Читать книгу Die letzte Nacht der Lilie - Stéphanie Queyrol - Страница 5

Erstes Buch: Die Prophezeiung der Lilie Armand

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Lily saß im Kannenfeldpark auf einer Bank und genoss die letzten Sonnenstrahlen. Die Bäume verloren bereits ihre ersten Blätter. Noch war es zwar warm, bald aber würde das letzte Laub fallen und der Winter würde kommen. Lily mochte die Kälte nicht. Was sie liebte, war die Hitze des Sommers und das Licht der Sonne. Noch nie hatte sie einfach nur zu Hause rumsitzen können, wenn die Sonne schien. Schon als kleines Kind konnte ihre Mutter sie nicht aufhalten, immer wieder nach draußen in den Garten zu rennen, wo Lily sich alleine beschäftigte und in ihre Welten eintauchte.

Lily schloss die Augen und genoss die Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht. Zwar spürte sie die sinkende Temperatur, schließlich war es schon Oktober, aber es störte sie nicht, sie fror selten.

Heute vor dreizehn Jahren waren ihre Eltern bei einem Brand gestorben. Doch das Mädchen trauerte nicht mehr um sie. Lily war noch so jung gewesen. Anfangs hatte sie ihre Eltern sehr vermisst, doch mit der Zeit verblasste ihre Erinnerung. Ganz wenige Bilder blieben ihr noch, sie hätte ihren Vater wahrscheinlich gar nicht mehr erkannt, hätte sie ihn heute gesehen. Aber ihre Mutter war immer präsent. Lily hatte allerdings nur noch eine Erinnerung an sie: wie sie Lily verängstigt ansah, das dunkelbraune Haar ganz unordentlich, die dunklen Augen voller Schmerz und Traurigkeit. Lily wusste nur noch, wie ihre Mutter ihr die Kette gegeben hatte. „Trag sie, sie wird dich vor Bösem beschützen!“ Dann verschwand das Gesicht der Mutter. Grüne Augen. Wo kamen denn die grünen Augen her? Hatte ihr Vater grüne Augen gehabt? Schon möglich, sie erinnerte sich ja nicht mehr an ihn. Die silberne Mondsteinkette hatte sie nicht ein einziges Mal in ihrem Leben abgelegt. Lily hatte ihrer Mutter geglaubt, und sogar jetzt meinte Lily zu spüren, wie die Kette nicht nur Trost spendete, sondern sie auch beschützte.

Plötzlich bekam Lily eine Gänsehaut, aber nicht vor Kälte. Sie öffnete die Augen und sah sich um. Die Sonne war untergegangen, die Nacht kam. Wurde sie beobachtet? Sie sah nichts. Eine Bewegung? Nein, nichts. Lily stand auf und ging nach Hause. Sie wohnte in einer kleinen, aber sehr schönen Wohnung neben dem Park. Fast jeden Abend kam sie her, spazierte, las oder saß einfach nur auf ihrer Bank und genoss die Sonne und die Natur. Sie mochte es auch, Menschen zu beobachten und sich deren Geschichten vorzustellen. Manchmal sprach sie mit älteren Leuten, die wahrscheinlich nicht mehr viel zu tun hatten und ihre Tage im Park verbrachten. Sie erzählten Lily ihre Leiden und Probleme, manchmal aber schwatzten sie nur über das Wetter oder darüber, wie Basel früher ausgesehen hatte. Lily hatte zu Hause eine ganze Sammlung an Geschichten und Begegnungen: niedergeschrieben, um sie immer wieder zu lesen.

So vergingen die Jahre: Den Tag verbrachte sie in der Schule und die Abende im Park. Und manchmal, wenn ihr danach war, setzte sie sich auch an den Rhein. Da war die Vielfalt der Menschen deutlich größer. Sie sah junge Schulschwänzer, Spaziergänger, verliebte Paare, Touristen, Schwimmer im Sommer und arme Leute, die um Geld bettelten oder dafür sogar musizierten. Lily hatte keine Freunde, sie hatte ein paar Kollegen. Doch sie ertrug viel Gesellschaft nicht. Sie sei komisch, hatte man ihr in der Schule gesagt. Das störte sie nicht. Sie machte das, worauf sie Lust hatte. Lily war nicht einsam. Anfangs nach dem Brand, als ihre Eltern starben, da hatte sie sich allein gefühlt, aber jetzt nicht mehr. Sie mochte es, allein zu sein.

Nun war es schon ganz dunkel geworden und zum ersten Mal fühlte sie sich unwohl, verfolgt. Als sie an ihrem Haus ankam, schaute sie noch kurz über ihre Schultern, ob da jemand sei. Für einen kurzen Moment glaubte sie Armand gesehen zu haben, ihren Nachbarn. Erschrocken ließ sie ihre Schlüssel fallen. Als sie den Bund aufhob, schaute sie nochmals zu der Stelle, wo sie geglaubt hatte, den vertrauten Unbekannten gesehen zu haben, doch da stand niemand. Stirnrunzelnd ging sie ins Haus.

Als sie sich schlafen legte, war da noch immer dieses seltsame Gefühl. Wieso sollte Armand sie beobachten? Sie hatte noch nie ein Wort mit ihm geredet. War es Wunschdenken? Vielleicht …

Seit sie vor eineinhalb Jahren hier eingezogen war und ihn zum ersten Mal gesehen hatte, wusste Lily, dass er jemand Besonderer war. Immer wieder hatte sie ihn im Park gesehen und beobachtet. Er war der einzige Mensch, über den ihr keine Geschichte einfallen wollte. Seine Bewegungen waren grazil und elegant, doch er hatte etwas Dunkles und Gefährliches an sich. Lily hatte ihn nie mit jemandem zusammen gesehen geschweige denn mit anderen sprechen hören. Er schien immer alleine zu sein, genauso wie sie oder sogar noch mehr als sie.

Lily hatte sich so oft mit ihm beschäftigt, dass sie nicht gemerkt hatte, wie sehr sie ihn mochte. Sie wusste nicht, wie es sich anfühlte, verliebt zu sein oder gar zu lieben. Die einzigen Menschen, die sie je geliebt hatte, waren ihre Eltern gewesen und das war nun wirklich kein Vergleich! Erst als Lily zum ersten Mal seine Augen gesehen hatte, wusste sie, dass sie ihn liebte. Er hatte im Park, nachdem die Sonne gerade untergegangen war, seine Sonnenbrille abgenommen und sie angesehen. Armand hatte sie so lange betrachtet, dass es ihr fast unangenehm war. Sein Blick war intensiv. Sie konnte die Erinnerung nun nicht mehr verdrängen. Meistens, wenn Lily schlafen ging, drängte sich ihr sein Bild auf und ihr Herz klopfte stark. Nur mit Mühe hatte sie seinen Namen herausgefunden – Armand. Das war ein französischer Name. Sie hatte ihn nur ein einziges Mal zuvor in einem Film gehört, sie glaubte, es sei ein Vampirfilm gewesen.

Lily war beim Gedanken an Vampire eingeschlafen. Schon wieder hatte sie diese Albträume: ein brennendes Haus, ihr Vater tot, ihre Mutter verängstigt, grüne Augen, bleiche, angsteinflößende Gestalten und ... Blut? Das war neu. Das musste der Nachhall ihrer letzten Gedanken gewesen sein. Sie mochte Vampire nicht besonders, sie hatte ein paar Filme gesehen, aber das war alles Unsinn gewesen. Menschliche Vampire ... Was sich Schriftsteller doch so alles einfallen lassen! Lily mochte packende Geschichten. Aber mittlerweile las sie fast nur noch das, was sie selbst aufgeschrieben hatte – echte Geschichten oder zumindest solche, die real sein konnten.

Die Ironie war, dass ihr eine ganz wichtige Geschichte fehlte: ihre eigene. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern. Nur noch an die Hitze des Feuers und an die Angst, als ihre Mutter verschwand. Das Haus war so gut wie ganz abgebrannt, die Bewohner der umliegenden Häuser hatten Glück, dass das Feuer nicht auf ihre Wohnungen übersprang. Und Lily? Wahrscheinlich hatte sie durch ein Fenster aus dem Haus fliehen können, denn sie war mit Schnittwunden übersät gewesen. Ihre Eltern waren tot, das nahm man zumindest an, denn es wurden nur die Überreste ihres Vaters gefunden. Aber wenn sich ihre Mutter aus dem Feuer hätte retten können, wäre sie bestimmt nicht völlig verschwunden, sie wäre nicht mal in der Lage gewesen zu verschwinden. Lily konnte sich an nichts erinnern, die Ärzte sprachen von partieller Amnesie. Das Einzige, das in ihr Bewusstsein drang, waren diese schrecklichen Albträume. Es waren immer die gleichen: ein brennendes Haus, loderndes Feuer, der Tod ihres Vaters, ihre verzweifelte Mutter und nicht zuletzt das Gefühl eingesperrt, gefangen zu sein. Ganz selten tauchten die grünen Augen auf, dieselben grünen Augen, in die sie sich verliebt hatte.

Von diesem Tag an häuften sich ihre Albträume wieder, aber nicht so, wie Lily es gewohnt war, sondern eine neue Variante davon: Immer kamen seltsame bleiche Gestalten vor, doch nie sah sie ihre Gesichter. Das Blut schien ein essenzieller Bestandteil dieser neuen Träume zu sein; manchmal verlor ihre Mutter Blut, manchmal tranken die bleichen Gestalten Blut, und ganz selten trank sogar sie Blut. Sie wusste nicht, was der Auslöser für diese seltsamen Träume war, doch Lily befasste sich nun doch ein wenig intensiver mit Vampiren. Sie hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass damals etwas Seltsames vorgefallen war. Doch Vampire? Obwohl sich Lily bei diesen Recherchen ziemlich blöd vorkam, informierte sie sich: Wie kann ein Vampir existieren? Das ist doch lächerlich, dachte sie. Sie war drauf und dran, das Ganze wieder aufzugeben, als ein Wort ihre Aufmerksamkeit erregte: Lilith. Lilith? Sie hatte diesen Namen sonst noch nie irgendwo gehört oder gelesen, die wenigsten wussten, dass Lily selbst so hieß. Sie hasste diesen Namen und stellte sich deshalb immer nur mit Lily vor. Doch jetzt ... Sie merkte, wie das Adrenalin in ihren Adern zu rauschen anfing, wie die Aufregung sie packte. Konnte es etwas mit jener Lilith zu tun haben? Aufmerksam las sie die Geschichte durch.

Lilith …

die erste Frau Adams im jüdischen Glauben. Sie wurde im Gegensatz zu Eva nicht aus einer Rippe Adams geschaffen, sondern aus der gleichen Erde wie Adam selbst. Lilith aber ließ sich nicht von Adam fremdbestimmen und lehnte es ab, sich unter Adam zu stellen (manche vermuten, dass es sich hierbei implizit um den Geschlechtsverkehr handelt, d.h. dass Lilith die Missionarsstellung ablehnte). Lilith floh aus dem Garten Eden, worauf die drei Engel Senoi, Sansenoi, und Sammangelof nach ihr gesandt wurden, sie zu bitten, wieder ins Paradies zurückzukehren. Lilith lehnte ab und verdammte sich dazu, die Erde zu umwandern und die neugeborenen Kinder Adams zu verzehren.

Eine Gestalt wie Lilith tritt schon in den assyrischen und babylonischen Religionen auf, wonach sie als Göttin des Geschlechtsverkehrs, der Liebe und des Krieges dargestellt wird. Als blutrünstiger Sukkubus, der den Männern den Lebenssaft raubt (ob es sich hierbei um Sperma oder Blut handelt, sei offen gelassen).

Als Lily den Artikel zu Ende gelesen hatte, schüttelte sie einfach nur den Kopf. Das ist doch Unsinn, dachte sie, wie kann diese Lilith real sein oder im Entferntesten etwas mit meiner persönlichen Geschichte zu tun haben? Lily klappte den Laptop zu und schaute zum Fenster hinaus. Es war schon Nacht geworden. Gerne wäre sie noch in den Park gegangen, aber jetzt lohnte es sich nicht mehr. Sie wählte eine ihrer Geschichten aus, machte es sich auf ihrem Sofa gemütlich und begann zu lesen. Bald aber merkte sie, dass sie sich gar nicht konzentrieren konnte und ihre Gedanken immer wieder zu Lilith schweiften. Sie seufzte und zog ihre Jacke und Schuhe an, sie musste noch raus. Sie hielt es nicht aus, in ihrem Haus mit ihren Gedanken eingesperrt zu sein.

In Gedanken versunken, erreichte sie den Park. Alles war dunkel, nur wenige Leute waren noch dort: Ein paar späte Jogger und Spaziergänger und die üblichen Bettler und Drogensüchtigen tummelten sich noch im Park. Lily hatte keine Angst vor ihnen; sie waren nicht gefährlich. Sie ging quer über den Rasen direkt zu ihrer Lieblingsbank unter den Trauerweiden. Die Stadt war ruhig und im Park hörte man die Autos und Straßenbahnen kaum noch; er war wie ein stiller Kokon inmitten der Stadt. Lily setzte sich seufzend hin, ihre Gedanken waren wirr und sie konnte sich nicht richtig auf etwas Bestimmtes konzentrieren. Immer war sie eine ruhige Person gewesen, doch plötzlich hatte sie das Gefühl, diese innere Ruhe zu verlieren. Wer war sie wirklich? Was hatte sich in ihrer Vergangenheit abgespielt? Plötzlich packte sie wieder diese Unruhe und eine unbegreifliche Angst überfiel sie. Sie schaute sich um. Wurde sie beobachtet? Doch der Park war leise, es waren kaum noch Leute zu sehen. Aus dem Nichts sah sie wieder diese grünen Augen vor sich, diejenigen aus ihrem Traum, dieselben, wie sie Armand hatte. In der Ferne erblickte sie eine dunkle Gestalt auf dem Kieselweg, die sich ihr näherte. Unerklärlich begann ihr Herz heftig zu schlagen. Sie spürte das Adrenalin in ihrem Körper, während die Dunkelheit sie umschloss. Obwohl sie die Gestalt immer noch nicht genau sehen konnte, kam Lily doch etwas an ihr bekannt vor. Der ruhige Gang, beinahe schwebend, und dann die Haare! Gelockte Haare, die bis zu den Schultern reichten. Armand!, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Natürlich, es war Armand! Erleichterung überkam sie, aber nicht wirklich. Sie hatte immer noch das Gefühl von Gefahr, aber ihr Herz schlug deswegen nicht mehr wie wild. Lily dachte, er würde ihr einfach nur zulächeln und weitergehen. Ihr Herz würde sich dann beruhigen können, sobald er außer Sichtweite war. Doch Armands Schritte wurden langsamer und er blieb vor ihr stehen, aber kein Lächeln. Er schaute ihr tief in die Augen, zumindest dachte sie das, da sein Gesicht im Schatten lag und nur seine Blässe hervorleuchtete. „Hallo Lily“, sagte er mit einer tiefen, samtenen Stimme, „wieder ganz alleine im Park?“ Lily wollte zwar antworten, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie nickte. „Du solltest nicht so spät alleine in den Park gehen, es ist gefährlich für junge Frauen.“ Immer noch kein Lächeln, es war sein voller Ernst. Obwohl Lily spürte, dass er recht hatte, kam Wut in ihr auf. „Ich war schon oft alleine hier, auch zu späterer Stunde als jetzt … Hier ist niemand Gefährliches. Was sollte schon passieren?“ Plötzlich ein Lächeln: „Ich weiß. Komm! Ich begleite dich nach Hause.“ Eigentlich war sie noch wütend, sie hatte das Gefühl, gerade wie ein kleines Mädchen behandelt worden zu sein, aber ihr Körper gehorchte, scheinbar ohne Rücksprache mit ihrem Gehirn. Sie stand auf und schaute zu ihm hoch. Er hatte sich umgedreht, und nun konnte sie seine Augen sehen. Sie waren von einem unglaublichen Grün, wie Smaragde schienen sie aus seinem Gesicht. Lily wollte nie wieder ihren Blick von diesen Augen abwenden. Sie wusste nicht mehr, wie ihr geschah. Als sei sie hypnotisiert, versank sie im Grün. Armand räusperte sich, ein Lächeln spielte um seine Lippen. Lily fing sich wieder, errötete und marschierte los. Den ganzen Weg, bis zu ihr nach Hause, war sie sich Armands Präsenz sehr bewusst. Sie konnte es kaum glauben, dass er hier neben ihr stand. Leider wohnte sie viel zu nah, und obwohl sie gemütlich gingen, kamen sie nach zehn Minuten schon bei ihr zu Hause an. Sie drehte sich zu Armand, um sich zu verabschieden, und erschrak beinahe. Er schaute sie mit einem intensiven Blick an, der durch ihr ganzes Wesen drang. Sie erzitterte, aber diesmal nicht vor Angst. Er lächelte und bückte sich zu ihr herunter. Alles geschah so schnell, dass Lily es nicht fassen konnte. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie sicher war, er könnte es hören. Und dann berührten seine Lippen auch schon die ihren. Es war ein zärtlicher Kuss, der bestimmt nicht lange gedauert hatte, aber für Lily war es eine Ewigkeit gewesen. Sie spürte seine seidenen Haare in ihrem Gesicht und eine kalte Hand in ihrem Nacken. Schon beendete er den Kuss, und es schien Lily, als ob dieser Moment nicht lange genug hätte dauern können. Er beobachtete sie wieder mit seinen unglaublich grünen Augen, strich ihr einmal durch die Haare und hauchte: „Gute Nacht.“ Lily stand wie benommen vor ihrer Tür. Armand war plötzlich verschwunden.

Irgendwie hatte sie es die Treppe hinauf geschafft und war in ihrem Bett. Doch wie konnte sie nach einem derartigen Erlebnis bloß einschlafen? Bald war sie aber doch eingeschlummert. Auch diese Nacht träumte sie wieder von grünen Augen, nur von grünen Augen.

Die letzte Nacht der Lilie

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