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Die Liebe einer Mutter

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Lily verbrachte den ganzen Nachmittag in ihrem Lieblingscafé am Andreasplatz, trank aufgeregt einen Tee nach dem anderen und erinnerte sich an ein Buch, das sie in ihrer Tasche bei sich trug. Gedankenverloren zog sie das Buch jetzt heraus, schlug den schwarzen Einband zur Seite und blätterte eine Weile darin herum. Als sie fand, wonach sie gesucht hatte, las sie die Stelle mehrmals, ohne dass ihr der Sinn klar wurde. Dann blickte sie auf, doch weit und breit fand sie kein Zeichen ihrer Mutter oder sonstiger Vampire. Es war schon nach vier Uhr und die Sonne würde bald untergehen. Lily beschloss, noch eine halbe Stunde zu warten, bis sie ihre Sachen zusammenpacken und den Nachhauseweg antreten würde. Zu ihrer Enttäuschung verging die halbe Stunde wie im Flug ohne dass sich ihre Hoffnung erfüllte.

Traurig bezahlte sie die Getränke und trat auf die Straße hinaus, als eine plötzliche Stille aufkam und die junge Frau gefangen nahm. Alarmglocken läuteten in ihr und sie schaute sich vorsichtig um.

Da, inmitten der arbeitsgestressten Menschen um sie herum, sah sie nun tatsächlich die Gestalt ihrer Mutter, die Lily mit ernstem Blick entgegenkam.

Ihre Wege würden sich unumgänglich kreuzen. Elizabeth wich aus, doch Lily stellte sich wieder in den Weg der Mutter. Irritiert fokussierte nun Elizabeth ihren Blick auf das unerwünschte Hindernis.

Lily wusste nicht, wie ihr geschah: In einem Augenblick war das erschrockene Gesicht ihrer Mutter vor ihr und im nächsten befand sie sich, ohne sich bewegt zu haben, im nahe gelegenen Totengässlein.

Die Stimme der Mutter war nun so leise und sachte, dass Lily sie kaum verstehen konnte: „Li… Lily, bist du das wirklich?“ Lily wollte antworten, doch sie konnte nur ein schwaches Krächzen hervorbringen. Sie nickte deshalb.

„Wie ist das möglich?“, stotterte die Mutter. „Er hatte mir doch gesagt, dass du gestorben seiest …“ Ein langes Schweigen folgte. Wer ist er?, wunderte sich Lily. Einer der anderen zwei Assassinen? „Du musst hier weg“, unterbrach Elizabeth Lilys Überlegungen. Schockiert von dieser Aussage fand Lily ihre Stimme wieder: „Warum? Wir haben uns doch gerade erst wiedergefunden! Ich dachte, du … ich dachte, wir könnten …“ Doch sie war zu verletzt, um weitersprechen zu können. Sie hatte immer angenommen, ihre Mutter würde sie lieben, die Trennung war ja schließlich nicht freiwillig gewesen.

„Lily“, sprach jener Mensch, der Lily einst so nahe gestanden hatte, ihren Namen sanft aus – voller Zuneigung. Lily sah auf und fand die Liebe in den dunkelbraunen Augen ihrer Mutter. „Du kannst nicht bleiben, weil sie dich sonst finden würden. Alle glauben, du seiest im Feuer gestorben.“ „Alle?“, fragte Lily. „Wer sind alle?“ „Das kann ich dir nicht sagen, er würde es spüren …“ Elizabeth wurde plötzlich blass. Das wenige Blut, das ihrem Gesicht Farbe verliehen hatte, war ganz gewichen. „Oh nein, daran hatte ich nicht gedacht“, flüsterte sie. „Du musst gehen. So schnell wie möglich. Weit weg von hier“, sagte Elizabeth mit Nachdruck. „Er kann Gedanken lesen, wenn er will …“ Lily war den Tränen nahe, jegliches Gefühl von Liebe war der Angst gewichen: „Aber …“, stammelte sie, „wir werden uns doch wiedersehen?“ Die Frage hing in der Luft, Elizabeth schien sie nicht gehört zu haben, stattdessen murmelte sie vor sich hin: „Er dachte, Lilith sei tot.“ Und plötzlich schaute Elizabeth Lily tief in die Augen: „Nun geh, mein Schatz, geh.“ „Aber wieso kann ich nicht hierbleiben? Armand kann mich doch beschützen.“ „Armand?“, erschrak Elizabeth. „Nein, du musst ihn zurücklassen. Sag ihm nicht, wo du hingehst. Er ist eine Gefahr, er ist mit Lyès verwandt …“ Ihre Worte überstürzten sich beinahe, Lily musste sich sehr konzentrieren, um ihr noch folgen zu können. „Lyès? Wer ist Lyès?“, hakte sie nach, doch das Gesicht ihrer Mutter glich nun einer starren Maske: „Geh nun, und denk daran, in der Anonymität einer Großstadt findest du Sicherheit.“ Elizabeths Blick wurde wieder sanfter, und sie schloss ihre Tochter behutsam in die Arme: „Ich werde dich immer lieben“, flüsterte sie, doch sogleich stand Lily wieder alleine da. Und zum ersten Mal nach Jahren fühlte sie sich auch so. Sie hätte noch viele Fragen gehabt, doch blieben sie alle unbeantwortet.

Als sie sich wieder auf den Nachhauseweg machte, war sie sich wenigstens über eines im Klaren: Sie würde Armand mit Fragen überschütten und nicht eher ruhen, bis er sie alle beantwortet hatte.

Die letzte Nacht der Lilie

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