Sprache mit. Andrés zündet eine Zigarette an und steckt sie Don Toños zwischen die Lippen. Der Mara’akame nimmt einige tiefe Züge und trommelt weiter. Dann legt er sich hin und schläft wieder. Dieses Ritual wird sich im Laufe der Nacht mehrmals wiederholen.

Nacho, der Jüngere, flüstert mir ins Ohr: »Wie ist der Name deines Großvaters?« Ich sage: »Alfred.« Er sagt: »Das Feuer ist dein Großvater. Die Madonna ist deine Großmutter.« Ich spüre, dass dies ein Hinweis für mich sein soll, etwas zu tun. Ich weiß aber nicht, was er meint, und verspüre kein Bedürfnis nachzufragen. Eingetaucht in mein Alleinsein, fühle ich mich in seliger Losgelöstheit von allen anderen, bin mir gleichzeitig aber ihrer Anwesenheit – und wie diese mich unterstützt – überaus bewusst.

Raúl, ein junger Arbeiter mit dichten schwarzen Bartstoppeln, springt auf. Er nimmt alle Kräfte zusammen, spuckt mehrmals ins Feuer, starrt unverwandt in die Flammen und legt ein leidenschaftliches Bekenntnis ab. Er schlingt die Arme um seinen Körper, wiegt sich unruhig hin und her, jammert und weint, während ein Redeschwall aus ihm heraussprudelt. Irgendwann sieht es so aus, als versuchte er, sich in die Flammen hinein zu erbrechen, aber ohne Erfolg. Andrés kommt herüber und streicht mit an einem kurzen Stock befestigten Federn von Kopf bis Fuß über Raúls Körper; schüttelt sie dann über dem Feuer aus, als würde er Wassertropfen von ihnen abtropfen lassen.

Diese unerwartete Gefühlsbekundung lässt mich ungerührt, aber ich bin auch nicht getrennt von ihr. Ich fühle mich innerlich völlig transparent und rein, aber dennoch ganz eins mit Raúls Beichte. »Geh und sprich mit deinem Großvater«, drängt Nacho, der Jüngere. Ich ignoriere ihn.

Auf der Glut am Rande des Feuers wird ein Becher sichtbar, an dem das Email stellenweise abgeplatzt ist. Wir nehmen ihn abwechselnd, um in kleinen Schlucken ein heißes, braunes Getränk zu schlürfen, das den Magen wärmt und beruhigt. Der Geschmack ist irgendwie vertraut, aber auch seltsam. Ich erfahre, dass es sich um Schokolade handelt, die mit getrocknetem Peyote vermischt ist. Ob diese zusätzliche Dosis irgendeine Wirkung hat oder nicht, kann ich nicht sagen. Solche Fragestellungen sind nicht mehr von Interesse. Alles, was zählt, ist die reine Intensität des Augenblicks, die scharfe Klarheit der Sinne, die ekstatische Stille.

Es wird getrommelt, nun besser koordiniert, begleitet von Tanz. Andrés zieht sein Hemd aus, krümmt und verdreht sich neben dem Feuer. Die schweißnasse Haut seines mageren Oberkörpers glänzt in den Flammen. Er setzt sich neben mich. In einer Mischung aus Englisch und Französisch frage ich ihn: »Wenn Peyote die Medizin ist, was ist dann die Krankheit, die sie heilt?« Er sagt: »Ein verschlossenes Herz.«

Als wir später am Morgen wieder in Tepoztlán sind, hat die Nacht um das Feuer herum eine traumartige Qualität angenommen. Eine gesteigerte Klarheit und Stille des Geistes bleiben mir erhalten. Die Welt erscheint weiterhin leuchtend und hell. Ich fühle mich, als wären meine Sinne, mein Nervensystem und meine Gehirnzellen sauber gewaschen worden. Es wird einige Wochen dauern, bis die Wirkung der Medizin nachlässt.

Hat allein das Meskalin im Peyote das hervorgebracht? Hätte ich die gleiche Erfahrung gemacht, wenn ich, allein, in meinem Wohnzimmer exakt die gleiche Dosis genommen und dabei Bach gehört hätte ? Haben die vergangenen vierzig Jahre der Dharma-Praxis einen Unterschied bewirkt? Ich vermute, dass das Zerreiben der Kakteen, Großvater Feuer, die Gesänge, die Beichten, der Madonna ein Gedicht darbringen, mit verschränkten Beinen in Meditation sitzen, mein Stillsein, das Fasten am Vortag, meine Beweggründe, an der Zeremonie teilzunehmen, allesamt eine Rolle gespielt haben.

Ich verstehe langsam, dass die Zeremonie eine existenzielle Bekräftigung dessen war, was ich bisher in meinem Leben getan hatte und derzeit tat. Für ein paar Stunden, um es mit den Worten von Carlos Castaneda auszudrücken, hatte sie »die Welt angehalten« und mir ermöglicht, »zu sehen«. In der Terminologie des Buddhismus, ließ sie mich »die Beendigung der Reaktivität« »schauen« und im »Todlosen« weilen. Ohne irgendeine Notwendigkeit, in Konzepte oder Worte gefasst zu werden, bekräftigte sie, dass das Leben, das ich als Schriftsteller, Künstler und Lehrer gewählt hatte, angemessen war. Ich erkannte, dass ich diese Welt ohne Bedauern verließe, würde ich jetzt sterben.

Achtzehn Monate später erhalte ich eine E-Mail von Nacho, dem Älteren. »Während einer Meditationssitzung vor zwei Tagen«, beginnt sie, »wurde mir zum ersten Mal klar, wie schön Stille ist. Und ich muss sagen, dass ich in dieser Sache viel von dir gelernt habe, insbesondere als wir in Tepoztlán waren und du anfingst zu schweigen, immer intensiver, es war schon nahezu unangenehm, bis wir fast alle in Stille verweilten und ich verstand.« Die ganze Zeit über hatte ich Andrés’ Bemerkung über »ein verschlossenes Herz« als milden Tadel empfunden, da ich es unterlassen hatte, aktiver an der Zeremonie teilzunehmen. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Die Kunst, mit sich allein zu sein

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